Eine selektive Willkommenskultur
Dass sich die italienische Rechte dem europäischen Protest gegen Putins mörderische Invasion zuletzt doch noch angeschlossen hat, ist eine gute Nachricht. Es war keineswegs selbstverständlich, denn zu ihrer DNA gehört nun einmal die Sympathie mit autoritären Regimen, und insbesondere Salvini musste dafür über den Schatten seiner Putin-Verehrung springen. Als er sich dann noch dafür aussprach, dass sich Europa und somit auch Italien den Ukraine-Flüchtlingen öffnen sollte, wollte man schon fast ein Hosianna anstimmen – wenn er nicht zur Begründung hinzugefügt hätte, hier handele es sich ja um „richtige Flüchtlinge, die uns moralisch und kulturell nahe sind“. Womit er indirekt noch einmal seine brutale Blockade-Politik gegenüber den Mittelmeer-Flüchtlingen verteidigte, die er als italienischer Innenminister betrieben hatte: Die waren eben, so ist zu folgern, keine „richtigen“ Flüchtlinge, denen überdies noch unsere Moral und Kultur fehle. Und das sind sie für ihn auch heute noch.
„Sie sehen aus wie wir“
Salvini ist kein Stratege, aber ein Populist, der eine Nase dafür hat, was „ankommt“. Dass er damit nicht allein steht zeigt der Artikel „Sie sehen aus wie wir“, der am 1. März in der „Süddeutschen“ erschien und über die ersten Reaktionen auf den Beginn der russischen Invasion gegen die Ukraine berichtete. Ihren klassischen Ausdruck fand eine ehemaliger ukrainischer Generalsstaatsanwalt, der sich gegenüber der BBC so äußerte: „Es ist sehr emotional für mich, weil ich sehe, wie Europäer mit blauen Augen und blonden Haaren getötet werden“. Ein britischer Journalist des Telegraph schreibt: „Die sehen aus wie wir. Das macht es so schockierend“. Eine Journalistin vom MBC News erklärte so die Welle der Hilfsbereitschaft, die plötzlich Polen gegenüber diesen Flüchtlingen erfasst hat – nachdem sich die polnische Regierung, offenbar mit einer Mehrheit der Bevölkerung im Rücken, jahrelang geweigert hatte, irgendwelche Flüchtlinge aus anderen Weltgegenden aufzunehmen. Dies sei jetzt anders, denn jetzt handele es sich um „Christen, die weiß und den in Polen lebenden Menschen sehr ähnlich sind“. Ein Korrespondent des Londoner CBS-Büros erweiterte die Motive um eine weitere Kategorie: Der Unterschied bestehe darin, dass Kiew „eine relativ zivilisierte, relativ europäische Stadt“ sei, was ein französischer Journalist dadurch ergänzte, dass die von dort kommenden Menschen sogar „dieselben Autos fahren wie wir“. „Hier zivilisierte weiße, dort unzivilisierte braune Menschen“, fasste es ein Journalist der Chikago Sun-Times sarkastisch zusammen. In der schönen Umarmung, mit der Europa die Ukrainer aufnimmt, steckt auch ein Stück alter kolonialistischer Arroganz.
Nur eine mediale Erfindung?
Der Artikel in der „Süddeutschen“ legte nahe, dass es die Medien seien, die hinter solchen Bewertungen stünden, womit sie nun aber endlich – so die Unterzeile zur Überschrift – „aufhören“ sollten. Aber die Journalisten reproduzieren hier eine Sichtweise, die auch ohne sie da wäre. Könnte das vermutete Motiv für die polnische Hilfsbereitschaft – die Ukrainer seien doch „Christen, weiß, uns ähnlich“ – nicht die schlichte Wahrheit sein? Die polnische Aufnahmebereitschaft hat zwei Seiten: Einerseits ist sie überwältigend in ihrer Großzügigkeit – und somit eine Überraschung für alle, die aufgrund früherer Erfahrungen mit „den Polen“ nur noch empathielose Engherzigkeit erwarteten. Aber sie hat trotzdem eine Kehrseite: den Ausschluss von Flüchtlingen, die diesen Bedingungen nicht genügen. Italienische Zeitungen berichten aus der polnischen Grenzstadt Przemysl, dass dort ankommende geflüchtete afrikanische Studenten zeitweise mit Waffengewalt am Grenzübertritt gehindert wurden („zuerst die Ukrainer“) und danach von Hooligans des lokalen Fußballclubs mit Baseballschlägern verfolgt wurden. Ähnliche Erfahrungen machten 4000 indische Studenten, die in Kiew studiert hatten, an der rumänischen Grenze: Ihnen soll nun tagelang – bei Temperaturen unter Null – der Übertritt verwehrt worden sein.
