Der Rücktritt
Schafft es die italienische politische Klasse, nun auch ihre letzte große Hoffnung zu Grabe zu tragen, und damit nicht nur Italien, sondern auch die EU ins Schleudern zu bringen? Am Nachmittag des 14. Juli ging Mario Draghi zu Staatspräsident Mattarella, um ihm seinen Rücktritt zu erklären. Der Grund: eine Vertrauensabstimmung, die am gleichen Tag im Senat stattgefunden hatte. Und die von Draghi haushoch gewonnen wurde, aber von ihm trotzdem als Niederlage betrachtet wird, weil sich ihr die Fraktion der 5SB duch Nichtteilnahme entzog. Draghi hatte vorher erklärt, ein solches Ausscheren aus der ihn tragenden Koalition nicht hinnehmen zu können, weil er ihre Geschlossenheit für das weitere Regierungshandeln für unabdingbar hält. „Die Mehrheit der nationalen Einheit existiert nicht mehr. Der Pakt des Vertrauens ist auf der Strecke geblieben“, so sein Resümee.
Grillinische Befindlichkeiten: die Suche nach dem Paukenschlag
Vom „Pakt des Vertrauens“ ist bei der Mehrheit der 5SB-Fraktionen allerdings schon lange nicht mehr viel zu spüren. Seit ihrem 30%-Wahlsieg von 2018, als ihre Bäume in den Himmel wuchsen, erlebt die 5SB nur noch Abstieg: Erst „verriet“ sie Salvini, ihr anfänglicher „Junior“, durch den Bruch der Koalition, nachdem er sie als Durchlauferhitzer benutzt hatte, um auf ihre Kosten seine Lega stark zu machen. Als sie es dann mit der Linken als Koalitionspartner versuchte, wurde sie zum zweiten Mal entmachtet. Diesmal durch eine von Renzi angezettelte Palastintrige, die damit endete, dass Conte durch einen „Supermann“ ersetzt wurde, den Mattarella aus dem Ärmel zauberte. Er machte zwar einige Grillini zu Ministern, aber die Szene beherrschte von nun an er. Einigen M5S-Abgeordneten wie Di Maio brachte die Regierungsnähe zwar Glück, aber ihre Mehrheit erlebte die Ära Draghi zwiespältig: Sie fühlten sich zu Draghis Wasserträgern degradiert. Im Halbschatten, in dem sie fortan agieren mussten, wuchs das Ressentiment.
Die PD versuchte eine Kompensation anzubieten, in Gestalt eines „strategischen“ Bündnisses, in dem die 5SB auf Dauer zum progressiven Lager gehören sollte. Für die PD war dies Angebot alternativlos, da ihr ein potenzieller Partner im Zentrum fehlt und sie sich gegen einen Rechtsblock behaupten muss, dessen Wählerpotenzial doppelt so groß ist wie das eigene. Aber die 5SB war als Protestpartei groß geworden, die sich „weder links noch rechts“ verorten lassen wollte. Ihre weiter sinkenden Umfragewerte bestätigten ihren Funktionären, dass sie in dem Maße an Attraktivität verlieren würde, in dem sie sich auf das von der PD angebotene traditionelle Bündnisschema einlassen würde.
Was die Stimmung weiter eintrübte, nennt Oliver Meiler (in der Süddeutschen vom 16. 7.) die Krankheit „Wahlfieber“: Die Umfragen zeigen schon lange, dass die „Bewegung“ für die Wähler ihren Zauber verloren hat – neun Monate vor der Wahl lautet die Frage nur noch, wie viel sie verlieren wird. Die Mehrheit ihrer Abgeordneten weiß schon jetzt, dass sie nicht mehr wiedergewählt wird – erstens weil eine Parlamentsreform ansteht, nach der sich die Anzahl der Abgeordneten in beiden Kammern um fast die Hälfte vermindert, zweitens weil es in der 5SB die interne Regel gibt, nicht mehr als zwei Legislaturperioden lang Abgeordnete bleiben zu können („Kompetenz“ ist für die Bewegung ein Fremdwort). In den Fraktionsmehrheiten entwickelte sich eine Art Endzeitstimmung: Wir müssen irgendwie zurück zu den Anfängen, und wenn es mit einem Paukenschlag ist, der wieder alle Blicke auf uns richtet, umso besser.
