Europa „à la carte“
„Wir respektieren die demokratische Entscheidung der italienischen Wähler und werden mit der neuen Regierung in Rom zusammenarbeiten. Europa muss einig bleiben, insbesondere angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine, und hier hat Meloni klar ihre Unterstützung für das Vorgehen Europas zugesichert. Klar ist aber auch, dass es zwischen uns Differenzen gibt. Wir werden sehr darauf achten, dass die Werte und die Regeln des Rechtsstaates respektiert werden. Die EU hat schon gegenüber Ländern wie Ungarn und Polen bewiesen, dass sie hier besonders aufmerksam ist“.
Dies hatte die französische Ministerin für Europäische Angelegenheiten, Laurence Boone, in einem Interview mit der Zeitung „La Repubblica“ erklärt. Es gebe noch keine neue Regierung in Italien und man werde anhand der Fakten urteilen, aber: „die Prinzipien des Rechtsstaates gelten für alle 27 Staaten der Union“.
Meloni empört über „Einmischung“ Frankreichs
Eigentlich die Bekräftigung einer Selbstverständlichkeit. Dennoch genug, um die Ministerpräsidentin in spe Giorgia Meloni in Rage zu versetzen. Sie könne nur hoffen, dass hier „die linke Presse die Äußerungen von Vertretern ausländischer Regierungen falsch dargestellt“ habe und erwarte von der französischen Regierung ein Dementi. Andernfalls handele es sich um die „inakzeptable Drohung einer Einmischung gegenüber einem souveränen Staat, der Mitglied der EU ist“, so ihre Reaktion.
Von Staatspräsident Macron und den Sprechern der Europaministerin gab es keinerlei Dementis, lediglich die Bekräftigung, man wolle mit der künftigen Regierung kooperieren „auf der Basis der gemeinsamen Werte und Prinzipien, die für die EU konstitutiv sind“.
Dass Meloni Äußerungen, die sich auf Grundprinzipien der Unionsverträge berufen, als „Einmischung“ in die inneren Angelegenheiten Italiens denunziert, entspricht exakt der Haltung von Orban und der polnischen Regierung: an den – vor allem finanziellen – Vorteilen der EU partizipieren und gleichzeitig in ihren Ländern Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundrechte untergraben. Und bei zentralen Fragen, wie z. B. der Aufnahme von Migranten, im Alleingang handeln und europäische Lösungen torpedieren. Arbeitet Meloni auch schon daran, hierfür freie Hand zu haben?
Staatspräsident als Garant
Der Wirbel um die Erklärung der französischen Ministerin war so groß, dass sich sogar Staatspräsident Mattarella genötigt sah, zu intervenieren. Als er am Rande einer öffentlichen Veranstaltung von Journalisten dazu befragt wurde, antwortete er knapp und mit mürrischer Miene: „Italien kann auf sich selbst aufpassen, in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und den Werten der Europäischen Union “.
Eine Antwort, die sicher interpretationsbedürftig ist. Die Rechte und einige Kommentatore sahen darin eine Bestätigung der Position Melonis und eine implizite Kritik an Frankreich. Das „übersieht“ allerdings den zweiten Teil von Mattarellas Satz: die Berufung auf die Verfassung und die Werte der Union. Beides ist aber wesentlich und verbindet seine Antwort mit zwei weiteren Botschaften: erst einmal die (an das In- sowie Ausland gerichtete) Versicherung, dass Italiens demokratische Strukturen solide sind und er dafür als Staatspräsident der Garant sei, und zweitens die Mahnung an die eigenen Parteien und Bürger, ihrer Verantwortung zu deren Bewahrung gerecht zu werden.
Kritik an deutschem „Doppelwumms“
Gleichzeitig mit der „französischen Affäre“ ist in Italien, sowie in anderen europäischen Ländern, eine gewichtigere Auseinandersetzung entbrannt: die mit der deutschen Regierung wegen ihrer Entscheidung, ein gewaltiges Paket von 200 Milliarden Euro für Maßnahmen zur Eindämmung der Energiekrise aufzulegen.
Melonis Vorwurf lautet, Scholz’ „Doppelwumms“ könne zu einer Marktverzerrung zugunsten Deutschlands führen, zum Nachteil der weniger finanzkräftigen Länder, die nicht in der Lage sind, ähnlich robuste Entlastungspakete ihren Unternehmen und Bürgern zur Verfügung zu stellen. Zudem würde der deutsche Alleingang die Bemühungen konterkarieren, in der EU gemeinsame Instrumente zur Deckelung der Energiepreise zu beschließen. Auch Draghi, der noch geschäftsführend im Amt ist, und der EU-Wirtschaftskommissar Gentiloni übten in dieser Richtung deutliche Kritik an der deutschen Entscheidung. Ähnlich, wenn auch etwas gedämpfter, äußerte sich sogar die Kommissionspräsidentin.
Die deutsche Regierung konterte bekanntlich mit dem Argument, der Umfang der Finanzhilfen sei schon aufgrund der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands notwendig, um der Gefahr einer Rezession entgegenzutreten, die nicht nur das eigene Land, sondern die Entwicklung in ganz Europa belasten würde. Und wies darauf hin, dass vor Deutschland bereits andere Länder – u. a. Spanien, Frankreich und die Niederlande – nationale Maßnahmen gegen die exorbitant wachsenden Energiepreise ergriffen hätten. „Wir bewegen uns mit unseren Entscheidungen im Rahmen dessen, was auch andere in Europa machen“, so der Bundeskanzler.
