Beginn der Präsidentenwahl

Heute hat in Italien die Wahl eines neuen Staatspräsidenten begonnen. Für die Verfassung repräsentiert er „die Einheit der Nation“, d. h. ist in seinem Handeln überparteilich, obwohl die gut 1000 Wahlleute, die dafür jetzt in Rom zusammengekommen sind, vor allem über die Parteischiene zu ihrer Aufgabe kamen. Die erwünschte Überparteilichkeit der zu wählenden Person wird auch dadurch unterstrichen, dass für die Wahl zunächst eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, die Wahlleute also über den Tellerrand ihrer Partei hinausschauen sollen – nur wenn eine solche Mehrheit in den ersten drei Wahlgängen nicht erreicht wird, genügt ab dem vierten Wahlgang die absolute Mehrheit (die bei 505 Stimmen liegt). Für die meisten Wahlmänner und –frauen fängt erst dann die eigentliche Wahl an.

Was diesmal die Wahl zusätzlich kompliziert, ist die Tatsache, dass einer der möglichen Kandidaten für das Amt, nämlich Mario Draghi, zurzeit Regierungschef ist, dessen Amtszeit eigentlich erst in einem Jahr endet. Wodurch die Staatspräsidentenwahl auch zu einer politischen Entscheidung über den Fortbestand der gegenwärtigen Regierung wird. Entweder man entscheidet sich dafür, dass Draghi sein gegenwärtiges Amt noch ein Jahr lang behält, dann müsste man sich auf die Person einigen, der man jetzt die Staatspräsidentschaft antragen will. Oder Draghi wird für sieben Jahre neuer Staatspräsident, dann müsste eine neue Regierung gebildet werden. Dass die gegenwärtige Regierung von einem breiten Bündnis getragen wird, sollte eigentlich das Finden einer Gesamtlösung erleichtern. Bisher konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Parteienbündnis dieser Aufgabe nicht gewachsen ist.

Zum ersten Stolperstein wurde Berlusconi, der vorpreschte, indem er sich selbst zum Kandidaten ernannte. Da dieser Versuch vorgestern Abend ein abruptes Ende fand, wird er wohl eine Episode bleiben. Aber es ist eine Episode, die zeigt, auf wie fragilen Füßen immer noch die Konstruktion steht, die – mit Draghi als Träger – der italienischen Politik seit einem Jahr neuen Halt geben sollte.

Das Vorspiel: Berlusconi versucht es noch mal

In der Erklärung, die Berlusconi vorgestern Abend vorlesen ließ und mit der er seinen Verzicht auf die Kandidatur begründete, steckte ein Widerspruch. Denn obwohl er behauptete, aufgrund „unzähliger Treffen“ mit Parlamentariern und regionalen Delegierten zu wissen, dass ab dem vierten Wahlgang „genügend viele Wahlleute“ hinter ihm stünden, habe er sich „im Geist nationaler Verantwortung“ zum Verzicht auf seine Kandidatur entschlossen. Wenn er wirklich „die Zahl“ hat, wie er behauptet, warum in aller Welt zieht er dann seine Kandidatur zurück, wo er doch immer behauptet hatte, als Staatspräsident mit Draghi als Ministerpräsident ein wundervolles Tandem zum Wohle Italiens bilden zu können? Entweder war ihm plötzlich die Einsicht gekommen, dass er dem Land doch nicht gut tun würde – was angesichts seines Charakters auszuschließen ist. Oder seine Behauptung, er habe „die Zahl“ erreicht, war ein wenig „kontrafaktisch“ (was das Wahrscheinlichere ist).

Dass Berlusconi für dieses Amt der denkbar ungeeignetste Bewerber war, ist im Grunde seit Jahrzehnten klar. Und dass er immer noch „der Alte“ ist, zeigte die Art und Weise, wie er seine Kandidatur vorbereitete. Sein Hauptmotiv war, wie man aus seiner Umgebung erfuhr, das Ressentiment des verfolgten Opferlamms, das sich zum Ausgleich für das Unrecht, das ihm lebenslang kommunistische Steuerfahnder und Gerichte zugefügt haben, nun endlich eine Kompensation erwartet. Die Methoden, mit denen er die ihm noch fehlenden Wahlleute auf seine Seite zu ziehen suchte, waren die gleichen wie in alten Zeiten: Erst überhäufte er die erhofften politischen Unterstützer mit Geschenken (wobei er sogar seinen alten Intimfeind Di Maio mit einer handsignierten römischen Vedute „aus meiner Privatsammlung“ verblüfft haben soll). Dann folgten die Anrufe, von ihm persönlich oder einem Vertrauten.

Der Haupttrumpf, den er dabei im Ärmel hatte, ist die Angst der meisten Wahlleute vor sofortigen Neuwahlen. Die diesmal doppelt begründet ist: Die Abgeordneten verlieren dabei nicht nur ein Jahr früher als erwartet Diäten, die zu den höchsten Europas gehören, sondern jeder zweite von ihnen kann auch damit rechnen, nicht wiedergewählt zu werden, weil beide Kammern radikal verkleinert werden. Woraus sich Berlusconi eine Waffe mit doppelter Klinge schmiedete, indem er erstens bei seinen Telefonaten verkündete, dass es mit ihm als Präsidenten nicht zu vorgezogenen Neuwahlen kommen werde. Und indem er zweitens – als Parteichef – ankündigte, das Regierungsbündnis sofort zu verlassen, wenn nicht er, sondern Draghi Präsident werden sollte. Womit er die Regierungskrise samt Neuwahlen auszulösen drohte, deren Verhinderung er gerade versprochen hatte. Nackter kann ein Anwärter auf das höchste Staatsamt nicht zeigen, dass sein Motiv nur persönlicher Ehrgeiz ist.

