Rechte: Krach um Sanktionen
Anfang September fand in dem schönen Städtchen Cernobbio am Comer See das jährliche Meeting des Forums Ambrosetti statt, eine vom gleichnamigen Beratungsunternehmen organisierte internationale Konferenz, die sich mit wirtschafts- und geopolitischen Fragen beschäftigt. An ihr nehmen Politiker, Funktionsträger, Wirtschaftsexperten und Unternehmensvertreter teil.
In diesem Jahr waren am letzten Tag die Leader der Parteien, die bei der Wahl am 25. September antreten, eingeladen, ihre politische Schwerpunkte vorzustellen. Neben Meloni (Fratelli d’ Italia), Letta (Partito Democratico), Tajani (Forza Italia), Conte (5Sterne) und Calenda (Azione/Terzo Polo) trat auch Salvini von der Lega auf. Und sein Auftritt hatte es in sich.
Gleich zu Beginn seines Beitrags kündigte der Lega-Chef an, er werde die von ihm vorbereiteten Punkte beiseite lassen und sich vor allem einem Thema widmen: den Sanktionen gegen Russland und ihren Folgen für Italien. Neun von den zehn Minuten, die ihm zur Verfügung standen, nutzte er, um die schädlichen Auswirkungen der Sanktionen für italienische Verbraucher und Unternehmen zu beklagen. Ein Unternehmer habe ihm geschrieben, dass kein Politiker es wagen würde, diese offen anzuprangern – er aber werde es tun, „egal, ob man mich dafür durch den Fleischwolf dreht“.
„Sanktionen schaden Italien, nicht Russland“
Und legte los: Die Sanktionen würden Russland gar nicht schaden, im Gegenteil. Durch sie sei ein Handelsüberschuss von 140 Milliarden Dollar in die russische Kasse geflossen. Nie sei der Rubel so stark wie jetzt gewesen. „Es sind die Italiener, die die Zeche dafür zahlen, während die Russen daran verdienen.“ Für Italien habe es aber Priorität, die eigenen Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten, dazu sei es nötig „die bisherige Strategie zu überdenken“. Anstelle von Sanktionen müsse man Soforthilfen von mindestens 30 Milliarden Euro für notleidende Italiener bereitstellen. Zum Schluss ruderte er ein wenig zurück und meinte, sollte es dann doch bei den Sanktionen bleiben, müsse die EU, wie im Fall der Corona-Pandemie, wenigstens für einen ausreichenden Schutzschirm gegen die Folgen der Energiekrise sorgen.
Dass die Sanktionen ihr Ziel verfehlen und den sanktionierenden Ländern mehr schaden als dem Aggressor, ist ein ständiges Argument der „Putinversteher“ – nicht nur in Italien, sondern auch in anderen europäischen Ländern, von Orban in Ungarn bis zur AfD (und Teilen der Linken) in Deutschland. Ist es zutreffend?
Was ist an der Behauptung dran?
Internationale Institute und Wirtschaftsexperten kommen anhand wirtschaftlicher Indikatoren zum gegenteiligen Ergebnis. Einem Bericht der Weltbank zufolge wird bis Ende 2022 das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) voraussichtlich um mehr als 11% sinken. Dies wäre der größte Rückgang des BIP seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Janis Kluge, der Russlandexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, stellt für die russische Wirtschaft im Zeitraum von Februar bis Juni 2022 bereits ein Rückgang von 6,5 Prozent fest und prognostiziert für das nächste Jahr, dass sich diese Entwicklung noch verstärkt.
Auch im Handelsbereich zeigen sich bereits Auswirkungen der Sanktionen: Es wird geschätzt, dass im Vergleich zu 2021 die russischen Einfuhren 2022 um 35,2% und die Ausfuhren um 30,9% sinken. Die Inflationsrate wird in diesem Jahr stark (bis zu 22%) ansteigen. Es müsse außerdem berücksichtigt werden, dass einige der verhängten Sanktionen erst mittel- und langfristig wirken. Die wichtigsten Ratingagenturen haben Russland schon vor ein paar Monaten auf „Ramsch-Niveau“ heruntergestuft.
Allerdings, so die Experten, sei die Wirkung der Sanktionen sehr ungleich verteilt. In einigen Sektoren wie der Luftfahrt und der Autoindustrie gehe inzwischen „fast gar nichts mehr“. Aber das Geschäft mit dem Erdöl brummt weiterhin, und auch das wenige Gas, das noch geliefert wird, bringt Russland viel Geld. Doch langfristig könne die russische Wirtschaft die Kooperation mit dem Westen nicht vollständig ersetzen. Russland werde deshalb in den kommenden Jahren deutlich ärmer und technologisch rückständiger werden.
Gewiss sind auch die Länder, die Sanktionen verhängen, von negativen Folgen betroffen. Das ist der Preis, den man bezahlen muss, wenn man sich imperialen Aggressionen stellt. Es ist daher richtig und notwendig, für Bürger und Unternehmen Entlastungspakete zu schnüren, um diese Folgen aufzufangen. Das tun gerade die Regierungen in den meisten EU-Ländern, auch in Italien, obwohl sie gleichzeitig an den Sanktionen gegen Russland – und an den Militärhilfen für die Ukraine – festhalten.
