Der italienische Antiamerikanismus
Der Ukraine-Konflikt bringt zwei Besonderheiten Italiens ans Licht: die Beziehungen zu den USA und zu Russland. Im Folgenden geht es um die besondere Beziehung zu den USA.
„Italien ist der Sklave Amerikas“, dekretiert unser römischer Freund C., wie andere konstatieren, dass zwei und zwei vier sind. Und entschlüsselt mit dieser Erkenntnis fast alles, was auf der politischen Tagesordnung steht: den Ukraine-Krieg, die Frage der militärischen Hilfe, die Erhöhung des italienischen Verteidigungshaushalts, das Verhältnis zur Nato und sogar zum eigenen Ministerpräsidenten (der für C. ein „Atlantiker“ ist). C. gehört zu den über 60 %, die das Land im europäischen ISPI -Vergleich in die exzentrische Ecke der NATO-Gegner und Putin-Versteher positionieren (…). Auch wenn es andere vielleicht indirekter und nuancenreicher sagen: Im Endergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus.
Eine Untersuchung des IPSOS-Instituts kam vor einem Monat zu einem ähnlichen Ergebnis: Zusammen mit Ungarn und Griechenland gehört Italien zu den westeuropäischen Ländern, deren Bevölkerungen am entschiedensten auf die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Russland drängen, und zwar um jeden Preis, wozu die Einstellung weiterer Militärhilfen an die Ukraine gehört. Denn „mit Waffen schafft man nun einmal keinen Frieden“ (Landini, Sekretär des größten italienischen Gewerkschaftsverbandes CGIL).
Die Last der Geschichte
Allein mit der Analyse des Ist-Zustands ist diese 60%-Mehrheit nicht zu erklären. Das Putinsche Russland überfällt ein europäisches Land, was jedem Völkerrecht Hohn spricht – mit einer Begründung, die keineswegs garantiert, dass der russische Aggressionshunger mit der Vereinnahmung der Ukraine gestillt wäre: Die Ukraine müsse „entnazifiziert“ und vom liberalen Bazillus der Schwulenfreundlichkeit befreit werden; die ganze Aktion finde im Rahmen einer endzeitlichen Auseinandersetzung mit dem moralisch verkommenen „Westen“ statt, der endlich in die Schranken gewiesen (so auch Putins Berater Kyrill und Medvedev) werden müsse.
Der Grund dafür, dass die italienische Antwort zweideutig ausfällt, liegt in der Geschichte. Der älteste Vorbehalt gegenüber den USA kam aus der Katholischen Kirche, die sich an den vielen dort aktiven protestantischen Kirchen und Sekten störte. Was jedoch den größten Teil der Millionen von Emigranten, die Italien vor allem ab Beginn des 19. Jahrhunderte verließen, nicht daran hinderte, in den USA an Land zu gehen (doppelt so viele als in Argentinien und Brasilien, von denen vor allem Argentinien bis heute als das „klassische“ Auswanderungsland Italiens gilt). Ein Nachklang dieses Vorbehalts war die Verstimmung, mit der „gewisse Kreise“ des italienischen Katholizismus darauf reagierten, dass der DC-Führer De Gasperi 1949 zum Mitgründer der Nato wurde.
Die USA-Kritik unseres Freundes C. kommt jedoch aus einer anderen kulturellen Ecke. Dass die Nato das Instrument der USA ist, um ihre europäischen Verbündeten zu „versklaven“, weiß er längst – es ist das Narrativ, mit dem eine ganze in die Jahre gekommene Generation der italienischen Linken die eigene Geschichte interpretiert. Zwar kann auch C. nicht leugnen, dass die Amerikaner 1943 das Land vom Faschismus befreiten, als sie es vom Süden her aufrollten, wie ja inzwischen auch die meisten Deutschen lernen mussten, dass es keine „Niederlage“ war, was ihnen im Frühjahr 1945 geschah. Aber im Unterschied zu Deutschland kann Italien (nach zwanzig Jahren Faschismus) eine zweijährige Resistenza vorweisen. Die Linke machte sie prompt zum Gründungsmythos für das neue Nachkriegs-Italien, was die Rolle der Alliierten in den Hintergrund drängte.
Washington regiert in Rom
Dann kam die Zeit des Kalten Krieges, in der sich in Italien zwei große Volksparteien konsolidierten: hier die von der Katholischen Kirche unterstützte Democrazia Cristiana, dort die KPI, die sich weitgehend (wenn auch nicht vollständig) aus der Abhängigkeit von Moskau emanzipierte. Und die in den Köpfen ihrer Anhänger eine Welterklärung verankerte, welche die Kritik am Kapitalismus mit dem Narrativ von den beiden großen Lagern verband, mit den USA als dem imperialistischen Gegenspieler zum Lager des Fortschritts. Ein Narrativ, dass sich in Italien in zwei Richtungen weiter entwickelte: Einerseits die Erfahrung einer amerikanischen Italien-Politik, die der These von der „Versklavung“ durchaus Realitätsbezug gab, indem sich die römischen US-Botschafter hemmungslos in die italienische Politik einmischten (und z. B. durchsetzten, dass die KPI niemals Regierungsverantwortung übernehmen dürfe – ein Tabu, das die italienische Demokratie bis zur Selbstauflösung der KPI im Jahre 1991 belastete). Andererseits wurde die KPI zur „eurokommunistischen“ Partei, welche die liberalen Bürgerrechte und das Recht jeden Landes auf Selbstbestimmung zu verteidigen begann. Außenpolitisch fiel in diese Phase der italienische Beschluss, sich 1949 mit elf anderen Staaten an der Gründung der Nato zu beteiligen, was in Italien selbst auf ein geteiltes Echo stieß, aber schließlich auch von der KPI akzeptiert wurde – eine Bestätigung des Führungsanspruchs der USA. Ein Gegengewicht bildete der acht Jahre später gefasste Beschluss zur Mitgründung der EU.
