“Das russische Heer wird erst an der Grenze zu Polen Halt machen”
Um abzuschätzen, mit welchem weiteren Einsatz von Menschen, Zeit und Zerstörung noch im Ukraine-Krieg zu rechnen ist, muss man eine begründete Ahnung haben, welches Kriegsziel eigentlich Russland verfolgt. Putin und Lavrov tun wenig, um auf diese Frage eine klare Antwort zu geben. Zunächst zündeten sie stattdessen Nebelkerzen, etwa als sie behaupteten, dass es die Ukraine war, die Russland oder die in der Ukraine lebende russische Minderheit angriff, oder – was jetzt immer mehr in den Vordergrund rückt, siehe Putins Rede am 9. Mai – dass der gesamte Westen die Auslöschung Russlands beschlossen habe. Und dass es auf jeden Fall Russland sei, das sich in diesem Krieg verteidigen müsse.
Da kann es nützlich sein. auch jemandem aus der zweiten Reihe der Kreml-Hierarchie zu Wort kommen zu lassen. Das heißt jemanden, der der Zentrale nah genug steht, um nicht ganz uninformiert zu sein, aber auch entfernt genug, um Interviewer nicht sofort mit einer Propaganda abzuspeisen, an die er selbst nicht glaubt. Das Gespräch, das die „Repubblica“ am 4. Mai veröffentlichte und dessen italienische Fassung wir im Folgenden übersetzen, führte die JournalistinRosalba Castelletti mit Pjotr Olegowitsch Tolstoi, einem Urenkel Leo Tolstois. Er ist Vizepräsident der russischen Duma und war bis zum Ausscheiden Russlands aus dem Europarat (2020) einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
Das Interview
Pjotr Olegowitsch, wann werdet ihr die Operation für beendet erklären?
„Wenn die Ukraine völlig entnazifiziert und entmilitarisiert ist, d. h. keine miltärische Gefahr mehr für die russische Föderation darstellt, und es auch nicht mehr möglich sein wird, sie in ein Anti-Russland zu verwandeln, wie es der Westen in den letzten 30 Jahren versuchte“.
Was meinen Sie mit entnazifizieren?…
„Wir meinen das Verbot, Nazis wie Stepan Bandera oder Roman Shukhevych zu heroisieren. Ihr werdet gesehen haben, dass fast alle Soldaten der nationalistischen ukrainischen Bataillone, die sich ergeben, Tätowierungen mit dem Hakenkreuz und den Streifen der SS haben. Das kann nicht in einem Land zulässig sein, das den Zweiten Weltkrieg gewann“.
Aber wir reden hier von einer Minderheit. In einem Land mit einem jüdischen Präsidenten. Esist, als wenn man Italien angreift, weil es hier noch ein paar Nostalgiker des Faschismus gibt …
„Nachdem es den Zweiten Weltkrieg verloren hatte, hat Italien wie Deutschland auf den Faschismus verzichtet und seine Ideologie verboten. In der Ukraine gibt es einen besonderen Nazismus. Die Tatsache, dass es dort einen jüdischen Präsidenten und einen niedrigen Anteil von Nationalisten gibt, hat nichts zu sagen. Der ukrainische Nationalismus ist eine menschenfeindliche Ideologie, die auf dem Hass gegen Russland gründet.
Die internationale Gemeinschaft hat der unabhängigen Ukraine eine einzige Aufgabe zugewiesen: ein Gegengewicht zu Russland zu bilden. Nicht alle verstehen, dass der Hass auf Russland die einzige ideologische Basis für die Existenz eines ukrainischen Staates ist“.
Aber sagen Sie nicht selbst, dass Russland und die Ukraine Brudervölker sind?
„Sicher, angesichts ihrer Geschichte und ihrer Geografie sind beide Völker dazu bestimmt, zusammen zu sein. Anders kann es gar nicht sein“.
Was ist also das reale Ziel? Der Donbass oder die gesamte Ukraine?
„Russland hat die Truppen mobilisiert, über die es in Friedenszeiten verfügt. Wir haben keine allgemeine Mobilmachung wie die Ukraine verkündet. Deshalb gehen wir schrittweise vor. Trotz der europäischen Hilfen und der Hysterie von Boris Johnson und Mario Draghi werden wir die Operation beenden, wenn wir es für opportun halten. Ich denke, dass wir an der Grenze zu Polen Halt machen werden“.
