Kyrill, der Patriarch an Putins Seite
Vorbemerkung der Redaktion: Am 16. März kam es zwischen Papst Franziskus und dem Moskauer Patriarchen Kyrill zu einem Videogespräch. Außer dass er „theologisch“ gewesen sei, wurde über seinen Inhalt wenig bekannt, aber man kann wohl vermuten, dass es ergebnislos blieb. Dafür spricht der Kontext: Wenige Tage zuvor – am 6. und 10. März – hatte Kyrill in zwei Predigten in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale noch einmal dargelegt, warum er bedingungslos hinter Putins Aggression gegen die Ukraine steht, und sich fast gleichzeitig auch einer Bitte des Ökumenischen Rats der Kirchen um Vermittlung in diesem Konflikt entzogen. Denn Kyrill hatte schon 2013 eine Offenbarung: Die Legalisierung der Homo-Ehe in westlichen Staaten sei nicht nur ein Indiz für den Prozess der „Selbstzerstörung“, der in ihnen stattfinde, sondern auch für den „bevorstehenden Weltuntergang“ (Deutsch-russische Nachrichten, 23. 7. 2013). Diesen Faden griff er am 6. März wieder auf, wobei ihm besonders die Gay-Pride-Paraden ein Dorn im Auge sind. Nachdem sie das höchste Moskauer Gericht bereits 2012 in der russischen Hauptstadt „für die nächsten 100 Jahre“ verboten hatte (2012 erklärte Kyrill Putin zu einem „Wunder Gottes“), musste er erleben, wie sie in Kiew immer mehr Zulauf bekamen: Nach Schätzung der dortigen Polizei nahmen 2019 etwa 8000 Menschen an ihr teil. Laut einer Pressemitteilung des Moskauer Patriarchats verkündete Kyrill seiner Gemeinde am 6. März, dass diese Paraden zu einem „Loyalitätstest“ dafür geworden seien, „auf welcher Seite man steht“: „Wenn die Menschheit meint, dass die Sünde keine Verletzung des Gesetz Gottes ist, wenn sie meint, dass die Sünde eine für das menschliche Verhalten mögliche Option ist“, dann sei „das Ende der menschlichen Zivilisation“ gekommen. Schlimmer noch: Im Donbas werde versucht, die Menschen, die sich gegen diese Sünde wehren, „mit Gewalt zu unterdrücken“, sie also „dort mit Gewalt zur Negation Gottes und seiner Wahrheit zu zwingen“. Deshalb habe das, was in der Ukraine geschehe (Kyrill vermeidet hier, ganz auf Putins Linie, das Wort „Krieg“), „nicht nur politische Bedeutung, sondern es handelt sich um viel mehr: Es geht um die Rettung der Menschheit, um das Ende der Humanität“. Worum der „wahre Krieg“ geführt werde (hier darf von „Krieg“ geredet werden), habe deshalb „spirituelle Bedeutung… Wir befinden uns jetzt in einem Kampf, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat“.
Es charakterisiert die Kriegspropaganda Putins, dass er immer erst der Gegenseite unterstellt, was er dann selbst in reales militärisches Handeln umsetzt – weshalb in Kiew alle Alarmglocken läuteten, als Putin plötzlich behauptete, in der Ukraine auf chemische Waffen gestoßen zu sein. Die kreative Leistung Kyrills besteht darin, dass er seine Kopie der Putinschen Methode „spirituell“ überhöht: Indem er die Legende erfindet, dass dort die rechtgläubigen Christen mit Gewalt zur „Sünde“ (die für ihn sogar eine „Todsünde“ ist) gezwungen würden, erklärt er eine mörderische Aggression zu einem „metaphysischen“ Kampf zwischen Gut und Böse, in dem es um das Schicksal der gesamten Menschheit geht und die russische Seite natürlich das Gute verkörpert.