Janusköpfige Einigung der EU
Die Hilfsbereitschaft der EU ist angesichts des millionenfachen Flüchtlingsstroms aus der Ukraine groß, aber erweist sich, wenn man genauer hinschaut, ebenfalls als janusköpfig. Am 3. März verabschiedeten die EU-Außenminister einstimmig ein Aufnahmeprogramm, das als großer humanitärer Erfolg und auch als eine Art Wiederversöhnung des europäischen Westens mit dem europäischen Osten gefeiert wurde, weil hier plötzlich bisherige Mauern nicht mehr zu existieren scheinen: Ukrainische Staatsangehörige, die sich zur Flucht entschließen und deren potenzielle Zahl gegenwärtig auf 8 Millionen geschätzt wird, sollen ohne Asylantrag in die EU einreisen können, wo ihnen erst einmal ein Aufenthaltsrecht von einem Jahr gewährt wird, mit freier Wahl des Gastgeberlandes und entsprechender sozialer Unterstützung. Die Janusköpfigkeit versteckt sich in der Definition der „ukrainischen Staatsangehörigen“: Zu ihnen werden nur diejenigen gezählt, die in der Ukraine über einen dauerhaften Wohnsitz verfügten, nicht aber Menschen aus Drittstaaten, die in der Ukraine studiert oder gearbeitet haben. Ihre Situation, schreibt Pro Asyl, bleibe „vorläufig ungeklärt“: Die Kommission sehe zwar vor, „dass die Einreise unkompliziert ohne Visa und Pässe erfolgt, allerdings nur, um dann direkt in den Heimatstaat auszureisen“. Hier werden Unterschiede eingeführt, welche die russischen Bomben und Raketen auf Kiew nicht machen. Der Brüssel- Korrespondent Claudio Tito berichtete dann auch, dass es im Vorfeld des EU-Beschlusses harte Auseinandersetzungen über die Frage gab, wer nicht zu den Flüchtlingen aus der Ukraine zu zählen sei. Die östlichen EU-Länder wollten um jeden Preis verhindern, dass Flüchtlinge aus anderen Krisengebieten wie dem Mittleren Osten oder Afghanistan versuchen könnten, auf der Welle der Ukraine-Flüchtlinge nach Europa zu gelangen – noch vor wenigen Wochen hatte Polen die Grenze zu Weißrussland deswegen sogar mit Stacheldraht bewehrt. Die Hoffnung, die Erfahrung des Ukraine-Krieges werde die osteuropäischen Länder vielleicht zu einem anderen Verhalten gegenüber den weltweiten Migrationsbewegungen veranlassen, bleibt offenbar Illusion. Ihnen gelang es, die Bedingung des „dauerhaften Wohnsitzes“ zum Nadelöhr zu machen. Tausende von indischen oder afrikanischen Studenten lässt man nur in den EU-Raum einreisen, um sie gleich wieder abzuschieben.