Ihr werdet dort Halt machen? Ex-Premier Dmitrij Medvedev hat einen sehr harten Post gegen Polen geschrieben …
„Polen erfüllt einen anderen Zweck: In unserem Auftrag die UE von innen her zu desintegrieren (lacht). Aber Scherz beiseite, Deutschland, Italien und der größte Teil der osteuropäischen Länder sind verwundbar, seitdem sie den Wirtschaftskrieg gegen Russland begannen. Das Steigen der Gaspreise kann die Mittelschicht und die Wählerbasis der westlichen Regierungen zerstören. Die UE könnte das gleiche Schicksal wie die UdSSR haben“.
Auch die russische Ökonomie hat einen schweren Rückschlag erlitten …
„Natürlich. Sie ist in Schwierigkeiten und wird weitere haben. Wir haben uns zu sehr auf unsere westlichen Partner verlassen. Wir dachten, dass es bestimmte unantastbare Regeln gibt. Stattdessen hat sie der Westen mit Füßen getreten und unsere Reserven eingefroren. Aber es gibt etwas, was der Westen nicht kapiert. Die wichtigste Eigenschaft des russischen Menschen ist nicht der Konsumismus. Wenn es um das Überleben des Landes geht, wenn es gegen die Aggression des gesamten westlichen Bündnisses verteidigt werden muss, dann sind für ihn Preiserhöhungen um ein paar Rubel keine Tragödie. Dann verschanzt er sich. Und geht nicht auf die Straße“.
Bis vor Kurzem führten Sie die russischen Delegationen bei den parlamentarischen Versammlungen der OECD und des Europarats. Heute ist Russland zu einem Paria-Land geworden. War es das wert, diesen Preis zu zahlen?
„Ich versichere Ihnen, dass wir auch einen zehnmal höheren Preis zahlen würden. Warum? Weil dieser Versuch, Russland auszulöschen, scheitern wird. Weil Russland das größte Land der Welt bleibt. Weil unsere Kultur, Kunst, Literatur, unser Sport nicht auszulöschen sind, trotz der westlichen Hysterie. Man redet von Isolierung, obwohl zwei Drittel der Bevölkerung dieses Planeten zu Russland stehen. Diese Krise wird das Ende der Vorherrschaft der westlichen Ideologie bringen. Verhängt ruhig noch mehr Sanktionen gegen uns – am Ende werdet ihr es sein, die dafür zahlen müssen.“
Und doch habt ihr gesagt, dass ihr weniger Waffen in der Ukraine wollt, und jetzt kommt ein ganzer Strom. Dass ihr weniger Nato an euren Grenzen wollt, und jetzt wollen sogar Finnland und Schweden den Beitritt zur Allianz. Wie werdet ihr auf die mögliche Erweiterung reagieren?
„Das macht uns keine Sorgen. Die vom Westen kommenden Waffen werden wir bombardieren, bevor sie das ukrainische Militär erreichen. Wenn Finnland und Schweden beitreten, werden sie unsere Atomraketen an ihren Grenzen haben. Wollen sie es so haben? Unser Problem wird es nicht sein“.
Der belgische Abgeordnete Georges Dallemand hat Ihnen vorgeworfen, den Namen Ihres Ururgroßvaters und großen russischen Schriftstellers zu entehren. Der heute, wie Ihre Verwandte Marta Albertini meint, entsetzt wäre, da er den Krimkrieg und die Belagerung von Sebastopol miterlebt hatte. Was antworten Sie darauf?