Das Dekret „Aiuti“
Conte, dessen staatsmännische Qualifikation vor allem darin besteht, der Seismograph für solche Gestimmtheiten zu sein, fand dafür das Dekret „Aiuti“ (Hilfen), dessen Abstimmung am vergangenen Donnerstag im Senat anstand. Es ist mit 23 Milliarden € ausgestattet und soll vor allem dazu dienen, den ärmeren Bevölkerungsschichten und den Unternehmen unter die Arme zu greifen, die von den Folgewirkungen der Ukraine-Krise (z. B. Energieverteuerung) besonders betroffen sind. Eigentlich entspricht es ganz der sozialpolitischen Linie der 5SB, die sich schon lange als „Retter der Armen“ zu profilieren sucht, und Draghi, der den Hunger der 5SB nach Beachtung kennt, tat vorher auch alles, um ihre vorantreibende Rolle bei der Entstehung des Gesetzes hervorzuheben.
Da aber die 5SB einiges an dem Dekret auszusetzen hat, verband es Draghi mit der Vertrauensfrage. Am 11. Juli hatte es schon die Abgeordnetenkammer verabschiedet, wobei die 5SB bei der Abstimmung den Kompromiss einging, sich bei der Abstimmung über das Dekret zu enthalten, aber bei der davon getrennt stattfindenden Vertrauensabstimmung geschlossen mit Ja zu stimmen. Eine solche Trennung ist jedoch im Senat aufgrund der dort geltenden Regularien nicht möglich: Wer hier Nein zu einem mit der Vertrauensfrage verbundenen Dekret sagt, sagt Nein zum Vertrauen, und wer hier Ja zum Vertrauen sagen will, muss Ja zum Dekret sagen.
Für Abgeordneten, die ihren Eigensinn zeigen wollen, war das eine Zumutung zu viel, und Conte tat alles, um sie darin zu bestärken. Denn sie fanden drei Haare in der Suppe, die sie zu einer Frage der Identität aufblasen konnten: Zunächst missfiel ihnen, dass die Regierung jetzt schärfer kontrollieren will, wie die staatlichen Hilfsgeldern in zwei sozialpolitischen Bereichen verwendet werden, welche die 5SB als ihr ureigenstes Baby betrachtet: beim sog. „Reddito di Cittadinanza“ („Bürger-Einkommen“) und bei den staatlichen Hilfen für die ökologische Sanierung von Immobilien. Für diese Kontrollen gab es gute Gründe (wir berichteten darüber im letzten Beitrag), aber die 5SB sah in ihnen nur den Versuch zur Demontage der von ihr initiierten sozialpolitischen Errungenschaften.
Die Müllverbrennungsanlage
Vor allem aber nahmen sie Anstoß an einem im „Aiuti“-Dekret enthaltenen Detail: Der römischen Stadtverwaltung soll es endlich ermöglicht werden, angesichts ihres chronischen Müllproblems eine Verbrennungsanlage zu bauen. Dies erinnerte die Grillini an ihre Frühzeit, in der sie noch „grün“ waren und in vielen italienischen Gemeinden Bürgerproteste gegen die Einführung solcher Anlagen organisierten, die damals häufig tatsächlich echte Giftschleudern (Dioxin) waren. Heute hat sich dies Problem relativiert: In Italien gibt es inzwischen 37 Anlagen, vor allem im Norden, die technisch verbessert wurden (verminderter Schadstoff-Ausstoß). Dass die 5SB jetzt die geplante Anlage zum Grund für ihre Ablehnung des gesamten „Aiuti“-Dekrets macht, ist jedoch Heuchelei, denn von ihrer Ex-Bürgermeisterin Raggi müsste sie wissen, dass Rom sein überbordendes Müllproblem längst durch Verbrennung „löst“ – allerdings in anderen Kommunen, die über solche Anlagen verfügen und an die die römische Stadtverwaltung ihr Problem für teures Geld verkauft.
