Draghi verschärft Kurs gegen die Pandemie
Eins muss man Mario Draghi lassen: er ist (zumindest äußerlich, aber bekanntlich sind stille Wasser tief) nicht aus der Ruhe zu bringen. Nicht damals, als der Euro bedroht war, und auch nicht heute, wenn er mit einer anomalen Regierungskoalition Wege aus der Pandemie finden muss. Auch wenn die Lage dramatisch scheint, verkündet der ehemalige EZB-Chef immer nüchtern und mit unbewegter Miene, was er nun zu tun gedenkt.
So war es auch vergangene Woche, als er in einer Pressekonferenz den Plan bekanntgab, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie drastisch zu verschärfen. Sekundiert von seinen Ministern Roberto Speranza (Gesundheit), Enrico Giovannini (Verkehr und Infrastruktur), Mariastella Gelmini (Regionale Angelegenheiten) und Patrizio Bianchi (Schule und Bildung) kündigte er an, dass der sogenannte Green Pass, mit dem die stattgefundene Impfung, die Genesung nach einer Covid-Erkrankung oder ein aktueller negativer Test zertifiziert werden, erheblich ausgeweitet werden soll. Schon jetzt ist der Besitz eines solchen Dokuments für alle Beschäftigten im Gesundheitsbereich und demnächst auch (mit Beginn des neuen Schuljahres) für alle Lehrkräfte verpflichtend. Wer ihn nicht vorlegen kann, wird für andere Tätigkeiten eingesetzt oder ganz vom Dienst suspendiert. Darüber hinaus ist der Green Pass die Voraussetzung für den Besuch der meisten Freizeit- und Kultureinrichtungen und Veranstaltungen.
Nun soll der „Super Green-Pass“ stufenweise auf weitere Bereiche ausgeweitet werden. In diesem Monat betrifft es die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung, in der Gastronomie und im Transportbereich, ab Oktober auch die Arbeitnehmer in privaten Betrieben. Derzeit finden Gespräche zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern statt, um zu konsensfähigen Regelungen zu kommen, vor allem in der Privatwirtschaft.
Option Impfpflicht
Sollte sich erweisen, dass diese Maßnahmen und die gleichzeitige Intensivierung der Impfkampagne nicht ausreichen, um im Herbst die Gefahr einer weiteren Infektionswelle zu bannen, kündigte Draghi die Einführung der generellen Impfpflicht an.
Das wäre ein einschneidender Eingriff, vor dem die meisten anderen EU-Länder – u. a. Deutschland – zurückschrecken. Sowohl wegen möglicher Proteste von Impfgegnern und wachsender Spannungen in der Bevölkerung, als auch wegen gerichtlicher Interventionen, die solche Beschlüsse aus juristischen bzw. verfassungsrechtlichen Gründen kippen könnten. In Europa gilt bisher in keinem einzigen Land die Impfpflicht, und auch weltweit gibt es derzeit nur drei Länder, die sie praktizieren: Indonesien, Turkmenistan und die Föderierten Staaten von Mikronesien.
Sollte Italien diesen Weg beschreiten, würde es damit zumindest in der EU zum Vorreiter werden und damit auch den Druck auf andere europäische Länder erhöhen. Deutschland wird so kurz vor der Bundestagswahlen und einer wahrscheinlich schwierigen Regierungsbildung kaum von seiner bisher vergleichsweise „milden“ Strategie gegen die Pandemie abweichen. Auch wenn es damit in Kauf nimmt, den Anteil der Geimpften nicht in dem Ausmaß zu erhöhen, das erforderlich wäre, um der besonders aggressiven Delta-Variante und einen neuen Herbstwelle entgegenzutreten.
Meloni und Salvini dagegen, Lega gespalten
Wie zu erwarten, regt sich auch in Italien Widerstand. Neben den No Vax-Gruppen sind es vor allem die Rechtsextremen, die den „Super-Green Pass“ und die Impfpflicht verweigern und sich damit zu angeblichen Paladinen für Freiheit und Verfassungsrechte aufspielen (die sie sonst mit Füßen treten). Ganz vorne dabei ist Giorgia Meloni, deren „Fratelli d’ Italia“ als einzige Oppositionspartei in den Umfragen inzwischen zur stärksten politischen Kraft Italiens geworden ist (20,8%), womit sie Salvinis Lega auf den zweiten Platz (19.6%) zurückdrängte (dicht dahinter liegt die PD mit 19,3%).
Auch Salvini, dessen Partei Teil der Draghi-Koalition ist und unter Melonis Druck steht, sucht Konsens unter den Impfgegnern und kritisiert den Kurs des Regierungschefs als „unnötige Freiheitseinschränkung“. In den Parlamentsausschüssen stimmten einige Lega-Abgeordnete für die Änderungsanträge von Melonis Oppositionspartei, was PD-Generalsekretär Letta – zu recht – als faktischen Koalitionsbruch anprangerte.
