Nach Berlin: Selenskyjs Botschaft in Rom
Am vergangenen Dienstag hat der ukrainische Präsident Selenskyj über Video zum italienischen Parlament – in Plenarversammlung von Abgeordnetenkammer und Senat – gesprochen. Anders als einige Tage davor im deutschen Bundestag, wo man nach Selenskyjs Botschaft sofort zu Tagesordnungsfragen und Geburtstagsglückwünschen für Abgeordnete übergegangen war und der Bundeskanzler kein Wort der Erwiderung an den ukrainischen Präsidenten gerichtet hatte, gab es im italienischen Parlament nach Selenskyjs Auftritt eine Antwort von Ministerpräsident Draghi.
In einer – für seine Verhältnisse – emotionalen Rede sicherte Draghi Selenskyj die Solidarität Italiens gegen die russische Aggression zu. Man habe mit den verhängten Sanktionen, Militärhilfen und der Aufnahme von Geflüchteten bereits viel getan und man werde noch mehr tun, betonte Draghi, denn die Ukrainer würden „mit ihrem heldenhaften Widerstand“ auch die europäische Freiheit und Demokratie verteidigen. Das war vielleicht nicht ganz das, was Selenskyj gern gehört hätte, aber es war zumindest ein klares Bekenntnis. Zu dem sich Scholz nicht aufraffen konnte.
Doch das war nicht der einzige Unterschied. Wichtiger noch sind die Unterschiede zwischen beiden Ansprachen des ukrainischen Präsidenten, im Inhalt wie im Ton .
Zwei unterschiedliche Ansprachen
Im Bundestag hatte Selenskyj offen die Reaktionen Deutschlands auf die russische Invasion seines Landes als unzureichend und zu zögerlich kritisiert. Trotz der Sanktionen hielten viele deutsche Konzerne nach wie an ihren Verbindungen zu Russland fest, beklagte er, und auf die ukrainische Warnung, die Gasprojekte Nord Stream 1 und 2 seien Schritte zur Kriegsvorbereitung, habe die deutsche Antwort immer nur gelautet: „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft!“. Mit Bezug auf die Berliner Mauer sagte er, es gebe jetzt erneut „eine Mauer, die Sie von uns trennt, und sie wird mit jeder Bombe, die fällt, höher“. Ähnlich wie einst der amerikanische Präsident Reagan an die Adresse Gorbatschows appelliere deswegen auch er: „Herr Bundeskanzler, reißen sie diese Mauer nieder!“. Eindringlich erinnerte Selenskyj an die internationale Verantwortung Deutschlands, das der Führungsrolle gerecht werden müsse, die ihm in Europa zufällt. Bei den Sanktionen wie bei den militärischen Hilfen.
Auch wenn diese harte Kritik der „historischen Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik, die Scholz kurz nach dem Ausbruch des Krieges einläutete, nicht ganz gerecht wird: Die Kritik ist da und die deutsche Regierung muss sich ihr stellen. Umso gravierender, dass es dazu im Bundestag keine Aussprache gab und der Kanzler es nicht für nötig hielt, auf Selenskyj zu reagieren.
Nach dieser Erfahrung in Berlin und den vorhergegangenen Video-Auftritten des ukrainischen Präsidenten in Washington, London und Tel Aviv wurde in Italien im Vorfeld seines Auftritts viel darüber spekuliert, ob bzw. wie stark er auch dort kritische Akzente setzen würde. Denn auch Italien hat aufgrund seiner Abhängigkeit von den russischen Energielieferungen Probleme mit den Sanktionen in diesem Bereich. Und auch Draghi ist, nicht anders als Scholz, strikt gegen ein direktes Eingreifen der Nato bzw. des Westens in das Kriegsgeschehen und folglich auch gegen die von der Ukraine geforderte No Fly-Zone. Erwartet hatte man auch, dass der kluge Kommunikator Selenskyj, der in jedem Land, in dem er auftritt, spezifische historische Parallelen zieht (11. September in den USA, Berliner Mauer in Deutschland …), die Italiener an der „Resistenza“ erinnern würde, dem Partisanenkampf gegen Faschismus und Nazi-Besatzer.
Es kam anders. Zwar schilderte Selenskyj auch in Rom, wie nicht anders zu erwarten, die Brutalität des Krieges und das Leiden für die ukrainische Bevölkerung und forderte eindringlich, die Sanktionen konsequent umzusetzen und die Hilfen auszuweiten. Doch das strittige Thema No-Fly-Zone sprach er nicht an, wie er eine direkte Kritik an Italiens Vorgehen vermied. An die Italiener richtete er angesichts der Tragödie von Mariupol lediglich den Appell, sie sollten versuchen, sich vorzustellen, ihre schöne Hafenstadt Genua (die mit Mariupol eine Städtepartnerschaft verbindet) läge in Schutt und Asche, ihre Menschen müssten fliehen oder ohne Wasser, Strom und Nahrung in Bunkern ausharren. Ansonsten fand er vor allem – statt Vorwürfen – immer wieder warmherzige Worte des Danks für die Solidarität und Unterstützung durch das italienische Volk, nicht zuletzt bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Während seiner Ansprache ging Selenskyj auch auf sein Telefonat mit Papst Franziskus kurz vor seiner Videobotschaft ein. Das Auftreten des Papstes gegen den Aggressionskrieg sei für ihn und sein Volk sehr wichtig, er hoffe auf eine Vermittlerrolle des Papstes in dem Konflikt.
