Der doppelte Draghi

Man müsste ihn klonen können, und alle Probleme wären gelöst. Denn wer könnte Anfang nächsten Jahres einmütig von ganz links bis ganz rechts zum neuen Staatspräsidenten gewählt werden? Nach dem Bekunden fast aller Parteien Mario Draghi, niemand sonst. Von den Wahlfrauen und –männern, die sich Anfang Januar versammeln werden, um bis Februar Mattarellas Nachfolger oder Nachfolgerin zu küren, wäre „er in 5 Minuten gewählt“, sagen Auguren. Und wer hätte die Chance, ein Jahr später die dann anstehenden Parlamentswahlen zu gewinnen? Eben derselbe Mario Draghi, den dazu nur ein Parteienbündnis auf den Schild des Kandidaten für seine Wiederwahl heben müsste. Die ultimative Lösung wäre also beides, sowohl das eine als auch das andere. Und alles würde gut: Europa würde Italien zu Füßen liegen und jedes Jahr weitere Milliarden überweisen, mit der Bitte um freundliche Verwendung. Die italienische Wirtschaft würde wachsen. Im Lande würde ein Frieden ausbrechen, bei dem sich Salvini, Meloni und Renzi nur noch wütend in den eigenen Hintern beißen könnten. Und im Land würden höchstens noch ein paar No-Vax-Leute rumkrakeelen.

Aber leider schließt die italienische Verfassung ein solches Doppelmandat aus – und hat es die Wissenschaft zwar geschafft, das Schaf Dolly zu klonen, aber noch keinen Draghi. Das hat Folgen. Denn wie der doppelte Draghi dem Land vielleicht den großen politischen Frieden bringen könnte, stimuliert der eine Draghi bei vielen politischen Köchen die Lust, sich wieder ihr jeweils eigenes Süppchen zu kochen.

Vorschlag der Rechten: Draghi wird Staatspräsident

Das Quirinal

So erklären jetzt alle, dass ihm angesichts seiner Verdienste natürlich das höchste Amt – das des Staatspräsidenten – zustehe, wenn er es denn haben will. Aber zur Frage, ob er es wirklich wollen soll, gibt es zwei Lager: Das eine rät ihm dringlich zu – immerhin handle es sich um das höchste Amt im Staat –, während das andere, wenn auch mit allem Respekt, ebenso dringlich abrät. Zum ersteren gehören die beiden großen Rechtsparteien, Salvinis Lega und Melonis Fratelli d’Italia (FdI), mit durchsichtigem Motiv: Der Europäismus, den Draghi verkörpert, ist ihnen zutiefst zuwider. Die Frage ist aus ihrer Sicht nur, in welcher Rolle er damit weniger Schaden anrichten könnte. Als Staatspräsident wäre er so weit wie möglich aus der aktiven Politik weggelobt, auch wenn er für sie in dieser Rolle immer noch ein Störfaktor bliebe, wenn auch mit weniger Wirkungsmöglichkeiten.

Vor allem Giorgia Meloni hat dafür ein zweites noch stärkeres Motiv: Würde Draghi im kommenden Februar neuer Staatspräsident, so ihr Kalkül, wäre er als Premier aus dem Spiel, und dann wären sofortige Neuwahlen unausweichlich. Aus denen aufgrund des geltenden Wahlgesetzes die vereinigte Rechte als Sieger und nach den Umfragen ihre eigene Partei als stärkste Kraft hervorgehen könnte, die sogar Salvinis Lega überholt. Melonis Angebot klingt großzügig: Die Fratelli d’Italia stimmen für Draghi als Staatspräsidenten, der damit zum Vater aller Italiener von ganz links bis ganz rechts würde. Unter einer Bedingung, die aber nur im Kleingedruckten erscheint: dass dann im Frühjahr auch Neuwahlen stattfinden müssten.

