Spiel mit dem Feuer
Wenn es kein Spiel mit dem Feuer wäre, könnte man in der Art und Weise, wie Putin die Ukraine-Krise inszeniert, auch eine Groteske sehen. Zumindest gilt dies für den Teil der Inszenierung, zu dessen Bühne Ende Januar, direkt vor der italienischen Nase, das Mittelmeer wurde. Denn im Januar hatte die Führung der russischen Kriegsmarine angekündigt, dass demnächst einige ihrer Schiffe aus der Nord- und der Baltischen Flotte ins Mittelmeer einfahren würden, „um an Übungen teilzunehmen“. Aber wie beim Poker, zu dessen Regeln es gehört, die Mitspieler erst einmal im Unklaren zu lassen, ob man wirklich etwas auf der Hand hat oder nur blufft, steckten in der Unternehmung auch Hinweise, dass es dabei vielleicht um mehr ging als eine schlichte Trainingseinheit.
Kleiner Aufmarsch im Mittelmeer
- Das erste Ausrufungszeichen war natürlich der Kontext, in dem das Marine-Manöver stattfand: der Aufmarsch einer riesigen Landarmee an der russischen und weißrussischen Landesgrenze zur Ukraine.
- Der zweite Hinweis steckte im angekündigten Zeitraum und Radius der „Übungen“: Sie seien für Februar geplant und würden sich bis zum Schwarzen Meer erstrecken, also bis zur Südgrenze der Ukraine (wo sie nur vom Wasser her anzugreifen ist).
- Das dritte Mosaiksteinchen lieferten amerikanische Geheimdienste, die nicht nur berichteten, dass der Angriff auf die Ukraine kurz bevorstehe, sondern sogar über das Datum (16. Februar) und die Methode („inszenierter Zwischenfall“) Bescheid wussten
- Und dann kam noch die Information, dass es sich bei den Marine-Einheiten um sechs auf Lande-Operationen spezialisierte amphibische Schiffe handele (mit der Fähigkeit, ca. 60 Panzer und 1500 Infanteristen zu landen).
Im Unterschied zu früheren Unternehmungen hatte sich diesmal die amerikanische Regierung entschieden, ihre Geheimdienst-Informationen sofort zu veröffentlichen – in der Hoffnung, dadurch die russische Führung aus dem Konzept zu bringen und vielleicht sogar zur Aufgabe ihrer Angriffspläne zu bewegen. Sie hielt auch an ihren Warnungen fest, als sie die ersten russischen Dementis zu Ausgeburten „westlicher Hysterie“ erklärten. So wurde den im Mittelmeer angekündigten sechs russischen Marineschiffen mehr Aufmerksamkeit als üblich zuteil. Nun begann in ihrer Nähe auch die Nato mit „Übungen“, zu denen die Amerikaner, Briten, Franzosen und nicht zuletzt Italiener je einen Flugzeugträger schickten, welche die russischen Schiffe unter „Beobachtung“ nahmen – und sich dabei ein paar hundert Seemeilen von Sizilien entfernt zu einer Eskorte formierten, zu der es dort nicht alle Tage kommt.
Italien und Russland
Die eine Seite des Verhältnisses von Italien zu Russland ist Abhängigkeit: Seinen Bedarf an Erdgas muss Italien zu 90 % importieren, und von diesen Importen kamen 2020 40 % aus Russland. Seitdem Gazprom die Lieferung über die Ukraine drosselt, schießen in Italien die Gas- und Elektrizitätsrechnungen für die Unternehmen wie für die privaten Haushalte in die Höhe, was den Staat zu kostspieligen Hilfsmaßnahmen zwingt.