Beschämend: 300 Parlamentarier bleiben der Ansprache fern
Insgesamt eine eindringliche, aber von freundschaftlichen Gefühlen geprägte Rede, was man von seiner Rede im deutschen Bundestag wahrhaftig nicht sagen kann. Es drängt sich die Frage auf, was der Grund für diesen – sicherlich nicht zufälligen – Unterschied ist.
Eine zumindest partielle Antwort könnte paradoxerweise darin bestehen, dass Selenskyj weiß, wie hoch in der politischen Landschaft und auch in der Bevölkerung Italiens die Zahl der „Putin-Versteher“ ist. Auch hier ist sie minoritär, aber höher als in anderen westlichen Ländern. Möglicherweise hat er gerade deswegen seine Botschaft in einem Tenor gehalten, der eher auf das Gewinnen von Akzeptanz und Empathie ausgerichtet war. Eine „vertrauensbildende Maßnahme“ anstelle harter Vorwürfe. Lob für das bereits Geleistete statt Rügen für das Unterlassene.
Umso beschämender, dass ein Drittel der Senatoren und Abgeordneten es nicht für nötig hielt, sich die Worte des Präsidenten überhaupt anzuhören: 300 Parlamentarier blieben der Ansprache fern, darunter vor allem Vertreter der Lega (nicht allerdings Salvini) sowie ehemalige und noch dazugehörende „Grillini“. Auch wenn ein paar der Abwesenden wegen Krankheit oder Auslandsreisen tatsächlich verhindert waren, bleibt die Quote der Verweigerer hoch und sagt viel aus über deren – mehr oder weniger offene – Sympathien für Putins Regime.
Laut Umfrageergebnissen findet sich diese Nähe zu Putins Russland auch in einem Teil der Bevölkerung wieder. Zwar sieht eine deutliche Mehrheit (63%) der Befragten im Krieg eine von Putin verursachte Aggression, aber immerhin 26% meinen, Russland habe sich mit der Invasion lediglich „gegen die Nato-Osterweiterung verteidigt“ und seine „berechtigten Interessen geschützt“. Auf die Frage, wie Italien auf den Konflikt reagieren soll, sagen 69%, man müsse in erster Linie das Gespräch mit Russland suchen, und eine – allerdings knappe – Mehrheit von 55% ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Draghi muss mit Spannungen in der Regierungskoalition fertig werden
Auffällig ist, dass der neue Leader der 5Sterne Conte – der wegen der Uneinigkeit seiner Partei und einer anstehenden Online-Abstimmung, ob er in seinem Amt bestätigt werden soll, unter Druck steht – immer offener gegenüber Draghi und seinem Kurs auf Distanz geht. Insbesondere kritisiert er, noch direkter als Salvini, die geplante Entscheidung zur Aufstockung des Verteidigungshaushalts auf 2% des BIP. Er kündigte an, die 5SB werde im Parlament dagegen stimmen und forderte, die Ressourcen stattdessen zur Entlastung von Unternehmern und Familien zu nutzen, die mit höheren Energiekosten und der steigenden Inflation zu kämpfen haben.
Maßnahmen, welche die Regierung eigentlich bereits eingeleitet hat: von der Reduzierung der Verbrauchssteuer für Benzin und Diesel um 25 Cent (finanziert u.a. durch den „einmalige Einzug von Sondergewinnen der Energieunternehmen“) bis zur Entlastung von Familien mit niedrigem Einkommen durch Einfrieren ihrer Strom- und Gasrechnungen auf dem Stand vom vergangenen Sommer, Ratenzahlungen für Unternehmen, gezieltes Vorgehen gegen Preisspekulationen und Hilfen für Landwirtschaft und Fischerei. Insofern dürften Contes Querschüsse vor allem dem Ziel dienen, seine Position innerparteilich zu stärken und sich politisch zu profilieren.
Dass Teile der Regierungskoalition nicht geschlossen hinter ihm stehen, ist natürlich das Letzte, was der Regierungschef in der gegenwärtigen Situation gebrauchen kann. Das mag mit der Grund sein, warum seine Rede im Anschluss an Selenskys Ansprache im Tenor sogar „energischer“ ausfiel als die des ukrainischen Präsidenten. Eine Entschlossenheit, die offensichtlich nicht nur dem Gast, sondern auch den eigenen „Truppen“ demonstriert werden sollte.
Auch Draghi, der vor einem Jahr vom Staatspräsidenten als Krisenmanager gegen die Corona-Pandemie berufen worden war, ist am 24. Februar, mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges, „in einer anderen Welt aufgewacht“, um den Ausdruck der deutschen Außenministerin zu verwenden. Er muss jetzt Italien nicht „nur“ durch die Pandemie, sondern auch durch die schwerste internationale Krise seit dem Ende des zweiten Weltkriegs führen. Spätestens hier zeigt sich, dass er – anders als von manchen anfangs vermutet – kein „Techniker“ ist, sondern ein Politiker. Und zwar einer, der aufgrund seiner internationalen Erfahrungen ohnehin in globalen Kategorien denkt und diese in sein politisches Handeln einbezieht (was bei italienischen Politikern nicht gerade selbstverständlich ist).
Angesichts der internationalen Lage dürfte die Tatsache, dass sein Mandat mit den regulären Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 endet, nicht nur Mattarella große Sorgen bereiten. Schon jetzt stellt der „Übergangscharakter“ seiner Regierung einen Schwachpunkt dar, und Draghi kann nur versuchen, ihn innen- wie außenpolitisch mit der Kraft seiner persönlichen Autorität auszugleichen.