Vorschlag von Mittelinks: Draghi bleibt Ministerpräsident

Aus den gleichen Gründen, aus denen heraus die rechten Parteien Draghi in das Amt des Staatspräsidenten hieven wollen, raten ihm die wichtigsten Mittelinks-Parteien davon ab. Denn nur ein Draghi, der auch Ministerpräsident bleibt, hätte ein weiteres Jahr Zeit, um in Brüssel als Garant eines Italiens aufzutreten, das für Europa ein zuverlässiger Partner bleibt, aber auch die nötige Autorität hat, um für die EU Reformen zu verlangen. Und der in Rom weiterhin die Herkulesarbeit auf sich nimmt, die im Recovery-Programm steckenden Chancen durch entsprechende innere Reformen zu unterstützen.

Also Schlussfolgerung: Draghi muss Ministerpräsident bleiben, zumindest bis zum Ende der im Frühjahr 2023 endenden Legislaturperiode. Aber leider gibt es da ein Problem. Denn wenn Draghi in drei Monaten nicht für Mattarellas Nachfolge kandidiert, muss jemand anderes in dieses Amt gewählt werden. Theoretisch wäre zwar die Wiederwahl Mattarellas möglich, die Verfassung verbietet es nicht, aber der jetzt 80-Jährige hat bereits verkündet und soeben bekräftigt, dass er dafür nicht mehr zur Verfügung steht. Das Altersargument wäre vielleicht zu knacken, wenn man dafür nur an das Pflichtbewusstsein des alten Herrn zu appellieren hätte. Aber er hat auch Grundsätze, und zu ihnen gehört die Meinung, dass eine 7-jährige Amtszeit für einen Staatspräsidenten genug ist.

Das Tandem Mattarella-Draghi

Das aber würde bedeuten, dass dann Draghi mindestens ein Jahr lang Regierungschef ohne Mattarellas Rückendeckung bliebe. Die für ihn bisher essentiell war, denn immerhin war es Mattarella, der es sich in der Regierungskrise vor einem knappen Jahr leisten konnte, plötzlich die Karte Draghi aus der Tasche zu ziehen, die dann – mit Mattarella im Rücken – zum Kreuzbuben wurde. An jeder politischen Weggabelung, an der es Widerstand gab und Salvini an den Ketten der Koalitionsdisziplin zerrte (etwa beim green pass), konnte Draghi auch deshalb Kurs halten, weil ihm Mattarella zur Seite sprang.

Ohne das Tandem mit Mattarella würde Draghi also verwundbarer. Denn erstens ist bisher unklar, wer Mattarellas Nachfolge antritt und ob und in welchem Ausmaß sich Draghi auch weiterhin auf ihn (oder sie) stützen kann. Und zweitens könnte sich nach dieser Wahl schnell zeigen, dass das breite Bündnis, welches bisher die Regierung Draghi trug, in Wahrheit ein Kartenhaus war.

Der Querschuss Berlusconis  

Es gehört zu den Bizarrerien der italienischen Rechten, dass sie in wichtigen Fragen gleichzeitig Positionen einnehmen kann, die miteinander unvereinbar sind. Sie kann Mario Draghi ermuntern, im nächsten Frühjahr für den Staatspräsidenten zu kandidieren, und einen Moment später dem 85-jährigen Silvio Berlusconi das gleiche Amt versprechen. Eigentlich hätte schon die Nennung dieses Namens einen öffentlichen Proteststurm hervorrufen müssen, denn er ist nicht nur wegen Steuerhinterziehung vorbestraft, sondern befindet sich zudem durch seinen Nebenjob als Medienzar auch in einem permanenten Interessenkonflikt. Noch weniger entsprechen die Motive seiner Kandidatur dem Profil, das ihm Art. 87 der Verfassung abverlangt, nämlich „Repräsentant der Einheit der Nation“ zu sein: Er selbst sieht in dem Amt eine Art Wiedergutmachung für ein ihm lebenslang angetanes Unrecht (nämlich das Opfer einer Justiz zu sein, die natürlich „links“ war). Für seine rechten Partner Salvini und Meloni wäre es die Abfindung dafür, dass sie nun endlich sein politisches Erbe unter sich aufteilen können. Aber da der Proteststurm ausblieb, haben sich die Auguren schon der Frage nach seinen Chancen zugewandt. Die auf dem Papier gar nicht so schlecht sind, weil er schon jetzt auf die knappe Hälfte der Stimmen der 1008 Wahlmänner und -frauen zählen könnte, die Anfang Januar zu tagen beginnen. Aufgrund der Regularien bräuchte er zwar bei den ersten drei Abstimmungen eine Zweidrittel-Mehrheit. Aber ab der vierten Abstimmung genügt die einfache absolute Mehrheit – dann schlägt die Stunde der Roulettespieler. Zu ihnen gehört die Italia-Viva-Truppe, deren Chef Renzi, der sich für einen genialen „Machiavellisten“ hält, schon lange um Berlusconis Wohlwollen buhlt, um mit ihm ein neues politisches „Zentrum“ zu bilden. Da die Abstimmungen geheim und die Mehrheitsverhältnisse knapp sein werden, macht allein schon die Präsenz der Renzi-Truppe jede Prognose unsicher.

