Das Eis verschwindet
Ende Oktober berichteten wir über die von den Klimatologen erwarteten Auswirkungen des Klimawandels auf die italienischen Städte, und die Antwort lautete: längere Hitzeperioden, mehr vom Mittelmeer kommende „Medicane“, Starkregenfälle und Überschwemmungen. Nun gibt es damit korrespondierende Nachrichten über die Auswirkungen auf die stadtferne Natur, die in Gestalt des Meeres, der Gebirge und der Alpen ebenfalls zum Reichtum des Landes gehört. Sie sind nicht weniger alarmierend.
„Wundervolles“ Winterwetter
In der zweiten Dezember-Hälfte erreichten uns euphorische Meldungen aus „unserem“ italienischen Dorf über ein meteorologisches Wunder: ein frühsommerliches Wetter, das man vor allem bei Ausflügen ans Meer erlebe – „und das zu Weihnachten!“ Die dortigen Zeitungen berichteten, dass man aufgrund der warmen Luftmassen, die aus der Sahara kämen, für ganz Italien Temperaturen „weit über der Norm“ erwarte, auch in den höheren Luftschichten und Lagen. So würden nicht nur an den Küsten, in Sardinien, Sizilien und Salento Temperaturen von ungewohnten 20 Grad erreicht, sondern auch 15 bis 16 Grad in Alpenstädten wie Bozen und Aosta und in alpinen Höhen von 1600 Metern. Während in den tieferen Lagen, z. B. in der Po-Ebene oder manchen Alpen-Tälern, zu einer „thermischen Inversion“ mit niedrigeren Temperaturen von „nur“ knapp 10 Grad komme. Die Temperaturen seien so frühlingshaft, dass sich schon die Natur an vielen Orten zu regen beginne, indem sich an den Pflanzen Knospen bildeten. Nur aus der der Landwirtschaft seien besorgte Stimmen zu hören, dass es im April – „wie letztes Jahr“ –wieder zu Frosteinfällen kommen könne, die alles zerstören.
Nur ein „Ausreißer“?
Ja und nein: Das milde Wetter ist wie der Rennradler, der vorprescht, aber doch auch das Hauptfeld hinter sich herzieht. Es gibt in Italien zwei natürliche Phänomene, die handgreiflich machen, was sich hinter den jährlichen Capricen und Oszillationen des Wetters vollzieht und somit zu Indikatoren für das werden, was sich sonst nur durch das abstrakte Errechnen und Abgleichen von Durchschnittswerten erfassen lässt. Es ist zum einen das langsame Ansteigen des Meeresspiegels, das sich auch im Mittelmeer bemerkbar macht, aber das sich noch so langsam vollzieht, dass es sich leicht der Aufmerksamkeit nicht nur der sommerlichen Strandtouristen, sondern auch der vielen kleinen Gewerbetreibenden entzieht, die von ihnen leben. Und die in jedem Frühjahr vor allem damit beschäftigt sind, ihre „Stabilimenti“ und zugehörigen Strandabschnitte von den Schäden zu beseitigen, welche die Winterstürme verursacht haben.
Tod der Gletscher
Dem anderen Indikator begegnen die Bergwanderer, wenn sie in ein paar tausend Metern Höhe auf die Gletscher stoßen, die es bisher in Italien nicht nur in den Alpen, sondern auch im Appenin gibt (zum Beispiel am Gran Sasso). Dass sie unwiederbringlich abschmelzen und bald ganz verschwinden werden, zeigen handgreiflich und fotografisch belegbar ihre sich immer weiter zurückziehenden Talzungen. Die italienische Umweltorganisation Legambiente brachte am 11. Dezember zum Welttag der Berge einen Bericht heraus, der das Geschehen in eine nüchterne Zahl übersetzt: Während sich die Eis-Masse der einheimischen Gletscher zwischen 1850 und der Gegenwart bereits um ca. 70 % verringert hat, wird sich dieser Prozess jetzt noch beschleunigen. Auch wenn das Klimaziel erreicht werden sollte, die weitere Temperaturerhöhung bis 2050 auf 2 Grad zu begrenzen (an die theoretisch anvisierten „1,5 Grad“ scheint sowieso kein Metereologe mehr zu glauben), wird es bis dahin in den Alpen bis zu einer Höhe von 3500 Metern höchstwahrscheinlich keine Gletscher mehr geben.