An den Argumenten von Olaf Scholz ist etwas dran, aber sie vernachlässigen einen wichtigen Faktor: Deutschland hat versäumt, seine Überlegungen und Entscheidungen auf europäischer Ebene rechtzeitig zu kommunizieren und dabei den Partnern glaubwürdig zu vermitteln, dass es bereit ist, seinen Beitrag zur Entwicklung gemeinsamer Lösungen zu leisten. Inzwischen scheint sich die Möglichkeit eines Konsenses anzubahnen, und zwar über den gemeinsame Einkauf von Energieprodukten, um Druck auf die Anbieter bei den Preisen zu machen.
Ausgerechnet Meloni ruft nach „europäischer Solidarität“
Wer aber bei der Kritik weit über das Ziel hinausschießt, sind die Souveränisten: in Ungarn und in Polen, wo sie bereits regieren, und in Italien, wo sie kurz davor stehen. Ausgerechnet diejenigen, die einen aggressiven Nationalismus propagieren, werfen Deutschland „nationalen Egoismus“ und „mangelnde europäische Solidarität“ vor.
Meloni selbst hatte erklärt, angesichts der epochalen Herausforderung durch die Energiekrise sei eine sofortige Antwort auf europäischer Ebene unerlässlich, denn: „Keiner der Mitgliedstaaten ist in der Lage, allein und ohne eine gemeinsame Strategie wirksame Lösungen zu bieten“. Aha. Auf einmal wettert die künftige Ministerpräsidentin gegen nationale Alleingänge (von anderen) und fordert das solidarische Handeln der EU.
Auch ihr enger Berater Guido Crosetto spricht von einem „unverständlichen deutschen Egoismus“ und der Europaabgeordnete von FdI Nicola Procaccini gar von einem „brutalen Souveränismus (!) von Berlin und Amsterdam“. Ist also „Souveränismus in der Europa der Nationen“ doch kein solcher Segen, wie es Meloni und ihre Partei immer wieder beteuern? Offensichtlich hängt Melonis Antwort ganz davon ab, um welche Nation es sich handelt.
Die Wahrheit ist: „Ein souveränistisches Europa kann nicht funktionieren. Und funktioniert, wie man sieht, auch nicht“, wie Andrea Bonanni in der „Repubblica“ schreibt. Tatsächlich kann es in einer globalisierten und von internationalen Krisen erschütterten Welt für Europa nur einen Weg geben: den des gemeinsamen solidarischen Handelns. Ein Grundprinzip, das nur Sinn hat, wenn es immer und für alle europäischen Partner gilt, und nicht nur sozusagen wahlweise, wie Meloni meint. Ein „Europa à la carte“, wo sich jeder Mitgliedstaat nur das herauspickt, was ihm gerade passt, kann es nicht geben. Schon allein, weil es nicht überlebensfähig wäre.
Letzte Meldung: Rechte spaltet sich bei Wahl des Senatspräsidenten
Gestern, 13. Oktober, wurde der (Post)faschist Ignazio La Russa von Fratelli d’Italia (O-Ton im Wahlkampf: „Wir sind alle Erben des Duce“) zum Präsidenten des Senats gewählt. Das ist immerhin das zweithöchste Amt nach dem des Staatspräsidenten. Nicht für ihn gestimmt hat Berlusconis Partei Forza Italia, die dem Wahlgang fernblieb. Nicht jedoch aus politischen Gründen, sondern als Racheakt des alten Bosses gegen Meloni, die sich geweigert hat, seinen Forderungen nach einem Ministeramt für eine seiner Getreuesten zu entsprechen. Dass La Russa es dennoch schaffte, verdankt er 18 Stimmen aus der Opposition. Aber von wem? Aus Calendas und Renzis Parteien? Von vagabundierenden 5Sternen, oder gar von der PD? Keiner will es gewesen sein.
Nach dem Senat folgte heute die Wahl des Präsidenten der Abgeordnetenkammer. Gewählt wurde der ultrareaktionäre Lorenzo Fontana – Vizechef der Lega, leidenschaftlicher Putin-Anhänger, homophob und militanter Abtreibungsgegner -, allerdings mit 15 Stimmen weniger als der gesamte Rechtsblocks aufbringen kann. Und erst nach drei gescheiterten Wahlgängen für den ersten Kandidaten der Lega, den Fraktionsvorsitzenden Molinari.
Ein chaotischer Start der Rechten, noch bevor sie angefangen hat, zu regieren, und in der schon die Fetzen fliegen im Kampf um Ministerämter und andere Machtposten. Der erzürnte Berlusconi, der übrigens nicht mehr ganz klar im Kopf zu sein scheint, hatte sich auf einem Zettel notiert: „Das Verhalten von Giorgia Meloni ist rechthaberisch, anmaßend, arrogant und beleidigend. Man kann mit ihr nicht zusammenarbeiten“. Die Presse schaffte es, den Zettel zu fotografieren und zu veröffentlichen. (Meloni darauf: „Eins hat er vergessen aufzuschreiben: Ich bin nicht erpressbar“).
Wie lautete noch Melonis Wahlkampfspruch? „Siamo pronti!“ („Wir sind bereit!“). Man könnte meinen, nicht ganz.