Es liegt vermutlich an der Nähe zum Vatikan, dass in Italien die Vorgänge in den orthodoxen Kirchen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Der Beitrag, den wir im Folgenden fast ungekürzt übersetzen, stand am 16. März in der „Repubblica“, unter dem Titel „Una Chiesa al bivio. Putin divide gli ortodossi“. Sein Autor ist Stefano Pontecorvo, der lange im diplomatischen Dienst Italiens tätig war, unter anderem als stellvertretender Botschafter in Moskau.
„Kirche am Scheideweg – Putin spaltet die Orthodoxen
In dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat sich eine weitere Problemfront gebildet, die den inneren Konsens zu unterminieren droht, auf dem noch die Unterstützung der Mehrheit der Russen für den Konflikt beruht. Die Aggression gegen die Ukraine spaltet im wahrsten Sinn die orthodoxe Kirche und ihre weltweit 260 Millionen Gläubigen, von denen die Hälfte in Russland und in der Ukraine lebt. Sie isoliert die russisch-orthodoxe Kirche, deren Patriarch Kyrill der unverbrüchliche Bündnispartner des Kreml-Bewohners ist, mit dem er die Vision eines „Russkiy Mir“ („Russische Welt“) teilt, welche die spirituelle Einheit der Orthodoxen mit der territorialen Expansion in die einstigen russischen Gebiete vereint. Was für Putin ein Krieg der politischen Restauration ist, ist für Kyrill ein Kreuzzug zur Rettung der orthodoxen Werte und der Einheit der Gläubigen. Seit dem Konfliktbeginn ist Kyrill – wohl zum ersten Mal in der Geschichte der russischen Kirche – harter Kritik ausgesetzt, seitens anderer orthodoxer Konfessionen wie auch seitens seiner eigenen Kirche. Davon zeugte der offene Brief…, der vor wenigen Tagen erschien und von 350 russisch-orthodoxen Geistlichen unterschrieben war. Er fordert das „sofortige Ende des Bruderkriegs“, „und einen sofortigen Prozess der Wiederversöhnung“, und beklagt das „unverdiente Leiden, dem unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine ausgesetzt sind“, wie den „Abgrund, den nun unsere Kinder und Enkel wieder zuschütten müssen, um untereinander zu Freundschaft, Respekt und Liebe zurückkehren zu können“.
Gegenüber den etwa 35000 Geistlichen und Diakonen der russisch-orthodoxen Kirche ist die Anzahl der Unterzeichner niedrig, aber sie bilden die Vorhut einer wachsenden Unruhe, die sich in einer bisher eisern zusammenhaltenden und disziplinierten Orthodoxie ausbreitet. Dies gilt besonders für die russische Orthodoxie, die wegen der unkritischen Unterstützung Kyrills für seinen Verbündeten Putin schon jetzt Verluste erleidet. Die wichtige russisch-orthodoxe Gemeinde in Amsterdam hat sich dieser Tage von dem Moskauer Patriarchat losgesagt, um sich in der komplizierten orthodoxen Galaxie einem anderen Patriarchat anzuschließen, und in den nächsten Tagen werden gegenüber Kyrill und seiner Kirche weitere Abspaltungen und Distanzierungen erwartet. Es sind alles Russen und Orthodoxe, die sich von seinem Patriarchat abwenden, eine schmerzhafte Entwicklung für eine nationalistische Kirche, die sich verstärken und vereinen möchte, aber nun erlebt, wie ihre dafür im letzten Jahrzehnt unternommenen Anstrengungen wegen ihrer Unterstützung des Krieges wieder zunichte werden, was innerhalb der russisch-orthodoxen Hierarchie mehr als eine Frage aufwirft. Dass das Moskauer Patriarchat ein enger Verbündeter des Kreml und der russischen Geheimdienste ist, ist nichts Neues, so war es immer, schon zu sowjetischen Zeiten, in denen man erzählte, dass der Platz rechts neben Juri Andropov, dem damaligen KGB-Chef, dem Patriarchen Pitirim zukam. Im Übrigen ist die Nähe zur gerade herrschenden Macht eines der Charakteristika eines großen Teils der autokephalen und faktisch unabhängigen orthodoxen Kirchen der ehemaligen Sowjetunion.