Folgen für die Menschen
Die Pflanzenwelt und einige Tierarten werden sich anpassen, indem sie ihr Habitat um ein paar hundert Meter höher verlegen, andere Tierarten werden ausgelöscht werden. Infolge der schwindenden Bindekraft der Gletscher, Schneedecken und des Permafrostes werden die Erosion, d. h. die Steinschläge und Gesteinslawinen zunehmen – schon jetzt kommt es, z. B. in den Dolomiten, zu ersten größeren Felsabbrüchen. Das Ökosystem der Alpen, die mit ihren Tälern und Almen in tausendjähriger Bearbeitung zum Teil auch eine Kulturlandschaft geworden sind (was gerade ihre Schönheit ausmacht), wird unter einen Stress geraten, den der Meteorologe Daniele Cat Berro so beschreibt: „Die Konsequenz wird sein …, dass sich auch die Flüsse und Bäche verändern. In Zukunft werden wir es in den Bereichen Trinkwasser, Hydroelektrik und Landwirtschaft mit einem Problem der Wasserversorgung zu tun bekommen, das uns nicht mehr in den gewohnten Zeiten und Mengen zur Verfügung steht, zu denen es benötigt wird. Zur kritischsten Phase wird der Sommer werden, wenn die Flüsse ausgetrocknet sind, weil die Schneeschmelze im Frühjahr eher einsetzt, weniger Wasser von den verschwindenden Gletschern kommt und der Sommer auch weniger Niederschläge bringt.“
Die Grenze des Paradigmas
Der Gedanke, die sterbenden Gletscher zum Inbegriff der Gefahren des menschengemachten Klimawandels zu machen, ist suggestiv. Denn er vereinigt den Hinweis auf seine materiellen Folgen für das alpine Biotop mit der ästhetischen Trauer um einen definitiven Verlust, was bedeutet, dass er neben der kognitiven auch die affektive Ebene anspricht und somit ein Gegengewicht bildet zu dem Zynismus, mit dem sich etwa ein Trump oder ein Salvini über die angenehmen Seiten des Klimawandels auslassen, die es doch auch gebe.
Ob dies allerdings ausreicht, um das soziale „Blutbad“ durchzustehen, das der italienische Umweltminister Cingolani als mögliche Konsequenz seines ökologischen Umbau-Programms sieht (um es aber so weit wie möglich zu vermeiden), ist die Frage. Denn hier stoßen wir auf ein Wahrnehmungsproblem. Es gehört zwar zu unserer genetischen Grundausstattung, uns auf veränderte Umweltbedingungen sowohl kognitiv als auch affektiv schnell einstellen zu können: das heißt wenn es heiß wird, nach Schatten zu suchen, wenn es kalt wird, uns wärmer anzuziehen usw. Aber wenn sich unsere Umwelt nicht gerade dadurch verändert, dass neben uns eine von einem Flugzeug abgeworfene Bombe explodiert, scheinen wir ein Problem damit zu haben, Umweltveränderungen als menschengemacht wahrzunehmen, vor allem wenn wir uns auch noch selbst zu ihren Mitverursachern rechnen müssten. Erstens könnte uns das Unbequemlichkeiten und Opfer abverlangen. Zweitens ist unser Wahrnehmungsapparat auf das Registrieren kurzfristiger Veränderungen geeicht: Wenn ihre Folgen, wie das Verschwinden der Gletscher, erst in Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten manifest werden, rücken diese Veränderungen eher an den Rand unseres „Schirms“ oder verschwinden ganz von ihm. Und drittens sind einzelne Phänomene wie eine sommerliche Hitzewelle, eine katastrophale Überschwemmung, das vorzeitige Knospen der Pflanzen und ein milder Wintertag am Meer, fast immer mehrdeutig interpretierbar. Ihr harter Kern, der dahinter stehende Wandel, tritt erst bei statistisch-wissenschaftlicher Betrachtung zutage. Die aber ist bekanntlich zu einem Glauben geworden, dem man beliebig viele andere Geglaubtheiten zur Seite stellen kann.