Die ihn unterstützende italienische Rechte …

Berlusconis Kandidatur warf auch ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der Rechten. Ihre gesamte Führung stellte sich hinter seine Kandidatur, als sie am 14. Januar verkündete, dass er über alle Qualifikationen verfüge, nämlich „die Autorität und Ausgewogenheit sowie das internationale Prestige dessen, der die Einheit der Nation repräsentiert“. Die offensichtliche Unglaubwürdigkeit dieser Behauptung legt die Frage nach den wahren Motiven nah (nach den neuesten Umfragen lehnen über 70 % der Italiener seine Kandidatur ausdrücklich ab).

In der banalsten Erklärung könnte schon eine Teilwahrheit stecken: Es wäre die eleganteste Methode, um ihn, den manchmal unberechenbaren Alten, nun endlich dadurch zu sedieren, dass man aus ihm als Staatspräsidenten zu einer Art „Ehrenpensionär“ macht (was allerdings eine entsprechend „rechte“ Vorstellung von dessen Amt voraussetzt) – mit einer Position, in der er immer noch ein wenig nützlich sein könnte, zumal er ja schon ein Leben lang seine Bereitschaft bewiesen hat, bei Bedarf  Recht und Verfassung zu verbiegen. Ezio Mauro, der Chefkommentator der „Repubblica“, sieht den tieferen Grund „in der antipolitischen Natur der italienischen Rechten“, die ständig versuche, „antistaatliche Einstellungen zu schüren und sich des republikanischen Systems ohne seine liberalen Werte zu bedienen“. In Verbindung mit dem erhofften Wahlsieg bei den nächsten politischen Wahlen wäre die Eroberung des Quirinals „die Vorwegnahme einer neuen Ordnung“, in der es zu „einer neo-autoritären Interpretation der Demokratie“ kommen könne.

… und die Handreichung der EVP

Zwei politische Feunde: Berlusconi und Weber

In der Brust der Europäischen Volkspartei wohnen offenbar zwei Seelen. Die eine zeigte sich im Recovery-Plan, während sich die andere in der Prinzipienlosigkeit zeigt, mit der sie immer wieder anti-europäischen und anti-rechtsstaatlichen Kräften Heimat und Unterstützung bietet, trotz der Erfahrungen, die sie mit Leuten wie Orban gemacht hat. Als Berlusconi auf der Suche nach internationaler Unterstützung seiner Kandidatur auch bei der EVP anklopfte, wurde er sofort fündig. Obwohl sich seine Kandidatur in Italien gegen einen Europäer wie Draghi richtet und dort vor allem von der antieuropäischen Rechten getragen wird, erklärte der EVP-Generalsekretär, der Spanier Antonio Lopez, die Wahl von Berlusconi wäre „ein doppelter Sieg für Italien und für Europa“. Der (deutsche) EVP-Fraktionschef Manfred Weber fügte am gleichen Tag (dem 14. Januar) gegenüber einer Journalistin des Corriere della Sera hinzu,dass Berlusconi genau der Mann sei, den Italien jetzt brauche. Auf ihren Einwurf, dass dieser doch in der Vergangenheit viel mit den Gerichten zu tun hatte, war Webers Antwort: „Er ist ein sehr starker Leader mit einem politischen Zugriff, der manchen irritieren mag. Aber als Demokrat liebe ich starke Positionen, sowohl rechts als auch links liebe ich starke Leader, welche die Leute wiedererkennen und für die sie zur Wahl gehen können. Deshalb respektiere ich Berlusconi“. Wenn für diese EVP Korruption und Konflikte mit dem Rechtsstaat politische Stärke zeigen, versteht man, weshalb sie es so lange mit Orban aushielt.

Der erste Wahlgang hat begonnen

Zum Glück ist Berlusconis Kandidatur für die Präsidentschaft nur eine Episode geblieben, die aber den Parteiführern kostbare Zeit gekostet hat. Was bisher fehlte, war nicht nur der ernsthafte Versuch, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten oder eine gemeinsame Kandidatin für die Präsidentschaft zu einigen, sondern auch die Klärung, wie es mit der amtierenden Regierung weitergehen soll. Hier sind neue Spannungen vorprogrammiert – Salvini hat schon den Wunsch nach einer Umbildung angemeldet, in dem Sinne, dass auch Parteiführer in sie aufgenommen werden sollten. Oder einfacher ausgedrückt: Er will wieder Innenminister werden. Für ihn wäre es die Korrektur seines Fehlers von 2019, d. h. die Rückkehr in die (für ihn) guten alten Zeiten von Conte 1.

Der erste Wahlgang hat begonnen, und wie man hört, haben die meisten Delegierten „scheda bianca“ gewählt, d. h. weiße Stimmzettel abgegeben. Harte Ergebnisse sind noch nicht zu erwarten, man befindet sich im Modus des Abwartens. Kurzfristige Treffen werden vereinbart, die Telefone laufen heiß. Was in Monaten versäumt wurde, soll nun in ein paar Tagen nachgeholt werden.