„Wenn es von Nutzen ist, bin ich da“
„Ich hatte zwar andere Pläne, aber wenn es von Nutzen ist, bin ich da“. So die nüchterne Antwort des alten und neuen Staatspräsidenten an die Fraktionsvorsitzenden der Parteien, die zur Regierungsmehrheit gehören (PD, Lega, 5Sterne, Forza Italia, Italia Viva, LEU) und gestern mit der inständigen Bitte zu ihm pilgerten, doch von seinem früheren „Nein“ zu einer zweiten Amtszeit wieder abzurücken.
Der achtzigjährige Mattarella hatte wiederholt erklärt, nicht zu einem zweiten (siebenjährigen) Amtsmandat bereit zu sein. Sicher aufgrund seines Alters, aber auch aus grundsätzlichen, institutionellen Gründen. „Vierzehn Jahre, das ist fast eine Monarchie“, hatte er seine Entscheidung begründet, auch um nach dem doppelten Mandat seines Vorgängers Napolitano einen weiteren „Präzedenzfall“ zu vermeiden.
Für den Fall, dass er dennoch die einzig übrigbleibende Option bleibt, hatte er zwei Bedingungen gestellt: 1) Die politischen Kräfte, die seine Kandidatur wünschen, sollten ihm dies förmlich und direkt mitteilen, und 2) Er werde nur zustimmen, wenn alle Parteien, welche die aktuelle Regierung tragen, seine Kandidatur unterstützen.
So kam es dann. Nach sieben fehlgeschlagenen Wahlgängen und den festgefahrenen Verhandlungen zwischen den Parteien über einen konsens- und mehrheitsfähigen Kandidaten wurde Sergio Mattarella am Samstagabend mit einer Dreiviertelmehrheit von 759 Stimmen wiedergewählt und vom Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer Fico erneut zum Staatspräsidenten proklamiert. Das zweitbeste Wahlergebnis (nach Sandro Pertini) in der Geschichte der Republik. Die noch im Parlament anwesenden „grandi elettori“ (die man coronabedingt auf 200 begrenzt hatte) applaudierten fünf Minuten lang stehend, sichtlich erleichtert.
Tagelanges absurdes Theater
Der Verlauf der Präsidentenwahl war jedoch politisch ein Desaster.
Ausgangspunkt war, dass weder das rechte Lager noch Mittelinks mit seinem wackeligen „Verbündeten“ 5SB genügend Stimmen zusammenbrachten, um allein die erforderliche absolute Mehrheit von 505 zu erreichen – auch wenn die Rechte über ein paar Stimmen mehr verfügte als das progressive Lager. Also bestand schon allein aus numerischen Gründen die Notwendigkeit, gemeinsam eine Kandidatin oder einen Kandidaten auszumachen, die oder der in der Lage ist, Stimmen aus beiden Lagern auf sich zu ziehen. Dies entspricht einerseits dem Geist der Verfassung, die dem Präsidenten abverlangt, ein lagerübergreifender Repräsentant der ganzes Nation zu sein. Es ist aber auch politisch sinnvoll, wenn ein Bruch der die Regierung tragenden Koalition vermieden werden sollte.
PD-Chef Letta hatte von Beginn an auf einen solchen Konsens gesetzt, wobei er dem Rechtsbündnis, aufgrund ihres Stimmenvorteils, den Vortritt bei der Benennung möglicher Kandidaten überließ. Und hier zeigte sich in geradezu exemplarischer Weise das politische Unvermögen und das mangelnde institutionelle Bewusstsein der italienischen Rechten, allen voran von Matteo Salvini. Statt nach einem konsensfähigen Vorschlag zu suchen und ihn mit allen gemeinsam zu erörtern, verstrickte er sich tagelang in taktische Spielchen und präsentierte immer wieder neue Kandidaten, allesamt unzumutbar für Mittelinks, weil eindeutig rechtslastig und weit davon entfernt, die Voraussetzungen eines Kandidaten „super partes“ zu erfüllen, die von allen Fraktionen der heterogenen Regierungsmehrheit hätten akzeptiert werden können.
