Eine Karfreitagsbotschaft von Franziskus
Als ungläubiger Mensch bin ich nicht der Meinung, dass wir nur deshalb den Geboten der Vernunft folgen sollen, weil sie uns ein Gott auferlegt hat. Und meine Sympathie für Papst Franziskus hindert mich auch nicht an der Feststellung, dass ihn diese Vernunft manchmal verlässt, wenn er sich zum Beispiel über die – ihm offenbar bekannten – Pläne Gottes in Bezug auf die Schwulenehe äußert oder wenn auch er noch die Frauen vom Priesteramt fernhalten will. Und ich hadere auch mit ihm, wenn er zwar die Putinsche Aggression als „Sakrileg“ verurteilt, aber ihn diese Eindeutigkeit verlässt, wenn es um die Frage geht, ob man die ukrainische Gegenwehr auch mit Waffen unterstützen soll.
Das Zeichen der Via Crucis
Aber nun hat er einen Konflikt am Hals, in dem ich mich wieder auf seine Seite schlage, obwohl der Streit – als innerkatholischer Krach – mich eigentlich nichts angeht. Am Karfreitagabend fand in Rom wieder die Via Crucis statt, die feierliche Prozession, die an 14 Stationen des Leidens Jesu vorbeiführt, wobei für jede Station eigentlich eine eigene Meditation vorgesehen ist. In diesem Jahr mit einer Besonderheit: Papst Franziskus entschied, dass bei der 13. Station (Christus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt) eine Russin und eine Ukrainerin gemeinsam das Kreuz tragen sollen. Zur Vorgeschichte gehört, dass sich die beiden dafür vorgesehenen Frauen in einer römischen Universitätsklinik kennengelernt und befreundet hatten, in dem die Ukrainerin Irina als Krankenschwester für Palliativmedizin arbeitet und die Russin Albina einen Kurs für diplomierte Schwestern absolviert. Ihre Freundschaft begann, als Albina nach Kriegsbeginn in die Abteilung für Palliativmedizin kam und sich bei Irina unter Tränen für die russische Aggression zu entschuldigen suchte. „In dem Moment war sie wirklich untröstlich“, berichtet heute Irina, „ich konnte sie nicht beruhigen. Sie fühlte sich schuldig und bat um Verzeihung. Ich antwortete, dass sie doch mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte“. Die beiden kamen zu der Überzeugung, dass sie durch eine symbolische Aktion etwas zur Überwindung des Krieges beitragen könnten, und nahmen den aus dem Vatikan kommenden Vorschlag an, bei der Karfreitagsprozession an der 13. Station gemeinsam das Kreuz zu tragen. Sie formulierten auch den Text einer Meditation, die an dieser Station vorgetragen werden sollte: In Anknüpfung an das biblische „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ wollten sie sagen: „Herr, wo bist du? … Sprich im Schweigen des Todes und der Trennung und lehre uns Frieden zu machen, Brüder und Schwestern zu sein und das wieder aufzubauen, was die Bomben vernichten wollen“.
Die ukrainische Reaktion
Sie war heftig. Das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, der Kiewer Erzbischof Swjatoslav Schewtschuk, übermittelte dem Vatikan „die Empörung der Ukrainer in der ganzen Welt“ über diese „unangebrachte Idee“, die „nicht den Kontext der russischen Aggression gegen die Ukraine berücksichtigt. Für die griechisch-katholischen Gläubigen der Ukraine sind die Texte und Gesten für die 13. Station dieser Via Crucis unverständlich und fast beleidigend, vor allem angesichts des bevorstehenden zweiten, noch blutigeren Angriffs der russischen Truppen auf unsere Städte und Dörfer. Ich weiß, dass auch unsere katholischen Brüder des lateinischen Ritus diese Gedanken und Besorgnisse teilen“. Eine ungewöhnlich undiplomatische Reaktion, die der ukrainische Botschafter beim Vatikan, Andrij Yurash, durch den Twitter ergänzte, er teile die „Besorgnis der Ukraine und vieler anderer Gemeinschaften gegenüber der Idee, das Kreuz gemeinsam von einer Ukrainerin und einer Russin … tragen zu lassen“. Aus der ukrainisch-katholischen Gemeinschaft – die in Italien als „Assoziation“ präsent ist und dort einen eigenen Sender betreibt – kam der Vorschlag, doch einfach die Russin, die das Kreuz trägt, durch eine Polin ersetzen, die das helfende Europa vertritt. Als Franziskus trotzdem an seinem Plan festhielt, weigerte sie sich, die diesjährige Via Crucis über ihren Sender zu übertragen. Mit der Begründung, dass „wir Ukrainer es sind, die gekreuzigt werden“.
