„Bürgereinkommen“ in Italien, „Bürgergeld“ in Deutschland
Die beinah identischen Bezeichnungen erwecken Assoziationen zum „bedingungslosen existenzsichernden Grundeinkommen“, meinen aber – in Italien wie in Deutschland – etwas Anderes: in beiden Ländern geht es dabei um sozialpolitische Instrumente zur Unterstützung einkommensschwacher Langzeitarbeitsloser, mit dem Ziel, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Weder das Bürgereinkommen („Reddito di Cittadinanza“/RdC) noch das Bürgergeld stellen Neuerungen dar. Sie entwickeln weiter, was Vorgängerregierungen eingeführt hatten: in Italien war es zunächst die „social card“ der Berlusconi-Regierung, gefolgt vom SIA (Sostegno Inclusione Attiva) zur Zeit von Letta und Renzi und dann von Gentilonis REI (Reddito di inclusione); in Deutschland war es Schröders umstrittenes „Hartz IV“. Aktuell steht in beiden Ländern ihre Weiterentwicklung auf der Tagesordnung. In Deutschland, weil eine neue Regierung das Ruder übernimmt, und in Italien, weil im Parlament die Verabschiedung des Haushaltspakets für 2022 bevorsteht.
Vergleicht man die Änderungen, die an beiden Instrumenten vorgenommen werden sollen, stellt man erhebliche Unterschiede fest.
Die Draghi-Regierung zieht die Zügel straffer an
Das Bürgereinkommen – ein Steckenpferd der 5SB – wurde im Januar 2019 von der Koalition Lega und 5Sterne eingeführt. Gleich nach der Entscheidung rief der damalige 5SB-Leader Di Maio vom Balkon des Regierungssitzes enthusiastisch die „Abschaffung der Armut“ aus. Daraus wurde nichts, im Gegenteil: Die Zahl der Menschen unter der absoluten Armutsgrenze ist seitdem – bedingt auch durch den Ausbruch der Pandemie – um etwa eine weitere Million auf 5,6 Millionen gestiegen .
Die Rechte – vom damaligen Regierungspartner Salvini bis hin zu Forza Italia und Fratelli d’ Italia – möchte das Bürgereinkommen eigentlich ganz abschaffen, da sie darin einen Ausdruck von „assistenzialismo“ (Versorgungsmentalität) sieht. Doch das lässt sich in der gegenwärtigen Allparteienkoalition (mit Ausnahme von FdI) nicht durchsetzen, weil die 5SB auf kein Projekt verzichten kann, das sie als zentralen Teil ihrer politischen Identität betrachtet. Das würde zu einer Regierungskrise führen, die in der aktuellen Situation keiner will, auch die Rechte nicht. Also beschränkt sich diese darauf, eine Verschärfung der geltenden Regelungen zu fordern: engere Bezugskriterien, schärfere Sanktionen, massivere Kontrollen.
In diesem Fall stimmt ihre Position mit der Ministerpräsidenten überein, der ebenfalls bei der „Neuordnung“ der Materie auf strengere Regelungen setzt – ausgenommen bei der Finanzierung (insgesamt ca. 9 Milliarden), die nicht nur für 2022 garantiert, sondern auch um eine Milliarde aufgestockt werden soll, weil die Anzahl der Leistungsberechtigten gewachsen ist.
Hier die wichtigsten Neuerungen des Gesetzesentwurfs, der am Ende auch von der 5SB abgeknickt und am 28. Oktober vom Kabinett verabschiedet wurde:
– Wer das Bürgereinkommen beantragt, gilt damit als „unmittelbar verfügbar für die Arbeitsaufnahme“ (wobei „unmittelbar“ einen Monat nach Bewilligung meint);
– eine Ablehnung von „zumutbaren Arbeitsangeboten“ führt schon beim zweiten Mal (statt wie bisher beim dritten) zum Verlust der Leistung. Als „zumutbar“ gilt ein Angebot beim ersten Mal, wenn es höchstens 80 km entfernt liegt. Aber schon beim zweiten Angebot (nicht mehr beim dritten) ist jede Stelle auf italienischem Gebiet „zumutbar“ (von befristeten Arbeitsverhältnissen abgesehen);
– hat man sechs Monate nach Beginn des Leistungsbezugs noch keine Stelle, wird die Leistung (die für eine Person max. 780 Euro beträgt, wenn sie zur Miete wohnt, und 500 Euro, wenn sie eine Eigentumswohnung hat) bis zu einer Untergrenze von 300 monatlich um fünf Euro gekürzt, ausgenommen bei Familien mit Kindern unter drei Jahren oder mit Behinderungen;
– die Kontrollen werden intensiviert, um die Zahl der Missbrauchsfälle (wozu allerdings noch belastbare Daten fehlen) zu reduzieren.
Fachexperten kritisieren den Regierungsentwurf
Das „Wissenschaftliche Komitee zur Auswertung des Bürgereinkommens“ unter dem Vorsitz der renommierten Sozialwissenschaftlerin Chiara Saraceno sowie weitere Fachexperten haben den Entwurf kritisiert. Er stelle keine Verbesserung im Sinne von Armutsbekämpfung und sozialer Inklusion dar, sondern führe nur zusätzliche Restriktionen ein.