Scheinausweg „Semipräsidentialismus“

Allerdings möchte bisher kaum jemand daran glauben, dass die Rechte diese Kandidatur ernst meint – in der Bevölkerung ist Berlusconis Ansehen auf fast Null gesunken. Ihr rationaler Kern könnte in der Absicht bestehen, Druck auf Draghi auszuüben, damit er sich eben doch zur eigenen Kandidatur entscheidet (z. B. um den Ansehensverlust Italiens zu vermeiden, der mit Berlusconis Wahl verbunden wäre). Womit er dann doch als Premier aus dem Weg geräumt wäre.

Es gibt einen Vorschlag, dieses Problem zu umgehen: Draghi lässt sich zum neuen Staatspräsidenten wählen, setzt aber als seinen Nachfolger im Amt des Regierungschefs einen Strohmann ein, der seine Politik ein Jahr lang bis zum Ende der Legislatur fortführt – zum Beispiel den bisherigen Finanzminister Franco, den Draghi als „Techniker“ in sein Kabinett berief und der als sein Vertrauter gilt. Die Vertreter dieser Idee, die dem gemäßigten Lager der Rechten zuzurechnen sind – z. B. der zweite Mann der Lega, Giorgetti, und der FI-Mann Brunetta – , erkennen zwar an, dass dies die von der Verfassung gewollte Rollentrennung zwischen Regierungschef und Staatspräsident aufheben würde, aber argumentieren, dass nun einmal eine besondere Situation besondere Maßnahmen erfordere. Für mehr Präsidentialismus war die Rechte schon immer, und dies würde dann eben ein „semipresidenzialismo di fatto“, ein halber de facto-Präsidentialismus sein. Dass die Verfassungsrechtler dagegen Sturm laufen, versteht sich von selbst. Aber es ist auch die Frage, ob die beiden Kammern ein solches Manöver mitmachen würden. Denn dies würde ein Bündnis voraussetzen, das aus dem Experiment Draghi tatsächlich eine Erfolgsgeschichte machen will. Die PD würde dies wollen, aber schon die 5SB wäre dabei zögerlich, und die Rechte wartet schon länger auf einen geeigneten Moment, um das Gegenteil zu beweisen.

Also wird Draghi wohl doch noch ein weiteres Jahr Regierungschef bleiben. Und einen Kandidaten für die Nachfolge Mattarellas ins Spiel bringen müssen, der nicht so leicht zu „verbrennen“ ist. Warum nicht Marta Cartabia, die frühere Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts und jetzige Justizministerin im Kabinett Draghi, die als konservativ gilt, aber als überzeugte Europäerin sicherlich eine gute „Garantin“ wäre? In der Geschichte Italiens wäre sie die erste Frau in diesem Amt.

NACHTRAG VOM 16. OKTOBER: Soeben meldet die „Repubblica“, dass Gianfranco Micciché, der Regionalpräsident Siziliens, ausgeplaudert habe, dass Renzi ihm versprach, seine Italia Viva-Gruppe werde Berlusconi mitwählen, wenn ihm nur diese Stimmen zu seiner Wahl zum Staatspräsidenten fehlen.