„Es gibt für alles eine Grenze“

Am Silvesterabend hat sich Staatspräsident Mattarella, wie jedes Jahr, mit einer Ansprache an die Bürgerinnen und Bürger gewandt. Mit dem Unterschied, dass es diesmal auch eine Abschiedsrede war, denn sein siebenjähriges Mandat endet in wenigen Wochen. Eine kluge Rede, in einer für alle verständlichen Sprache gehalten, in dem er auf auf die sieben Jahre seines Amtes zurückblickte und auf die aktuellen Herausforderungen – u. a. Pandemie, Klimawandel und soziale Fragen – einging. Mit Lob und Dank an die breite Mehrheit der Italiener, die hohe Impfbereitschaft und großes Verantwortungsgefühl bei der Einhaltung der Corona-Regeln gezeigt hätten. Und mit klarer Kritik an die Adresse der Impfverweigerer: Sie würden mit ihrem Verhalten auch andere gefährden und all jene beleidigen, die eine solche Ressource im Kampf gegen die Pandemie gerne hätten, sie aber nicht bekommen können.

Mattarellas Nachfolge rückt näher

Es war die würdige Rede eines würdigen Staatspräsidenten, und es wird für jede Nachfolgerin bzw. jeden Nachfolger schwer sein, in seine Fußstapfen zu treten. Ein Thema, zu dem sich der scheidende Präsident natürlich nicht direkt äußerte, indirekt aber schon. Als er rückblickend auf seine Amtszeit erklärte, es sei nicht an ihm, ‚zu beurteilen, ob er seine Pflichten angemessen erfüllt habe‘, skizzierte er jene Pflichten wie folgt: „Der Staatspräsident ist aufgefordert, jegliche frühere Parteilichkeit oder Zugehörigkeit abzulegen und sich ausschließlich den Allgemeininteressen und dem Gemeinwohl – für die Gesamtheit der Bürger sowie für jeden Einzelnen – zu verpflichten“. Er sei Garant „der institutionellen und moralischen Einheit des Landes“, so wie es die Verfassung verlangt. Somit gab er, wenn auch nur in grundsätzlicher Form, den Parteien und der Politik sehr wohl Kriterien vor für die Wahl seiner Nachfolgerin oder seines Nachfolgers.

Darüber, wer es werden soll, wird schon lange mehr oder weniger offen spekuliert. Jetzt aber naht der Tag, an dem sich die Wahlversammlung konstituieren wird: Der Vorsitzende der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, hat beide Parlamentskammern für den 4. Januar zu einer gemeinsamen Sitzung eingeladen, danach werden die Regionen ihre Delegierten benennen und das Wahlverfahren wird – voraussichtlich in der zweiten Januarhälfte – beginnen. Dementsprechend verdichtet sich jetzt die Debatte über mögliche Kandidatinnen und Kandidaten und intensivieren sich die Sondierungen zwischen den Parteien, auch quer zu den politischen Lagern.

In dieser Debatte sind bisher mehrere Namen gefallen. Dass der gegenwärtige Ministerpräsident Mario Draghi dazu gehört, versteht sich von selbst. Ohne Zweifel erfüllt er alle Anforderungen, die an das hohe Amt gestellt werden. Das Problem ist, dass er gerade aufgrund seiner Autorität und Kompetenz genauso – oder gar noch dringender – weiterhin als Regierungschef gebraucht wird. Er selbst hatte auf einer Pressekonferenz kurz vor Weihnachten erklärt, er stehe grundsätzlich für beide Funktionen zur Verfügung, denn er sei – so wörtlich – „ein Mann, besser noch ein ‚Nonno‘ (Opa) der Institutionen“. Die Entscheidung darüber liege aber bei Politik und Parlament, nicht bei ihm.

Ein unanständiger Vorschlag

Man mag es kaum aussprechen, aber es gibt noch jemanden, der – von Seiten der Rechten – als möglicher Nachfolger ins Spiel gebracht wurde. Ein Name, bei dem man seinen eigenen Ohren nicht traut: der rechtskräftig wegen Steuerbetrugs und Bilanzfälschung verurteilte Silvio Berlusconi, König de „eleganten Abende“ mit minderjährigen Prostituierten und Besitzer eines Medienimperiums, was schon per se einen gewaltigen Interessenkonflikt mit der Übernahme eines wichtigen Staatsamtes darstellt. Er erfüllt mitnichten die Kriterien, von denen Mattarella sprach: Unparteilichkeit, Garant der Allgemeininteressen und moralische Integrität. Im Gegenteil.

Dass es die Rechte wagte, einen solch ungeheuerlichen Vorschlag zu unterbreiten, ist – auch jenseits der Frage, ob eine solche Kandidatur überhaupt eine reale Chance hätte – schon allein eine Ohrfeige für die Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit.

In seiner Repubblica-Kolumne „L’ amaca’ („Die Hängematte“) hat der bekannte Journalist Michele Serra Mitte Dezember dazu einen kurzen, aber prägnanten Kommentar geschrieben, den wir ins Deutsche übersetzen. Überschrift:

Es gibt für alles eine Grenze“ (von Michele Serra)

„Es beginnt, beunruhigend oder gar beängstigend zu werden: die absolute Normalität, mit der die Medien jeglicher Art und Richtung sich mit der Hypothese ‚Berlusconi im Quirinal‘ beschäftigen. Als zum ersten Mal vor ein paar Monaten solche Gerüchte aufkamen, habe ich – wohl naiv – gedacht, dass es sich um eine dahingeworfene ‚boutade‘ handelt, eine folgenlose Provokation. Offensichtlich irrte ich mich.

Eins muss man klarstellen und zwar sofort. Ohne Bitterkeit, aber mit gelassener Härte: allein eine solche Hypothese stellt eine ungeheuerliche Beleidigung jener Italiener dar, deren genaue Zahl ich zwar nicht nennen kann, die aber sicherlich nicht wenige sind. Es geht um Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, für die Berlusconi – ein ‚uomo di parte‘ par excellence – nicht einfach ein ‚Feind der Linken‘ war, was sowieso klar ist, sondern ein Feind des republikanischen Zusammenhalts, des demokratischen Systems, der ‚Polis‘ und ihrer Regeln. Er war es mit Beharrlichkeit und mit einem Stolz, den man anerkennen muss: nämlich der Stolz desjenigen, der sich über jegliches Gesetz und jedes Gleichgewicht der Macht stellt. Als ‚padrone‘ eines Landes – und ganz gewiss nicht als sein Diener, wie man es von dem Mann im Quirinal erwarten muss.

Was sein internationales Images betrifft, so gibt es keinen Italiener, der sich bei Reisen ins Ausland nicht wegen der ‚bunga bunga‘-Witze und des mitleidigen Gekichers über ihn gedemütigt gefühlt hätte. Und ich lasse dabei die ganzen Berge von Prozessen beiseite, die alles andere als irrelevant sind und schon allein die Kandidatur Berlusconis und seine politische Figur inakzeptabel machen.

Als Mittelinks-Wähler verlange ich, dass meine Vertreter, die auch durch meine Stimme gewählt wurden, es klar und laut sagen: davon darf nicht mal die Rede sein. Schon der Vorschlag ist beleidigend. Es gibt für alles eine Grenze – auch in diesem gedächtnislosen, zynischen und opportunistischen Land.“