Das Wahlgesetz einer unreifen Demokratie
Vorbemerkung der Redaktion: In zwei Tagen findet in Italien die Wahl statt, deren Ausgang für ganz Europa zur Schicksalsfrage werden kann. Dass sie dem Rechtsblock einen eklatanten Sieg ermöglichen könnte, hat zwei Gründe: Erstens die Unfähigkeit von Mittelinks, aufgrund innerer Gespaltenheit ein Bündnis zustande zu bringen, das dem Rechtsblock auf Augenhöhe entgegentreten kann (ein Versagen, das sich die kaum weniger gespaltene Rechte nicht leistet). Und zweitens ein Wahlgesetz, das im Kern undemokratisch ist, weil es dem einen Grundsatz, dass das Ergebnis die Regierbarkeit ermöglichen soll, allzu viel von dem anderen Grundsatz opfert, dass es auch möglichst repräsentativ sein sollte. Ein Wahlgesetz, das jetzt eigens dafür gemacht scheint, der Rechten eine verfassungsändernde Mehrheit für den von ihr angestrebten Regimewechsel zu bescheren. Das Gesetz wird ‚Rosatellum‘ genannt, weil es ironischerweise von einem Gefolgsmann Renzis namens Ettore Rosato erfunden wurde, als Renzi noch der PD angehörte und italienischer Ministerpräsident war. Da Renzi später auch politisch alles tat, um das Mittelinks-Lager zu spalten, grub er ihm in der Rückschau schon mit diesem Wahlgesetz das Grab.
Der italienische Verfassungsrechtler Gustavo Zagrebelsky hat in der ‚Repubblica‘ (vom 15. 9.) unter der Überschrift ‚Die Unreife der Politik‘ die Punkte zusammenfasst, die aus seiner Sicht gegen das geltende Wahlgesetz sprechen – wir übersetzen den Artikel im Folgenden fast ungekürzt. Eine Kernthese von ihm lautet, dass hier zwei inkompatible Prinzipien miteinander vermengt werde: Direktwahl nach dem Mehrheitsprinzip (gewählt ist der oder die Kandidatin einer Liste, auf den oder die in einem Wahlkreis die relative Mehrheit der Stimmen entfällt), und Verhältniswahl. Wer das deutsche Wahlrecht kennt, wird hier vielleicht einwenden, dass es auch bei ihm zu einer Kombination beider Prinzipien kommt. Dies würde allerdings übersehen, dass es (1) durch sog. ‚Ausgleichsmandate‘ einen Mechanismus fand, der dem Prinzip der (proportionalen) Repräsentativität wieder Geltung verschafft. Und dass (2) in Deutschland jeder Wahlberechtigte über zwei Stimmen verfügt: die Erststimme für den präferierten Direktkandidaten im eigenen Wahlkreis, die zweite Stimme für die präferierte Partei. Ein solches Splitten der eigenen Stimme fehlt in Italien. Zagrebelskys Argumentation konzentriert sich auf die italienische Variante: Es gibt keine Ausgleichsmandate, jeder hat nur eine Stimme. Auf die deutsche Lösung geht er nicht ein.
Gustavo Zagrebelsky (geb. 1943) war von 1995 bis 2004 Richter am italienischen Verfassungsgericht und zeitweise auch dessen Vorsitzender. Als Dozent hält er noch Vorlesungen in den Universitäten von Turin, Neapel und Mailand, und schreibt als freier Mitarbeiter für mehrere italienische Tageszeitungen, u. a. „La Repubblica“ und „La Stampa“.
Hier der Artikel:
„In keiner ‚reifen Demokratie‘ gab bzw. gibt es eine solche Inflation von Wahlgesetzen wie in Italien. Aber ist Italien überhaupt eine reife Demokratie? Wenn Reife die Phase der Stabilität, des Selbstbewusstseins und des Vertrauens ist, die wir in uns tragen und die wir auch anderen einflößen, also der Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit, kann man daran zweifeln. Die Reform des Wahlgesetzes, die manchmal erst kurz vor dem Wahltermin stattfindet und zuweilen erst mit einer Vertrauensabstimmung von denen durchgesetzt wird, die gerade an der Regierung sind und es auch bleiben wollen, sind ein Zeichen von Orientierungslosigkeit oder der Versuch, das Ergebnis zu eigenen Gunsten zu manipulieren. Es ist gerissen, aber kein institutionelles Handeln.
