Rückfall in den Klientelismus?
Vorbemerkung der Redaktion: Der Zufall will es, dass jetzt sowohl in Deutschland als auch in Italien um das sog. „Bürgergeld“ gestritten wird, das man wohl besser eine Mindestsicherung gegen Armut nennen sollte. In beiden Fällen macht es die politische Rechte zum Gegenstand ihrer Kritik: In Deutschland will die CDU/CSU über den Bundesrat seine Einführung in der jetzigen Form verhindern; in Italien, wo es „Reddito di Cittadinanza“ (RdC) heißt, will sie es auf eine Hilfe für diejenigen reduzieren, die nachweislich arbeitsunfähig sind. Der Grundgedanke ist der gleiche: Jede staatliche Hilfe, die hoch genug ist, um Menschen auf die Idee zu bringen, auf Dauer allein von ihr zu leben, ist von Übel, weil es ihnen den „Anreiz“ zur Arbeit überhaupt nehme. Die deutsche Rechte folgert daraus, dass der Abstand der Mindestsicherung zu den untersten Lohngruppen immer noch groß genug sein müsse, um den „Anreiz“ zu erhalten; die italienische Rechte folgert, dass man den Menschen, die arbeitsfähig sind, diese Mindestsicherung vielleicht überhaupt entziehen solle (Salvini, dessen Klientel vor allem im wirtschaftlich prosperierenden Norden lebt, möchte das staatliche Geld lieber in die bessere Ausstattung des Rentensystems stecken, z. B. in die verbesserte Möglichkeit der Frühverrentung).
Das noch geltende italienische Bürgergeld RdC beziehen zur Zeit 1,2 Millionen Familien bzw. 2,5 Millionen Menschen. Die 5-Sterne-Bewegung setzte es 2019 durch, als sie mit Salvinis Lega die Regierung „Conte1“ bildete. Es funktioniert grob gesagt so: Erwachsene, deren Einkommen unter 780 €, oder Familien, deren Einkommen unter 1300 € liegt, haben einen Anspruch darauf, dass ihr Einkommen mit staatlicher Hilfe bis zu dieser Höhe aufgestockt wird, was auch einen Zuschuss zur Miete umfassen kann. Der RdC wird zunächst für maximal 18 Monate gewährt, kann aber – bei Nicht-Rentnern nach einmonatiger Unterbrechung – erneut beantragt werden. Bei Nicht-Rentnern ist das Ziel nicht nur die finanzielle Unterstützung, sondern auch die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Weshalb der Bezug des RdC, ähnlich wie bei dem deutschen „Hartz IV“, daran gebunden ist, dass sich die Antragsteller in den Arbeitsvermittlungszentren einschreiben und ihre Bereitschaft zur Annahme eines „angemessenen“ Beschäftigungsangebots erklären. Die zweimalige Ablehnung eines solchen Angebots kann zum Verlust der staatlichen Unterstützung führen. Der Pferdefuß dieser Regelung ist das Vorhandensein einer Umgebung, in der es solche Angebote in ausreichender Zahl und zumutbarer Qualität gibt – was gerade in Süditalien oft nicht der Fall ist.
Im Folgenden übersetzen wir einen Artikel von Isaia Sales, den er am 14. November in der „Repubblica“ veröffentlichte (unter dem Titel: ), in dem er für die Beibehaltung des RdC plädiert. Sein sozialpolitisches Argument geht über die humanitäre Begründung hinaus: Die Abschaffung des RdC würde im Süden die Rückkehr zu den alten Übeln begünstigen, unter denen der Süden lange genug gelitten habe: Klientelismus, Betrug des Staates, politische Korruption, Einmischung der Mafia.
Der 1950 geborene Isaia Sales war Abgeordneter der PdS (Vorgängerpartei der PD), unter Prodi Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und ist heute Schriftsteller. Er schreibt Bücher und Essays über die Lage in Süditalien, mit dem Schwerpunkt Mafia.