Die 68er Bewegung
Dann kam die zweite Hälfte der 60er Jahre, in der vor allem Italien von zwei Bewegungen erfasst wurde, welche die versteinerten Verhältnisse des Kalten Krieges zum Tanzen brachten: eine Jugend- und Studentenbewegung, die sich am Vietnamkrieg entzündete und die Legitimation von Bündnissystemen wie der Nato radikal in Frage stellte, und eine syndikalistische Gewerkschaftsbewegung, welche die sozialen Kräfteverhältnisse einen historischen Moment lang auf den Kopf zu stellen schien. Mit Begeisterung sangen wir, die wir damals nach Italien pilgerten, mit den Compagni nicht nur „Bella Ciao“, sondern auch „Buttiamo al mare le basi americane“ (Werfen wir sie ins Meer, die amerikanischen Basen).
Es war eine ganze Generation der italienischen Linken, in deren Unterbewusstsein sich damals der Antiamerikanismus sedimentierte. In Italien überdauerte er auch das Ende des Vietnamkriegs, zumal ihm die kriminelle Tölpelhaftigkeit späterer internationaler US-Strafaktionen immer wieder neue Nahrung gab: die Kriege gegen Saddam Hussein im Irak und die Taliban in Afghanistan, und insbesondere für Italien die Hauruck-Aktion gegen Gaddafi in Libyen, unter deren katastrophalen Konsequenzen nicht nur Libyen, sondern auch Italien noch heute leidet.
Die Spur dieses Antiamerikanismus reicht bis heute, d. h. bis zur italienischen Antwort auf den Ukraine-Krieg. Am offensten bedienen ihn die beiden populistischen Parteien Lega und 5-Sterne-Bewegung, pazifistisch verkleidet in die Ablehnung weiterer Waffenhilfe an die Ukraine, obwohl diese immer erkennbarer um ihr Überleben kämpft, und in das Nein zu einer Erhöhung des italienischen Verteidigungshaushalts, die im Nato-Rahmen stattfinden soll. Auch Enrico Letta, der Generalsekretär der sozialdemokratischen PD, vermeidet es tunlichst, sich vorbehaltslos hinter die Nato und die USA zu stellen, da er durchaus weiß, dass er hier nicht nur mit dem Widerstand traditioneller Bündnispartner wie der CGIL und dem Partisanenverband ANPI zu tun bekommt, sondern auch mit Teilen der eigenen Partei.
Der europäische Ausweg
Lettas Ausweg besteht darin, als Ausgleich für seine „atlantische“ Zurückhaltung einen betonten Europäismus zu pflegen. Worin man nicht nur einen typischen Politiker-Trick sehen sollte, um einer Auseinandersetzung im eigenen Lager und mit den eigenen Wählern zu entgehen. Die Weisheit dieser Entscheidung besteht darin, damit auch zwei objektive Unsicherheiten zu berücksichtigen: (1) die fehlende Sicherheit, ob die keineswegs identischen Interessenlagen zwischen Europa und den USA in Sachen Ukraine auch in Zukunft ein gemeinsames Handeln ermöglichen, und dass es (2) auch Trump sein könnte, der demnächst wieder im amerikanischen Präsidentensessel sitzt. Die Schwäche des antiamerikanischen Impulses ist seine Negativität, aber so könnte aus ihm ein positiver Funken geschlagen werden.
Das Problem, das ein Teil der italienischen Linken mit dem Ukraine-Konflikt hat, besteht nicht nur in ihrer – historisch erklärbaren – Distanz zu den USA und zur Nato. Der Ukraine-Konflikt bringt auch ihr ungeklärtes Verhältnis zu Putin ans Licht, an dem für sie immer noch ein Stück verklärender Sowjet-Nostalgie hängt. Aus ihrer Kombination entsteht die Wahrnehmungsverzerrung einer Putin-Absolution, die der italienische Psychologe Massimo Recalcati (in der „Repubblica“ vom 31. 5. unter dem Titel „Die sowjetische Verführung“) so zusammenfasst: „Die Vereinigten Staaten und Europa sind gleichermaßen schuld, einen Krieg zu wollen, in dem sie sich mit der nazistischen Ukraine gegen das russische Volk verbünden, das doch nur defensiv auf die militärischen Provokationen der Nato reagiert und dabei auf sein Recht verteidigt, seine Grenzen zu schützen, die ständig von der westlichen Kriegsmaschine bedroht werden“.
Auch die verklärende Nachsicht gegenüber Putin hat ihre Geschichte. Dazu später mehr.