Die andere Seite ist Konkurrenz: Ins Mittelmeer, das Italien einst als Mare Nostrum betrachtete, drängen schon seit Jahren auch die Russen. In der syrischen Hafenstadt Tartus haben sie sich eine regelrechte Basis geschaffen, und in Ländern wie Libyen, das Italien bisher als natürlichen Partner betrachtete, verändern russische Söldner die Machtverhältnisse. Der gegenwärtige Ukraine-Konflikt betrifft Italien nicht nur, weil mit ihm Russland die 1989 verlorene Hegemonie über Osteuropa zurückzugewinnen sucht und Italien nun einmal in die Bündnissysteme EU und Nato eingebunden ist (für die es eine Selbstaufgabe wäre, wenn sie tatenlos einer mit Waffengewalt herbeigeführten europäischen Neuordnung zuschauen würden, in der es zumindest für die osteuropäischen Länder kein Selbstbestimmungsrecht mehr gäbe). Die Vereinnahmung der Ukraine in ein wiedergeborenes russisches Hegemonialstreben, das perspektivisch ganz Osteuropa umfasst, würde die Machtverhältnisse in Europa verändern. Und damit auch im Mittelmeerraum, in dem jetzt schon die Reibereien zunehmen und für den das Schwarze Meer eine Art Hinterzimmer bildet.
Kakophonie der Parteien
Die Frage, welches Verhältnis Italien zu Russland pflegen sollte, werden von den im italienischen Parlament vertretenen Parteien unterschiedlich beantwortet – auf jeden Fall unterschiedlicher, als es den Anschein macht, wenn man nur das Regierungshandeln ins Auge fasst. Wie gegenüber anderen autoritären Regimes hat die italienische Rechte gegenüber Putin die geringsten Vorbehalte: Berlusconi pflegt – nicht anders als mancher deutscher (Ex-) Politiker – mit Putin eine persönliche Freundschaft, und Salvini, der schon lange ein bekennender Putin-Verehrer ist, forderte noch 2017 den Austritt aus der Nato. Als er 2018 gerade Innenminister geworden war, wurde er in eine immer noch nicht aufgeklärte Affäre verwickelt, in der es um russische Spendengelder für die Lega ging, die aus einem Dieselöl-Geschäft abgezweigt werden sollten. Seine dann aufflammende Liebe zu Trump brachte ihn in Loyalitätskonflikte, wenn – was vorkam – seine beiden Vorbilder miteinander in Streit gerieten. Heute fordert Salvini zwar nicht mehr den Austritt Italiens aus der Nato, aber erklärt weiterhin, dass „gute Beziehungen zu Russland fundamental bleiben“.
Auf der Gegenseite steht die PD, die jetzt auch im Ukraine-Konflikt am vorbehaltslosesten der Linie von Biden und der EU folgt. Zwischen beiden Lagern steht Conte, der schon philorussische Neigungen erkennen ließ, als er noch mit Salvini in einer Regierung saß. Und bei dem es wohl auch kein Zufall ist, dass er bei der gerade zu Ende gegangenen Wahl/Neuwahl des italienischen Staatspräsidenten gemeinsam mit Salvini eine Zeitlang einen Putin-Sympathisanten (Frattini) unterstützte. Während sein bewegungsinterner Gegenspieler, der amtierende Außenminister Di Maio (der sich einst als Förderer des chinesischen Seidenstraßen-Projekts profilierte) inzwischen zum standfesten Atlantiker geworden ist.
Draghis Linie.
Über allem schwebt Ministerpräsident Mario Draghi, der sich schon bei seinem Amtsantritt als Mann des Westens positionierte und jetzt der mit Biden, Macron und Scholz verabredeten Linie folgt: Nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts zu suchen, was bis zu dem unausgesprochenen Zugeständnis in Olaf Scholzens Aussage geht, dass der Nato-Beitritt der Ukraine „doch eigentlich nicht auf der Tagesordnung steht“. Aber trotzdem am Prinzip festzuhalten, dass auch in Osteuropa jedes Land das Recht auf Selbstbestimmung hat. Und ansonsten für den Fall eines russischen Angriffs mit harten, wenn auch inhaltlich vorerst nicht genauer spezifizierten Sanktionen zu drohen. Und sich damit auch dem gerade stattfindenden Versuch anzuschließen, aus der bisherigen Not einer fehlenden gemeinsamen EU-Außenpolitik eine Tugend zu machen, indem er gegenüber Putin die gleiche Position wie seine anderen europäischen Partner vertritt, und so dessen Hoffnung, hier die europäischen Länder spalten zu können, zunichte zu machen. Was angesichts ihrer vorhandenen Abhängigkeit keine Selbstverständlichkeit ist.