„Im vergessenen Süden drängt das Bürgergeld den Klientelismus zurück
Für Italien war es nie eine politische Priorität, eine Antwort auf die Einkommenslosigkeit zu finden, obwohl es das Land ist, in dem es breite Schichten der Armut gibt und in dem sich zwischen dem Norden und dem Süden eine wirtschaftliche und soziale Kluft etabliert hat. Nicht einmal in der Zeit ab 1996, als die Linke an der Regierung war, konnten die Einkommenslosen auf eine angemessene Aufmerksamkeit rechnen. Die drei Momente im Leben, in denen einen die Angst packen kann, es allein nicht zu schaffen (wenn man altersbedingt nicht mehr arbeiten kann, wenn man krank wird oder keine Arbeit findet), wurden von der Politik nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Es wurde zwar ein System der Altersvorsorge geschaffen, das ebenso wie das Gesundheitssystem alles in allem funktioniert, aber es blieb immer die Antwort auf das Problem derer schuldig, die kein Einkommen fanden, mit dem sich vermeiden lässt, dass Arbeitslosigkeit in Verzweiflung mündet. Der italienische Sozialstaat kümmerte sich seit der zweiten Nachkriegszeit um die, die Pensionäre wurden oder erkrankten, aber viel weniger um diejenigen, die über kein Einkommen verfügten, um die elementaren Bedürfnisse ihrer Familie zu befriedigen. Das Bürgergeld hat mit all seinen Schwächen eine Notwendigkeit abgedeckt, die in der Vergangenheit von der gesamten italienischen Politik – auch der linken – vernachlässigt wurde.
Was letztlich vorherrschte, war eine ‚produktivistische‘ Idee des Sozialstaats, d. h. öffentliche Ressourcen nur für diejenigen bereitzustellen, die schon eine Arbeit haben, sie verlieren oder aus Gründen des Alters, der Krankheit oder des Unfalls nicht mehr ausüben können, aber nicht für diejenigen, die noch nie eine Arbeit hatten oder – vielleicht – auch nie haben werden. So bildete sich ein System der öffentlichen Hilfen heraus, nach dem Modell der Gebiete, wo die Arbeit das Leben der Menschen und der Gesellschaft strukturiert. Vorherrschend war die Vorstellung, dass Arbeitslosigkeit eine subjektive Entscheidung sei, eine Neigung zu Muße und Untätigkeit, eine vorgefasste Ablehnung von Arbeit als identifizierendes Merkmal des eigenen Lebens. Nichtarbeit wurde als Anzeichen moralischer und menschlicher Minderwertigkeit betrachtet, und nicht als eine Schwierigkeit, die mit öffentlicher Hilfe bewältigt werden musste.
So wurde also der Sozialstaat nach den Erfordernissen des Zentrums und des Nordens modelliert, unter dem Druck der sozialen, politischen und gewerkschaftlichen Kräfte, die vor allem von den Bedürfnissen der produktiven Teile des Landes geprägt wurden. Die ‚Unproduktiven‘ wurden aus dem System gedrängt und als Parias oder Nichtstuer angesehen. Der Sozialstaat hat die produktive Situation des Landes abgebildet und dabei zu einer unglaublichen Unterschätzung derer geführt, die ohne Einkommen und ohne Arbeit sind und sich vor allem im Süden konzentrieren. Aus diesen Gründen waren die Ausgaben der Inps (Nationales Sozialversicherungsamt, AdR) vor der Einführung des Bürgergelds völlig ungleich zwischen den beiden Teilen des Landes aufgeteilt.
Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn letztlich hat sich in den nicht-produktiven Gebieten für die Einkommenslosen ein alternatives System der Willkür und der Illegalität herausgebildet, das oft von Kriminellen kontrolliert, aber zum großen Teil aus öffentlichen Mitteln der Inps finanziert wird. So entstand ein doppeltes System der Hilfe und der Vorsorge: der Sozialstaat im Zentrum und im Norden, der klientelistische Staat im Süden; legale Hilfe und Unterstützung für diejenigen, die zur Arbeitswelt gehörten, Toleranz ‚außerhalb des Gesetzes‘ gegenüber denjenigen, die ihr nicht angehörten.