Gleichzeitig wächst innerhalb der Lega aber auch der Unmut gegen die populistischen Streifzüge und ständigen Querschüsse ihres Leaders gegen die Regierung. Die Gouverneure der Regionen Venetien, Lombardei und Friaul, Zaia, Fontana und Fedriga, stellen sich inzwischen offen auf die Seite des Ministerpräsidenten und befürworten unmissverständlich dessen harten Kurs. Nicht zuletzt, weil sie genau wissen, dass dies auch die Position der großen Mehrheit der „produktiven Kräfte“ in ihren eigenen Regionen ist: Unternehmer, Kulturschaffende, Gastronomen, Handwerker, die nichts mehr fürchten als einen erneuten Lockdown infolge steigender Infektionszahlen.
Sogar Salvinis einflussreicher „Stratege“ Giancarlo Giorgetti, der von Draghi geschätzte Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, verliert zunehmend die Geduld gegenüber seinem Chef. Er soll sogar seinen Rücktritt angedroht haben, wenn Salvini seinen „internen Oppositionskurs“ nicht beendet.
Mehrheit der Italiener für Impfpflicht und „Super Green Pass“
Der Lega-Leader befindet sich also – auch in der eigenen Partei – in der Defensive und versucht, mit einem Schlingerkurs zwischen Zustimmung und Kritik gegenüber der Regierung die verschiedenen „Seelen“ innerhalb der Lega und deren Wählerschaft zu gewinnen.
Ein schwieriges Unterfangen. Zumal nach einer aktuellen Umfrage des Instituts für Meinungsforschung „Demos“ eine deutliche Mehrheit der Italiener – Lega-Anhänger eingeschlossen – sowohl den erweiterten Green Pass (78%) als auch die Einführung einer Impfpflicht (64%) befürwortet. In der Beliebtheitsskala der einzelnen Politiker ist Salvini auf Platz 8 abgerutscht, mit deutlichem Abstand zu Meloni (Platz 5) und dem Vorsitzenden der 5-Sternebewegung Conte (Platz 2 nach Draghi).
Diesem Trend entspricht auch die schwache Resonanz, auf welche die Protestkundgebungen gegen die bereits beschlossenen und neu geplanten Maßnahmen der Regierung stoßen. Anders als früher erwiesen sie sich als Flop. Den Aufrufen, in den Bahnhöfen aller Großstädten unter dem Motto „Basta dittatura!“die Gleise zu besetzen und Züge zu blockieren, folgten nur vereinzelte Bürger und ein paar Neofaschisten. „Wo bleiben denn die anderen? Habe ich mich etwa im Tag geirrt?“ fragte eine ratlose Demonstrantin in der römischen Stazione Termini. Massiv präsent waren hingegen die Polizeikräfte, denn obwohl die Teilnehmerzahl bei Kundgebungen stark zurückgeht, wächst die Gewaltbereitschaft der No Vax-Aktivisten massiv. Nicht nur mit verbalen Morddrohungen gegen Politiker, Ärzte, Wissenschaftler und Medienvertreter, sondern auch mit dem Horten von Waffen und der Planung von Attentaten in der Nähe von institutionellen Gebäuden.
Mattarella stärkt Draghi den Rücken
Wogegen sich Staatspräsident Mattarella bereits mit scharfen Worten gewendet hat. Er nahm die Eröffnung des akademischen Jahres der Universität Pavia zum Anlass, um in seiner Rede Draghi mit seiner offensiven Strategie gegen das Virus den Rücken zu stärken: Die Impfung sei „eine bürgerliche und moralische Pflicht“, der sich niemand entziehen dürfe. „Niemand soll sich auf die Freiheit berufen, um sich der Impfung zu entziehen, denn dies kommt der Forderung nach einer Lizenz gleich, die Gesundheit und manchmal das Leben anderer Menschen zu gefährden,“ erklärte er.
Genauso scharf wandte sich der Staatspräsident gegen alle Wissenschaftsleugner und Verschwörungstheoretiker. Und lobte die hohe Bereitschaft der Italiener, sich an die Covid-Regeln zu halten und impfen zu lassen, die höher ist als in Deutschland: In Italien sind 71,6% der Bevölkerung ab 12 Jahren vollständig geimpft, in Deutschland sind es bisher 65,9%. Besonders hoch ist die Impfbereitschaft bei Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren.
Mattarellas Worte sind eine unmissverständliche Absage nicht nur an die No Vax, sondern auch an Politiker wie Salvini und Meloni (deren Namen er natürlich nicht nannte), die den Impfgegnern nach dem Mund reden, um noch ein paar Prozentpunkte mehr Konsens zu erhaschen.
Die Entwicklung der Infektionszahlen in Italien gibt dem harten Kurs der Regierung recht: die Zahl der Neuinfektionen und die Inzidenz- und Hospitalisierungswerte sind hier deutlich niedriger als in Deutschland, wo die vierte Welle bereits in vollem Gang ist, ohne dass die Bundesregierung eine nennenswerte Kurskorrektur eingeleitet hat. Nicht zuletzt wohl aus wahltaktischen Gründen.
Ausnahmsweise gebührt hier dem Bel Paese, das sonst meistens nicht gerade als Vorbild gilt, ein ausdrückliches Lob.