Das Ziel Versöhnung
Der Vorschlag, die Russin doch einfach durch eine Polin zu ersetzen, hätte allerdings Francescos Grundgedanken entkernt, denn der zielt auf etwas noch Anspruchsvolleres als die Aufforderung zur Hilfe: auf Versöhnung. Wenn der Kiewer Erzbischof dies in der heutigen Situation „unverständlich und fast beleidigend“ nennt, scheint er darin nur eine billige Aufforderung zum Nun-vertragt-euch-wieder, die Gleichsetzung des Angegriffenen mit dem Angreifer und eine Art vorwegnehmende Generalabsolution für das russische Volk sehen. Die Vorgeschichte spricht für das Gegenteil: Eine Russin, die in einem römische Krankenhaus unter Tränen eine ukrainische Arbeitskollegin um Vergebung für ein Verbrechen bittet, das nicht sie beging, wofür sie sich aber als Russin mitverantwortlich fühlt, weil es im Namen des russischen Volks und somit auch in ihrem Namen geschieht. Für Putins Vernichtungskrieg ist eine solche paradigmatische Versöhnung gefährlich, weil sie seine Legitimation bedroht – nicht umsonst behauptet er, dass das ukrainische Brudervolk in die Hände einer Horde hasserfüllter Nazis gefallen sei, von denen es nun befreit werden müsse.
„Alle Russen sind Feinde“
Während das ukrainische Volk ums Überleben kämpft, ist es leicht, ihrer Regierung aus sicherer Entfernung wohlfeile Ratschläge zu geben. Trotzdem muss die Feststellung erlaubt sein, dass ihre gegenwärtige Öffentlichkeitsarbeit Gefahr läuft, die Fähigkeit zur Unterscheidung zu verlieren. So verweigerte zum Beispiel der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, seine Teilnahme an einem Benefizkonzert der Berliner Philharmoniker, weil an ihm auch russische Musiker teilnehmen wollten – und weil „im Moment für die Ukraine alle Russen Feinde sind“. Denn nicht Putin sei es gewesen, „der die Menschen in Butscha ermordet hat. Das waren konkrete Menschen aus verschiedenen Regionen Russlands. Sie haben ihre Verwandten, sie telefonieren nach Hause, sie plündern Häuser“. Melnyk hat Recht, wenn er sich dagegen wehrt, die Aggression gegen die Ukraine nur „Putins Krieg“ zu nennen. Die Nachricht, dass die Mehrheit der Russen gegenwärtig hinter ihm steht, ist wohl ernst zu nehmen, zumal sie von ihrer Führung systematisch desinformiert wird – wozu allerdings auch die Bereitschaft gehört, sich desinformieren zu lassen. So wie die Untaten der Nazis und der Faschisten im zweiten Weltkrieg nicht nur von Hitler und Mussolini verübt wurden, sondern dabei auch jahrzehntelang von der großen Mehrheit unserer Eltern und Großeltern – durch Mitmachen oder Wegschauen – unterstützt wurden. Allerdings traf dies gerade nicht auf die russischen Musiker zu, denen Melnyk bei dem deutschen Benefiz-Konzert aus dem Weg gehen wollte, ebenso wenig wie auf die russische Krankenschwester, die Karfreitag in Rom mit ihrer ukrainischen Freundin das Kreuz trug. Und auch in Russland gibt es eine Opposition meist junger Leute, die trotz des erheblichen persönlichen Risikos, das sie damit eingehen, ihre Stimme gegen Putins verbrecherischen Kurs erheben. Sie zu „Feinden der Ukraine“ zu erklären, nur weil sie Russen sind, ist weder gerecht noch vernünftig, zumal es die soziale Isolierung, in die sie ja gerade auch das Putin-Regime zu drängen sucht, weiter verstärkt.
Eine Hoffnung
In einem Punkt hat Franziskus allerdings dem äußeren Druck nachgegeben: Er gab im letzten Moment die Idee auf, dass während des Aufenthalts vor der 13. Station die von den beiden Frauen gemeinsam geschriebene Meditation vorgetragen wurde – stattdessen wurde nun gemeinsam geschwiegen. Aber an seinem Plan, am Karfreitag bei der Via Crucis das Kreuz ein Stück des Weges von den ukrainischen und der russischen Frau gemeinsam tragen zu lassen, hat er trotz aller Anfeindungen festgehalten. Weil er darin ein starkes Zeichen für das sieht, was am Ende des Krieges stehen muss, wenn eine wirkliche Befriedung erreicht werden soll: eine auch von den einzelnen Menschen getragene Versöhnung derer, die in diesem Konflikt aufeinander gehetzt wurden. Die darin steckende Hoffnung ist gegenwärtig leider noch subversiv. Aber sie ist auch vernünftig.