Die Grenzen der Solidarität auch unter Flüchtlingen
Am traurigsten ist vielleicht die Nachricht, dass die Spaltung zwischen Fremden und „Unsrigen“, Farbigen und Weißen auch bei denjenigen besteht, die doch eigentlich eine Schicksalsgemeinschaft bilden müssten: bei den Flüchtlinge selbst. Die italienischen Berichte bestätigen, was auch in Deutschland zu lesen war: wie farbige Studenten, die fliehen wollten, schon in den ukrainischen Universitätsstädten am Einstieg in die überfüllten Züge gehindert wurden (so lange sie noch fuhren), nach dem Motto „zuerst die Ukrainer“. Oder wie sie an der Grenze zu Polen oder Rumänien von ukrainischen (!) Grenzwächtern gehindert wurden (und wohl noch werden), sich gemeinsam mit den ukrainischen Flüchtlingen in die Schlangen vor den Übergängen einzureihen. Nicht wenige von ihnen hofften, ihr Studium nach dem abrupten Ende in der Ukraine in einem EU-Land fortsetzen zu können, und erlebten stattdessen eine Kette von Diskriminierungen, die in der Ukraine begannen und sich auch nach dem Grenzübertritt in ein EU-Land fortsetzten. Wenn sie ihre Flucht überleben, kann man sich vorstellen, mit welchem Europabild sie in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Unser ganz normaler Rassismus
Die vielen kleinen Nickligkeiten, zu denen es während des Ukraine-Kriegs schon wegen der Hautfarbe kommt, zeigen einmal mehr: Wir sind auf Nächstenliebe geeicht, nicht auf Fernstenliebe, dieses Stück Rassismus steckt in uns allen. Werden unsere Spiegelneuronen eher aktiviert, wenn wir die Tränen im Gesicht eines Gegenübers sehen, das uns ähnelt? Auch wenn uns die Vernunft sagt, dass das Menschenrecht auf Leben nicht von Hautfarbe, Bildung und sozialem Status abhängt und zu einer der großen regulativen Ideen der westlichen Geistesgeschichte geworden ist. Aber auch in Deutschland ist die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hundertmal intensiver als z. B. die über den Syrien-Krieg, Den Beschluss, uns Hunderttausende von afrikanischen Migranten dadurch vom Hals zu halten, dass wir sie der Barbarei der libyschen Lager überlassen, haben unsere Regierungen gefasst, und wir haben sie gewähren lassen. Und es ist unschicklich, den vermutlichen Hauptgrund auszusprechen: Die Migranten, die in Libyen gestrandet sind und auf der Flucht von dort im Mittelmeer ertrinken, sind weder Europäer, noch weiß, noch blauäugig.
Können wir uns damit trösten, dass eben auch wir die Sklaven der Grenzen unserer Emotionen sind? Nein, wir sind auch Vernunftwesen, und zu dieser Art von Abhängigkeit gehört ein Stück freier Entscheidung, die auch anders ausfallen könnte.
Danke Hartwig dafür, dass du diese selektive, rassistische „Willkommenskultur“ so unerträglich klar beschreibst. Nein, wir können uns mit Nichts trösten oder gar beruhigt zurücklehnen. Als Blauäugige hatte ich die Hoffnung, das „wir im Westen“ auch wertegeleitete Frauen und Männer sind, die nicht in „mittelalterliche Zeiten“ zurückfallen wollen – auch wenn ich sehe, das dies immer wieder mal geschieht. Entweder ich glaube an die Richtigkeit von allgemeinen Menschenrechten – für alle Menschen! – dann ist das eine Maxime, nach der ich grundsätzlich meine Möglichkeiten des Denkens und Handels ausrichte oder ich bin Babare/Barbarin. Damit bin ich nicht für alles Leid der Welt zuständig oder gebe immer mein letztes Hemd, aber wenn ein Mensch meinen Weg kreuzt, komme ich nicht daran vorbei, einen Menschen zu sehen. Durch seine/ihre Adern fließt ebenfalls rötliches Blut und seine/ihre Emotionen und Hoffnungen sind meinen nicht nicht selten nicht fremd und haben ein Recht darauf gesehen und beachtet zu werden. Es lebe die Internationale wertegeleitete Solidarität, die soweit reicht, wie die Kräfte reichen – aber niemals Halt macht vor einer anderen Religion, Hautfarbe etc.
Eine Blauäugige