„Lev Nikolajevitsch Tolstoj war Offizier des russischen Militärs. Er tötete auf der Krim, auf der russischen Krim Engländer und Franzosen. Wenn das Schicksal unseres Landes auf dem Spiel steht, ist es unsere einzige Sorge, zu unserem Land zu stehen. Ich sehe keinerlei Widerspruch zu dem Erbe von Leo Tolstoi. Wir wünschen uns natürlich alle, dass die Feindseligkeiten so bald wie möglich enden, aber das macht es nicht weniger notwendig, das Regime, zu dem es in der Ukraine gekommen ist, zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Das trotz aller Versuche des Westens nie wiederkehren wird.“
Kommentar der Redaktion
Bemerkenswert an dem Interview ist zunächst, dass das Narrativ vom angegriffenen Russland in Tolstois Antworten nur insofern eine Rolle spielt, als die Ukrainer anti-russisch gesonnen seien: Sie hätten die „menschenfeindliche Ideologie“, Russland zu „hassen“, was im Übrigen die „einzige ideologische Basis für die Existenz eines ukrainischen Staates“ sei, da es ansonsten beiden Völkern bestimmt sei, „zusammen zu sein“. Zu dieser falschen Gesinnung tragen zwei Akteure bei: Erstens den „Westen“, der die Ukraine zu einer Art Vorposten für den Versuch mache, um Russland, das „größte Land der Welt“, mit seiner gesamten Kultur „auszulöschen“. Und zweitens die „Nazis“, in denen Tolstoi eine Art ukrainischer Seuche sieht, die das Land mit anti-russischer Agitation überziehen und damit den russischen Truppen aufzwingen, das Land erst einmal entnazifizieren und entmilitarisieren zu müssen (wozu der ukrainische Politologe Schwechowzow in der ZEIT vom 5. 5. 22 anmerkt, dass der Rechtsextremismus heute in der Ukraine eine geringere Rolle als in vielen anderen europäischen Ländern spielt). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Tolstois Bemerkung zu der angeblichen Heroisierung ehemaliger Nazifreunde wie Bandera und zur Tätowierungen „fast“ aller ukrainischer Bataillone: Das müsse in einem Land „unzulässig“ sein, das den Zweiten Weltkrieg gewann – was heißt, dass die russischen Truppen durch ihr heutiges Eingreifen ein Recht exekutieren, das durch den Sieg der SU im Zweiten Weltkrieg legitimiert sei und ihnen jetzt als Nachfolger der SU zufalle. Ein Recht, das offenbar höher steht als jedes Völkerrecht.
Was folgt für das russische Kriegsziel? Auf jeden Fall beschränkt es sich nicht nur auf den Donbass und die kleinen russophonen Republiken im ukrainischen Südosten, sondern zielt auf die – schrittweise – „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ der gesamten Ukraine. Worin der Keim für mehr steckt: Wenn der Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg dem heutigen Nachfolgestaat Russland das Recht gibt, „präventiv“ (von der „Prävention“ sprach Putin am 9. Mai) gegen alle vorzugehen, die sich auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR durch „antirussische“ Gefühle als „Nazis“ qualifizieren, stellt sich schon die Frage, wo dies enden soll. Die darauf von Pjotr Tolstoi gegebenen Antworten bieten Spielraum für Interpretation: Zum einen „werden wir an der Grenze zu Polen Halt machen“ – was die Frage aufwirft, warum eigentlich hier und was aus den anderen osteuropäischen Staaten werden soll, die einst zum Machtbereich der UdSSR gehörten. Die andere Antwort geht noch einen großen Schritt weiter: „Die Krise wird das Ende der Vorherrschaft der westlichen Ideologie bringen“. Womit Tolstoi wohl meint: die liberale Demokratie überhaupt.
Das Interview mit Tolstoi dokumentiert ein imperiales Denken, in dem das Recht eines einzelnen Landes auf souveräne Selbstbestimmung keine Rolle mehr spielt. Als erstes wird die Ukraine heim ins Reich geholt. Dann sehen wir weiter.
Können diese Aussagen ernst gemeint sein – oder ist das Satire? Für mich klingt das so, als ob sich da Einer durch die gesteigerte Absurdität seiner scheinbar zustimmenden Begründungen verzweifelt-hilflos über Putin und dessen Kriegspropaganda lustig macht. So etwa, wie russische Kriegsgegner mit weißem Papier protestieren.
Wörtlich genommen hieße das ja, dass Russland mit seinem Überfall auf die Ukraine erst den Hass der Ukrainer erzeugt hat, den es als als Kriegsgrund brauchte.
Mich erinnert das leider stark an den einstigen antikommunistischen Spruch: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein.“