Es ist also nicht die Müllverbrennung, welche die Grillini verhindern wollen, sondern – wenn nicht alles nur ein Vorwand war – der Bau einer solchen Anlage in Rom. Das sei nun einmal die „rote Linie“, die niemand überschreiten dürfe, der nicht die Identität der 5SB in Frage stellen wolle. Dafür sollen nicht nur Millionen von Römern weiterhin in ihrem Müll ersticken, sondern dafür wird auch das Scheitern einer Regierung in Kauf genommen, die nicht nur für Italien eine letzte Chance darstellt.
Ergebnis: Die Senatsfraktion der 5SB verweigerte dem Dekret fast geschlossen seine Zustimmung (durch Enthaltung), wohl wissend, dass sie damit auch der Regierung Draghi ihr Vertrauen entzog. Der Paukenschlag war da.
Atempause bis Mittwoch
Die Folgen sind bekannt: Draghi tat, was er vorher schon angekündigt hatte, und warf sofort das Handtuch. Die Reaktion war ein Sturm des Entsetzens nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Als erster versuchte Mattarella, noch retten, was zu retten ist, indem er den Rücktritt zurückwies und Draghi riet, seine endgültige Entscheidung bis Mittwoch aufzuschieben, um sie erst einmal dem Parlament zu „kommunizieren“. Und damit den Beteiligten eine letzte Chance zu geben, noch einmal alles zu überdenken – auch den 5Sternen, die vielleicht erst jetzt (das ist die Hoffnung) begreifen, was sie angerichtet haben. Die Bürgermeister der größten italienischen Städte (Mailand, Rom, Genua, Turin, Florenz, Venedgig) schrieben einen offenen Brief, in dem sie Draghi zum Bleiben aufforderten, und über tausend Bürgermeister schlossen sich ihnen an. Auf der europäischen und internationalen Bühne folgten Macron, Scholz, von der Leyen und die amerikanische Administration.
Solange die 5SB noch nicht ihre Minister aus der Regierung zurückgezogen hat, ist die letzte Entscheidung noch nicht gefallen. Aber die Aussichten dafür, dass sich das Schlimmste noch vermeiden lässt, sind schlecht. Conte hat inzwischen eine Erklärung herausgebracht, in der sehr viel von „erlittenen Demütigungen“ und „Erpressungen“ und mangelndem „Respekt“ die Rede ist, um dann in ultimativer Form auf die „neun Punkte“ zurückzukommen, auf die er eine „klare Antwort“ erwarte, „sonst sind wir draußen“. Von dem „Vertrauen“, das Draghi als Voraussetzung für die Fortexistenz seiner Regierung sprach, ist das meilenweit entfernt.
Außerdem gibt es noch einen dritten Akteur, der nun seine Stunde für gekommen sieht. Salvini und Berlusconi, die beiden Vertreter des Rechtsblocks, die zu Draghis Koalition gehören, haben sich auf eine Marschrichtung geeinigt, die ebenso effektiv tödlich wie verlogen ist: Sie seien natürlich dafür, dass Draghi im Amt bleibe, aber ohne die 5-Sterne-Bewegung, die sich ja nun endgültig als Koalitionspartner disqualifiziert habe. Die Rechte vermeidet es, sich als Königsmörder zu outen, aber stellt eine Bedingung, von der sie genau weiß, dass sich weder Draghi noch die PD auf sie einlassen werden. Mittwoch werden wir mehr wissen.
Giorgia Meloni, die nicht zu Draghis Koalition gehört, spricht dagegen offen aus, was jetzt die Rechte anstrebt: „Wahlen sofort!“. Ein Forschungsinstitut hat schon mal ausgerechnet, was sie jetzt zu erwarten hätte: einen haushohen Sieg.