Seit den Volksabstimmungen von 1991 und 1993 gegen das Verhältniswahlrecht hatten wir diverse irrwitzige Wahlsysteme, die wir schon durch ihre Namen lächerlich machten: Mattarellum, Porcellum (‚Schweinegesetz‘, A.R.), Italicum (das schon für verfassungswidrig erklärt wurde, bevor es überhaupt angewandt wurde), Rosatellum…
Paradoxerweise verfolgten alle hier Engagierten stets das Ziel, uns ‚reifen‘ zu lassen: der Bürger als Schiedsrichter, das Zepter dem Gewinner, Demokratie des Wechsels und des Entscheidens, Bipolarismus, Regierbarkeit. Und andere Schlagworte, die alle voller edlen Absichten und technischen Ratschlägen von Experten waren, welche sich mal von dieser oder mal von jener ‚Erfahrung‘ in irgendeinem anderen Land begeistern ließen – von Großbritannien bis San Marino, von Deutschland über Frankreich bis Spanien. Oder die sich daran erfreuten, etwas spezifisch Italienisches erfunden zu haben, um das uns die ganze Welt beneiden müsste.
Und nun, in Erwartung des 25. September, halten wir den Atem an. Nicht, weil die Wahlexperten den Sieg der einen oder anderen Seite vorhersagen, die einem gefallen mag oder nicht – das sind politische Bewertungen. Sondern weil sich die Möglichkeit abzeichnet, dass eine Wahlkoalition, die auf 45% der Stimmen geschätzt wird, bei einer Wahlenthaltung von ebenfalls um 45% (also eine kleine Minderheit von allen) im Parlament eine abnorme Anzahl von Sitzen bekommt, die es ihr erlaubt, alles zu tun, was sie will. Und wenn sie möchte, im Alleingang auch die Verfassung zu ändern.
Zwar sieht das geltende Wahlgesetz – im Unterschied zu dessen Vorgängern – keine ‚Mehrheitsprämie‘ vor, verzerrt aber die Repräsentativität in einem Maß, das alle vorhergehenden Gesetze in den Schatten stellt, die eine solche Prämie noch vorsahen. Dieses Gesetz ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde sogar mit Hilfe von Vertrauensabstimmungen durchgepeitscht. Verständlicherweise sind jetzt diejenigen in Sorge, die das Gesetz geerbt haben und ein demokratisches Desaster abwenden möchten. Weniger verständlich ist es, wenn diese Sorge auch von denjenigen geäußert wird, die das Gesetz damals auf den Weg brachten.
Sie sagen: ‚Wählt uns, wenn ihr das Unglück vermeiden wollt, die wir damals selbst verursacht haben. Wir haben entschieden, dass viele Sitze den Kandidaten zufallen, die in ihrem Wahlkreis auch mit nur einer Stimme vorne liegen. Und haben nicht bedacht, was jetzt die Prognosen prophezeien: dass damit fast alle Wahlkreise den Kandidaten der gegnerischen Koalition zufallen.‘ …
Und das ist noch nicht alles. Steht das Gesetz, mit dem wir wählen, überhaupt im Einklang mit der Verfassung? Das Verfassungsgericht hat sich häufig zur Unverfälschtheit und Freiheit des Wahlrechts geäußert, das der Grundstein der Demokratie ist. Nun: das geltende Gesetz ist ein Hybrid oder besser ein Monster, ein Fabelwesen, halb Ziege und halb Hirsch, das zwei miteinander inkompatible Logiken vereinbaren will: 1/3 Mehrheitswahlrecht und, 2/3 Verhältniswahlrecht.