Salvinis Amoklauf
Nachdem Berlusconi seine absurde Kandidatur endlich beleidigt zurückgezogen hatte, wollte sich der rechtspopulistische Lega-Leader als „Kingmaker“ profilieren. Doch er war dazu schlicht nicht in der Lage. Ohne die Spur eines Planes, geschweige denn einer Strategie, präsentierte er täglich wechselnde Kandidaten („Wir sind aber nicht bei ‚Italien sucht den Superstar‘“, lautete Renzis bissiger Kommentar), die auf eilig einberufenen Pressekonferenzen in den höchsten Tönen angepriesen wurden und am nächsten Tag bereits Makulatur waren, weil sie weder bei Mittelinks noch im eigenen Lager konsensfähig waren.
Der Clou von Salvinis konfusen Alleingängen war die Nennung von Elisabetta Casellati, der amtierenden Senatspräsidentin, was ebenfalls ohne Absprache mit den Parteien außerhalb der Rechtskoalition geschah. Casellati gehört zu Forza Italia und ist eine glühende Verehrerin Berlusconis. Bekannt wurde sie vor allem dadurch, dass sie beim Berlusconi-Skandal um die minderjährige Prostituierte Ruby Rubacuori dessen Behauptung steif und fest verteidigte, diese sei „die Nichte von Mubarak“ (dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten), der Berlusconi „in einer Notlage“ habe helfen wollen, um einen „diplomatischen Zwischenfall“ zu vermeiden. Und am Tag, als im Senat die Entscheidung über Berlusconis Amtsenthebung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung fiel, erschien die Dame in schwarzem Trauerlook. Casellati (die seit der Ruby-Geschichte auch den Spitznamen „Mubaraks Tante“ trägt) trifft bei der Ausübung ihres hohen Amtes gerne Entscheidungen zugunsten der Rechten und ist für den Hang bekannt, mit ihren „Amtsprivilegien“ äußerst locker umzugehen.
Ausgerechnet sie sollte also laut Salvini (und Meloni) die ultimative „überparteiliche Kandidatin mit hohem Profil“ sein. Eine Provokation, die nicht nur Letta zurückwies, sondern auch in Teilen des rechten Lagers (und sogar von Casellatis eigener Partei FI) nicht goutiert wurde. Casellati fiel bei der Abstimmung krachend durch, die Suche Salvinis ging weiter, zunehmend hektisch und konfus („Hamstertaktik“ nennt das Emanuele Lauria in der Repubblica: immer laufen, in einem Rad laufen, ohne von der Stelle zu kommen).
Lettas Strategie: Abwarten und feste Grenzen ziehen
Im Gegensatz zu Salvini verfolgte der Generalsekretär der PD, Enrico Letta, die ganze Zeit einen präzisen Kurs: Erst das rechte Bündnis kommen lassen, selbst nicht mit zig Namen vorpreschen, die dann gleich „verbrannt“ werden. Und trotzdem kein passives Abwarten, wie ihm von mancher Seite vorgeworfen wurde, sondern konsequentes Beharren auf einigen „Essentials“: keine Kandidaten aus dem einen oder dem anderen Lager, hohe Kompetenz und unumstrittenes Profil in institutioneller und verfassungsrechtlicher Hinsicht, gemeinsame Suche nach Konsenslösungen, keine Gefährdung der Regierungsmehrheit. Mit anderen Worten: das Gegenteil von Salvinis Namenslotterie.