Nun wartet Draghi auf Putins Einladung nach Moskau, und lässt durchblicken, dass er ein Gastgeschenk im Koffer hat, das Putins Prestige-Bedürfnis entgegenkommen könnte: eine Einladung zu einem Gipfel-Treffen mit Biden. Verbunden mit einer Spezifizierung des Themas Sanktionen, bei dem man sich allerdings streiten kann, ob sie nicht doch einen Schritt zu weit geht: dass sie „proportional“ sein müssten, was der russischen Hoffnung, durch die Aufrechterhaltung des eigenen Drucks eine Bresche in die westliche Einheitsfront zu schlagen, vielleicht doch wieder ein wenig Auftrieb geben könnte.
Ansonsten will auch Italien dazu beitragen, den osteuropäischen Ländern angesichts der russischen Bedrohung das Gefühl der Sicherheit zu geben. Verteidigungsminister Guerini erklärte vor dem Verteidigungsausschuss beider Kammern, Italien könnte auch eine dauernde Präsenz an der südöstlichen Flanke der EU in Erwägung ziehen (z. B. in Ungarn), wie es sie bereits in Polen und in den baltischen Staaten gibt (zu der Italien jetzt schon seit Längerem mit der Stationierung von 250 „Alpini“ in Lettland beiträgt).
Gibt es Auswege?
Währenddessen erhöht Putin seinen Einsatz weiter. Den 16. Februar ließ er verstreichen, und die russischen Staatsmedien überschlugen sich in Hohn und Spott über „den Tag der nicht stattgefundenen Invasion“. Aber einen Tag später lässt Putin den Einsatz von Nuklearwaffen üben.
Was treibt ihn eigentlich an? Dass sich Russland von der Nato „umzingelt“ fühlt – wofür der Beitrittswunsch der Ukraine der Tropfen wäre, der das Fass zum Überlaufen brachte –, kann nicht der Grund sein, zumal die Nato in den letzten Jahren nicht gerade von Sieg zu Sieg eilt. Eine andere Begründung argumentiert eher psychologisch: Putin fühle sich vom Westen und insbesondere von den USA „gedemütigt“ (Obama 2014: „Russland? Eine Regionalmacht“). Wenn dies wahr wäre, könnte Putin vielleicht mit Maßnahmen, die ihn sein „Gesicht wahren“ ließen, ruhig gestellt werden, z. B. Gipfeltreffen mit Biden oder Putins Einbeziehung in eine noch zu schaffende gemeinsame eurasische „Sicherheitsarchitektur“. Und dann gibt es noch eine zweite Theorie, die angesichts der letzten Entwicklung leider die wahrscheinlichste ist: Putin will nichts weniger als die Wiederherstellung der russischen Einflusszone auf dem früheren Territorium der SU (siehe die ZEIT vom 17. Februar mit den Stellungnahmen von Fischer und Gabriel). Eine Theorie, die leider auch den Nachteil hat, dass sie zur europäischen Selbstaufgabe führen müsste
Die Diplomatie müsste auf die Mischung solcher Motive setzen. Da sich die Reduktion der Diskussion mit Putin auf das Ja oder Nein zum Nato-Beitritt der Ukraine als steril erwiesen hat, könnte das Angebot einer gemeinsam konstruierten Sicherheitsarchitektur für Russland und die EU zumindest versucht werden.