Die Trennung von Moskau, zu der es im Oktober 2018 innerhalb der ukrainischen orthodoxen Kirche nach dreihundertjähriger Unterwerfung kam, hat nach Meinung von Beobachtern … in der orthodoxen Welt die größte Krise des letzten Jahrtausends ausgelöst. Zu ihr kam es nicht aus religiösen, sondern politischen Gründen, und sie zerschnitt das spirituelle Band zwischen den beiden Ländern, um die politische Unabhängigkeit Kiews von Moskau zu stärken. Das konnte Kyrill nicht hinnehmen, der damit die Kontrolle über die heiligsten Orte der russischen Orthodoxie verlor, die einst in Kiew entstanden war. Kyrill verlor damit auch die Führung über etwa 7000 ukrainische Gemeinden, die sich der neu gebildeten Ukrainischen Orthodoxen Kirche anschlossen, deren Unabhängigkeit vom Patriarchen von Konstantinopel anerkannt wurde, dem spirituellen Führer der christlichen Orthodoxie und der einzigen hier anerkannten Autorität. Dem Moskauer Patriarchat, welche diese Trennung niemals anerkannte, verblieben nur 12000 ukrainische Gemeinden, die in der „Ukrainischen Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats“ zusammengefasst wurden, die sich jetzt aber ebenfalls entschieden von Kyrill distanziert haben, indem sie offen den Krieg und die Invasion verurteilen (alles Begriffe, die der Moskauer Patriarch nicht verwendet). Es soll hier außerdem neue Überlegungen über die zukünftige Beziehung zum Moskauer Patriarchat geben – eine Entwicklung, die weder der Patriarch noch Putin vorhergesehen haben. Eine weitere Entfremdung oder drastische Entscheidungen würden in der russischen Bevölkerung ein erhebliches Echo auslösen und einen noch längeren Schatten auf den Krieg gegen das „Brudervolk“ werfen.
Im Gesamtkontext der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, könnte das religiöse Unbehagen als weniger wichtig erscheinen. Aber so ist es nicht. Etwa 75 % der russischen Bevölkerung bekennen sich als orthodox, gläubig und praktizierend, und dieser Glaube ist ein integraler Teil der nationalen russischen Identität, die sich auch in dem Unterschied der Werte und religiösen Traditionen gegenüber dem Westen ausdrückt. So ist es auch kein Zufall, dass sich Patriarch Kyrill auf die Verteidigung gegen den Oktroi westlicher Werte beruft – besonders in Bezug auf die „gay pride“-Paraden, die als höchster Ausdruck der Dekadenz christlicher Sitten betrachtet werden –, um sowohl die militärische Aktion von 2014 als auch die Tragödie von heute zu rechtfertigen.
Im Leben der Russen ist die orthodoxe Kirche ein relevanter Faktor mit hohem Prestige, was Putin gut weiß, der seit dem Beginn seines politischen Abenteuers viel in seine Beziehung zu dem russischen Klerus und dessen Patriarchen investierte und sich dafür eine bedingungslose politische Unterstützung einhandelte, die immer noch Gewicht hat.
Mit den Auswirkungen auf die Einheit und Stabilität der russischen Kirche, des Klerus und der Gläubigen untergräbt der Krieg gegen die Ukraine einen der Grundpfeiler der Putinschen Vision des „Russkiy Mir“. Er gefährdet damit nicht nur das Leben der russisch-orthodoxen Kirche, sondern lässt damit auch einen auffälligen und tückischen Riss in der von ihm selbst geschaffenen Konstruktion entstehen.“