Dass Letta selbst sehr wohl Favoriten für die Wahl hatte, ist kein Geheimnis: An erster Stelle stand für ihn Draghi und, sollte dieser (wie tatsächlich geschehen) auf Widerstände stoßen, Mattarella. Als im Laufe der Abstimmungen immer mehr Abgeordnete entgegen der Ansage der PD-Parteiführung, sich zu enthalten, den Namen „Mattarella“ auf den Wahlzettel schrieben, war Letta schnell klar, dass die Option Draghi nicht Bestand hatte. Zumal diese auch die 5-Sternebewegung und ihr Vorsitzender Conte (und die Rechte sowieso) ablehnten. Eine Ablehnung, hinter der nicht zuletzt die Befürchtung vieler Parlamentarier steht, dass es bei einem Wechsel Draghis zum Quirinal zu vorgezogenen Neuwahlen kommt, die ihnen schon bald das Mandat kosten könnten.
Bei einer Kandidatur des Ministerpräsidenten bestand also die Gefahr, dass er in geheimer Wahl zur Strecke gebracht und damit dauerhaft beschädigt wird. Letta musste diese Option fallen lassen, es blieb nur Mattarella, der Wunschkandidat der „parlamentarischen Basis“.
Schwankende Sterne und Contes Ränkespiele
Die Vorgänge um die Präsidentenwahl haben zudem noch deutlicher gezeigt, wie unberechenbar und heterogen die Positionen innerhalb der 5SB sind. Ein Agglomerat ohne politischen Kompass, bei dem Unzufriedenheit, Ängste und persönliche Ambitionen zu wechselnden Verhalten und Entscheidungen führen, die zwischen links und rechts hin und her schwanken.
Das gilt nicht zuletzt für ihren Leader Giuseppe Conte, der im Laufe der Wahl immer wieder an PD und LEU vorbei mit Salvini über diverse Kandidatinnen und Kandidaten verhandelte: zunächst über Casellati, später über die Oberdiplomatin und jetzige Leiterin der Geheimdienste Elisabetta Belloni. Eine wiederauferstandene „Achse“, die an die Koalition der 5SB mit der rechtsextremen Lega 2018-2019 unter Contes Führung anknüpft.
Dass dies für das von der PD und Letta avisierte Bündnis mit der 5SB nicht gerade die besten Aussichten eröffnet, ist offensichtlich. Das persönliche Vertrauen zu Conte hat gelitten, und es verdichtete sich den Eindruck, dass er keine Kontrolle über seine eigenen Truppen im Parlament hat. Contes Gegenspieler Luigi Di Maio, der frühere Chef der Bewegung und heutige Außenminister, macht keinen Hehl daraus, dass er mit Contes Verhandlungsführung bei der Wahl nicht einverstanden war. Dass die 5Sterne mit Blick auf die nächsten Wahlen für Mittelinks einen zuverlässigen Bündnispartner abgeben können, ist mehr als fraglich.
Die Rolle Draghis
Sowohl das schwere Zerwürfnis im Rechtsbündnis, das der Wahl folgte, als auch das zunehmende Irrlichtern von Conte und der 5SB werden die Arbeit von Draghi und seiner Koalition noch schwieriger und krisenanfälliger machen. Das weiß auch der Ministerpräsident, und es ist zu erwarten, dass er – jetzt, wo die Präsidentenwahl vorbei ist – die Zügel bei seinen Koalitionären straffer anziehen wird.
Bemerkenswert ist, dass Draghi – nachdem ihm klar wurde, dass seine eigene Quirinal-Chancen verpufft sind – in der letzten Phase der Wahl selbst aktiv intervenierte: am Samstagvormittag, kurz vor der entscheidenden Abstimmung, nutzte er ein Zusammentreffen mit Mattarella aus offiziellem Anlass, um ein persönliches Gespräch mit ihm zu führen. Worüber, wurde kurz danach klar, als er persönlich zu allen Parteileadern seiner Koalition Kontakt aufnahm, um ihnen mitzuteilen, dass der Staatspräsident nun doch zu einer zweiten Amtszeit bereit sei. Das war der entscheidende Wendepunkt, der zur Wiederwahl Mattarellas führte.
Wer da noch behauptet, Mario Draghi sei ein „Techniker“, verkennt das Wesen des Mannes. Er ist ein Vollblutpolitiker und geborener Leader. Allerdings ohne eine politische Hausmacht im Rücken.