Auch wenn es schon seit 1993, in unterschiedlichen Varianten, so ist: Dies hindert uns nicht daran, zu erkennen, dass das Monster zwei Köpfe hat, wobei jeder das Gegenteil der anderen denkt. Der ‚Kopf mit dem Mehrheitsprinzip‘ sagt den Wählern: Derjenige gewinnt, der von euch mehr Stimmen erhält, und seien es noch so wenige, alle anderen werden verlieren. Der ‚Kopf mit dem proportionalem Prinzip‘ indessen verspricht keine Siege und droht auch nicht mit Niederlagen, sondern sagt wohlwollend: Die Zahl der Sitze wird genau dem jeweiligen Anteil der erhaltenen Stimmen entsprechen, und sei es auch nur im Kleinformat.
Es handelt sich hier um zwei politische Modelle, die jeweils ihre Logik haben. Aber es sind Logiken, die sich gegenseitig ausschließen und nicht einfach addiert werden können.
Man kann nicht beides gleichzeitig wollen: hier Sieg oder Niederlage und dort weder Siege noch Niederlage, sondern ‚jedem das Seine‘. Wobei auch zwei alternative psychologische Einstellungen der Gewählten und noch mehr der Wähler eine Rolle spielen. Der Wähler, der sich des doppelten Mechanismus des Gesetzes bewusst ist, gerät leicht in Zweifel: wähle ich ‚für den Sieg‘ oder wähle ich ‚für die Repräsentativität‘? Besonders wird sich der Wähler wundern, dass er, obwohl er zur Teilnahme an zwei Konsultationen aufgerufen wird – eine für die Mehrheit, eine für das Verhältnis –, über nur eine Stimme verfügt, die für die eine wie für auch das andere gilt.
Eine Stimme, die doppelt zählt: Wenn man für die Liste nach dem proportionalen Prinzip stimmt, zählt das automatisch auch für den Kandidaten, der nach Mehrheitsprinzip gewählt wird – und umgekehrt. Kurzum: die Parteien manipulieren damit 50% deiner ‚freien‘ Stimme, um die Kandidaten durchzubringen, an deren Wahl sie interessiert sind.
Die eigentlich sakrosankte Wahlfreiheit wird dadurch eklatant verletzt. Der mitdenkende Wähler ahnt, dass er instrumentalisiert wird. Umso mehr, als bei der proportionalen Quotierung die Listen ‚blockiert‘ sind und der Wähler keine Präferenz für bestimmte Kandidaten geltend machen kann. Der Wähler glaubt zwar frei zu sein, ist aber tatsächlich zum guten Teil gefangen durch die Entscheidungen anderer: Wenn er bei der Direktwahl den ihm genehmen Kandidaten wählt, bringt er damit auch die Liste für die proportionale Quotierung nach vorne, auch wenn er sie gar nicht gut findet. Umgekehrt, wenn ihm die Liste gefällt, befördert er damit automatisch auch die Direktwahl eines Kandidaten, auch wenn er das gar nicht möchte. Und er kann nicht einmal innerhalb der proportionalen Quotierung eine Präferenz ausdrucken, weil die Reihenfolge der Kandidaten festgelegt ist.
Die Parteien genießen bei den Wählern ohnehin kein großes Vertrauen. Wie kann man erwarten, dass ein solches Wahlsystem die Bürger den Parteien näher bringt, was eigentlich durch eine Wahl der Fall sein sollte, statt sie von ihnen zu entfernen?
Wahlgesetze sollten nicht für die Parteien und deren Kandidaten gemacht werden, sondern für die Bürger. Aber in Italien ist das – seit allzu vielen Jahren – nicht der Fall. Solche Gesetze müssten, mehr alle anderen, einfach und dauerhaft sein. Stattdessen werden sie immer wieder geändert, meist möglichst nahe am Wahltermin, weil man auf die Vorteile schielt, die man sich davon unmittelbar verspricht…
Kommen wir zum Anfang zurück, zu unserem Bedarf an einer reifen Demokratie. In ihr würden sich diejenigen, die dem ‚Staat dienen‘ (d. h. dem Gemeinwohl verpflichtet sind, A. R.), auch als diejenigen erweisen, die sich nicht nur durch Argumente momentaner Opportunität beirren lassen. Und die ‚Konstitutionalisten‘ würden sich dadurch zu erkennen geben, dass sie sich mit ihren Kompetenzen nicht in die Sorgen und Träume von Politikern einbinden ließen, die im genannten Sinn keine ‚Staatsdiener‘ sind.“