Putins immer massivere Drohungen und Erpressungsversuche mit dem völligen Zudrehen des Gashahns für Europa zeigen gerade, dass er in Bedrängnis geraten ist, ebenso wie seine wütenden Tiraden beim Wirtschaftsforum in Wladiwostok gegen „das Sanktionsfieber des Westens“. Auch militärisch steht der Diktator unter dem Druck der ukrainischen Offensive. Wer jetzt, wie Salvini, für eine Aufhebung der Sanktionen wirbt, arbeitet ihm direkt in die Hände.
Druck auf die Lega steigt
Hinter der Kampagne Salvinis gegen die Sanktionen stehen nicht nur die politischen und finanziellen Bindungen der Lega an den russischen Machthaber. Sie hat auch innenpolitische Gründe.
Denn der Leader der Lega steht auch hier unter enormen Druck. Im Wahlkampf läuft es für ihn nicht gut, seine Partei verliert in den Umfragen weiter an Konsens und seine Wahlkampfauftritte sind – sogar in einstigen Lega-Hochburgen wie der Region Venetien – ein Flop. Geringe Beteiligung und keine Begeisterung. Vorbei die Zeiten, wo die Leute für ein Selfie mit ihrem „Capitano“ Schlange standen, und betagte Damen sich drängten, um ihm die Hände zu küssen.
Besonders bitter: die 5Sterne von Conte sind dabei, die Lega zu überholen, die damit in den Umfragen vom dritten auf den vierten Platz zurückfällt. Je nach Institut wird sie inzwischen zwischen 12% und 10% geschätzt, was im Vergleich zu ihrem Ergebnis bei der Europawahl 2019 (34%) einen Verlust von 22-24 Punkten bedeuten würde.
Um so hektischer versucht Salvini, mit seiner Kampagne gegen die Sanktionen und der Rückkehr zu seinem alten Erfolgsrezept „Prima gli italiani!“ Terrain zurückzugewinnen, offensichtlich ohne Erfolg. Wer davon profitiert, sind Meloni im Norden und Conte im Süden. Zwar tickt Conte in Sache Putins Krieg ähnlich wie Salvini, ist aber schlau genug, dies nicht in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen setzt er in seiner Wahlkampagne fast ausschließlich auf soziale Themen.
Salvinis Bündnispartner widersprechen
Salvinis Dauerplädoyer, man möge die Sanktionen gegen Putin aufheben (oder zumindest aufweichen), nervt seine Bündnispartner zunehmend . Vor allem Meloni, die Chefin von Fratelli d’ Italia, die beim Meeting in Cernobbio unmittelbar vor ihm redete und dabei zu diesem Thema exakt das Gegenteil sagte, das heißt sich klar für Sanktionen und die militärische Unterstützung der Ukraine aussprach. Italien dürfe nicht aus dem westlichen Bündnis ausscheren und sich für Putin als „das schwache Glied in der Kette“ erweisen. Später gefragt, was sie von Salvinis Äußerungen in Cernobbio halte, stellte sie lapidar fest, sie hätte da „eine ganz andere Meinung“.
Auch Tajani, die Nummer 2 von Forza Italia nach Berlusconi, äußerte sich ähnlich, wenn auch weniger drastisch als Meloni (wohl aus Rücksicht auf die Putin-Freundschaft seines Chefs). Die Sanktionen nannte er „unvermeidlich“.
Der Dissens innerhalb des Rechtsbündnisses in einer so wichtigen außenpolitischen Frage ist keine Petitesse. Besonders Meloni weiß, dass die putinfreundlichen Anwandlungen ihres Lega-Partners sogar ihre Chance gefährden könnten, Regierungschefin zu werden.
Solange der Wahlkampf läuft, wird das Rechtsbündnis dennoch halten – das heißt versuchen, die Differenzen in der Außenpolitik herunterzuspielen. Wenn es aber zu einer rechten Regierung kommt, was wahrscheinlich ist, wird dies nicht mehr möglich sein. Sie wird in einer so entscheidenden Frage Farbe bekennen müssen. Worin auch die Möglichkeit steckt, dass nach der Wahl die Karten noch einmal neu gemischt werden.
Spekulationen über Zeit nach der Wahl
Sollte es die Lega nicht schaffen, drittstärkste Partei zu werden, dürfte es für Salvini schwierig werden, in einer von Meloni geführten Regierung eine zentrale Rolle einzunehmen, sprich erneut Innenminister zu werden, zuständig für innere Sicherheit und Migration. Zumal dann auch die innerparteiliche Unzufriedenheit mit ihm offen ausbrechen und seine Führung der Lega in Frage stellen könnte.
Kommentatoren meinen, dass Meloni sogar versucht sein könnte, eine Regierung ganz ohne die Lega zu bilden, und an deren Stelle eine andere, „moderatere“ Partei ins Boot zu holen. Wie den „Terzo Polo“ von Calenda und Renzi, dessen Zustimmungswerte in den Umfragen steigen. Äußerungen in dieser Richtung sowohl von Melonis engem Berater Crosetto als auch von Calenda selbst haben bereits aufhorchen lassen. Melonis Bestreben, sich als zuverlässig und „vernünftig“ darzustellen, könnten auf die Absicht deuten, sich – sollte sie Ministerpräsidentin werden – auch über das Rechtsbündnis hinaus „abzusichern“. Gegebenenfalls auch auf Kosten Salvinis.
Indessen versucht die PD unter Lettas Führung weiterhin den Kurs der Polarisierung zwischen ihr und der Rechten zu verfolgen, unter dem Motto „Entscheide, auf welche Seite du stehst“. Die Aussicht, damit noch einmal den Trend zugunsten der PD zu wenden, sind – leider – gering.