Das Komitee hat zur Korrektur zehn Vorschläge eingereicht. Beispielsweise soll bei Zugewanderten die Aufenthaltsdauer für die Gegebenheit eines Leistungsanspruchs von zehn auf fünf Jahre verkürzt und sollen die Kriterien für zumutbare Arbeitsangebote verbessert werden. Ferner plädieren die Experten für die Abschaffung der Bestimmung, wonach der Unterstützungsbeitrag innerhalb des jeweiligen Monats vollständig ausgegeben werden muss, andernfalls wird der Restbetrag im nächsten Monat abgezogen („kontraproduktiv und gegen jeden Grundsatz sparsamen Haushaltens“, so das Komitee). Weiterhin wird gefordert, geringe Nebenverdienste und Vermögensteile nicht auf das Bürgereinkommen anzurechnen, damit der Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung erhöht wird.
Grundsätzlich kritisieren die Sozialexperten, die „Neuordnung“ des Bürgereinkommens berücksichtige nicht, dass das zentrale Problem nicht die Ablehnung der Stellenangebote, sondern ihr Mangel ist. Notwendig seien daher vor allem gezielte Maßnahmen und Anreize zu einer aktiven Beschäftigungspolitik. Sie verweisen darauf, dass im Ländervergleich die italienischen Regelungen schon jetzt besonders streng seien, wie der OECD-Wirtschaftsexperte Daniele Pacifico darlegt.
Das Reformkonzept der deutschen Ampel-Koalition – Bürgergeld statt Hartz IV
Als aus den Koalitionsverhandlungen die ersten Informationen über die Änderungen im Hartz IV-Bereich durchsickerten, überwog bei mir zunächst die Skepsis. In den Medien stand der neue Begriff „Bürgergeld“ im Vordergrund und im Sondierungspapier war zwar viel von Würde, Teilhabe und Augenhöhe die Rede, aber wenig von konkreten Änderungen. Doch nur ein symbolischer Etikettenwechsel? Viel Lyrik und wenig Substanz?
Nach der Lektüre des abschließenden Koalitionsvertrags muss ich meine Meinung revidieren. Denn der Vertrag enthält durchaus Verbesserungen gegenüber den „Hartz IV“-Regelungen (auch wenn er den Anspruch nicht erfüllt, den der Name suggeriert).
Zwei wichtige Erneuerungen bestehen 1) darin, dass „in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung des Vermögens“ gewährt wird und 2) „die Zuverdienstmöglichkeiten mit dem Ziel verbessert werden, Anreize für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen“ (ähnlich wie von den italienischen Fachexperten gefordert), um zu verhindern, was zurzeit häufig vorkommt: Die Betroffenen verzichten auf geringfügige Beschäftigungen, die einen ersten Einstieg in den Arbeitsmarkt darstellen könnten, weil sich diese wegen der Anrechnung auf Hartz IV nicht lohnen.
Ferner will der Vertrag die Bedingungen für die bisherige Eingliederungsvereinbarung verändern: Künftig soll zunächst eine ausführliche Beratung „auf Augenhöhe“ stattfinden, die auch ein Kompetenzfeststellungsverfahren mit Zertifizierung sogenannter „soft skills“ einschließt. Danach sollen gemeinsam mit den Leistungsbeziehern Angebote und Maßnahmen im Rahmen einer „Teilhabevereinbarung“ festgehalten werden. Begleitendes Coaching wird zu einem Regelinstrument bei dem Prozess der Eingliederung in den Arbeitsmarkt.
Weiter wird der Grundsatz abgeschafft, dass die Vermittlung in Arbeit Vorrang vor einer beruflichen Aus- und Weiterbildung hat, welche die Beschäftigungschancen stärkt. Die Teilnahme an Weiterqualifizierungen soll durch Anreize (Prämien, Bonuszahlungen) gefördert werden. An Mitwirkungspflichten wird festgehalten, sie sollen aber bis Ende 2022 neu geordnet werden („Damit setzen wir auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes um, wie die Kosten der Unterkunft von Sanktionen auszunehmen und Unter-25-Jährige gleich zu behandeln“, so der Koalitionsvertrag). Zur Ausarbeitung der Bürgergeld-Reform wird eine Kommission aus mehreren unabhängigen Instituten beauftragt.
Fazit Bürgergeld: Ein Schritt in die richtige Richtung
Viel hängt natürlich davon ab, was von den Reformabsichten im Koalitionsvertrag umgesetzt wird. Sie zeigen aber zumindest in die richtige Richtung. Was man von der „sanktionslastigen“ Neuordnung des italienischen Bürgereinkommens (bisher) nicht sagen kann. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Arbeitsmarktsituation und die Infrastrukturen für die organisatorische Umsetzung in beiden Ländern nicht vergleichbar sind: Die Draghi-Regierung wäre gut beraten, sich die Vorschläge ihres Wissenschaftlichen Komitees zum Bürgereinkommen doch zu eigen zu machen. Und ein Blick in den Koalitionsvertrag der deutschen Ampel-Kollegen könnte zu dem Thema auch nicht schaden.
Nachbemerkung: In der Koalition knistert es zunehmend. Bisher hatte es der Regierungschef immer geschafft, seinen Kurs durchzusetzen, doch vor ein paar Tage musste er eine erste Niederlage einstecken: Sein „linker“ Vorschlag, bereits geplante Steuerkürzungen für Einkommen ab 75.000 Euro für ein Jahr einzufrieren, um Ressourcen für die Abfederung erhöhter Energiepreise bei den niedrigen Einkommen zu gewinnen, fiel durch: Die vereinigte Rechte kippte den Vorschlag – mit Hilfe von Renzis Italia Viva. Denn das sei ja, Gott bewahre, eine „Vermögenssteuer durch die Hintertür“.