Das Fehlen eines universellen Hilfsinstruments gegen die Armut hat untaugliche Mittel in Bewegung gesetzt, um den elementaren Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden. Der Süden wurde zum Schauplatz jener besonderen Formen eines ‚illegalen Einkommens‘. Das Phänomen hat sich so ausgeweitet, dass man ein ganzes Buch bräuchte, um über sie zu berichten. Wir beschränken uns auf ein paar Beispiele.
2014 wurde in Kampanien ein gewaltiger Betrug gegenüber der Inps aufgedeckt. Seine Organisatoren waren Unternehmen des Reinigungsgewerbes, Arbeitsberater und Angestellte des Inps.
Dabei waren 18 neue Unternehmen kreiert worden, die 7000 Arbeitskräfte einstellten, die nach einem Jahr (nicht getätigter) Arbeit ein Arbeitslosengeld in Höhe von 70 Prozent ihres Einkommens bezogen. Im Durchschnitt kassierte jede darin verwickelte Person durch den Betrug zwischen 8 und 10tausend Euro, was einen Gesamtschaden von 37 Millionen bedeutete. Der gleiche Mechanismus wiederholte sich in anderen Bereichen des Südens und auch einigen des Nordens, wegen der Steuererleichterungen, die Kooperativen gewährt wurden. In Emilia, in der Toscana, in Venezien und in der Lombardei.
In den Jahren davor gab es den Boom der Einschreibungen in das Verzeichnis der Landarbeiter. Vor allem für die Frauen stellten sie eine ausgezeichnete Gelegenheit dar: Bescheinigte einem ein Landwirt, wenigstens 51 Arbeitstagen abgeleistet zu haben, hatte man Anrecht auf ein Mutterschaftsgeld, das in jener Zeit in der Landwirtschaft höher als in der Industrie war. Wenn man dann, mit einem Attest für eine (falsche) Krankheit, auf nominelle 102 Arbeitstage kam, schossen die Beihilfen noch mehr in die Höhe.
Nach meiner Erinnerung war dies die damals häufigste Ergänzung des Einkommens, ohne dass die werdenden Mütter einen einzigen Tag in der Landwirtschaft gearbeitet hätten. Die Einladung, sich in die Listen einzutragen, kam von Vertretern der Politik, die daraus bei den Wahlen großen Nutzen zogen.
Was kostete diese illegale Einkommensergänzung den Staat?
Sehr viel. Für viele der sozialen Schichten mit niedrigem Einkommen war es sicher eine Wohltat, aber es war ein klientelistisches und illegales System, das eine massenhafte Unterstützung bei den Wahlen brachte.
Es gab eine Zeit, in der die kommunalen Ratsmitglieder, welche die meisten Stimmen bekamen, Ärzte und Funktionäre des Inps waren. Ebenso wie das kriminelle funktionierte das klientelistische System des Südens als Surrogat für einen nicht vorhandenen allgemeinen Schutz. Aber bezahlt hat es letztlich immer der Staat.
Mit anderen Worten: In der Vergangenheit überstieg die Dimension der Betrügereien, die veranstaltet wurden, um sich ein staatliches Einkommen zu sichern, immer um ein Vielfaches die Dimension des heutigen Bürgergelds. Mit dem Unterschied, dass man in der früheren Zeit auf Geschäftemacher, klientelistische Politiker und sehr oft auch auf Mafiosi zurückgriff, um zu Leistungen zu kommen, auf die man keinen Anspruch hatte. Für das Bürgergeld hingegen gibt es keine klientelistische Vermittlung und kriminelle Kontrolle. Und das bedeutet im Süden nicht wenig. Ein universelles System der Einkommensergänzung ist einem System der klientelistischen, willkürlichen und illegalen Vermittlung tausendmal vorzuziehen. Wenn es einen legitimen Bedarf an Hilfe gibt, der aber legal nicht zu befriedigen ist, werden illegale Kreisläufe in Gang gesetzt, um sie zu bekommen. Das ist die Geschichte des Südens und Italiens, die Vergangenheit werden muss. Und zwar beginnend mit angemessenen universellen Instrumenten, um den elementaren Lebensbedürfnissen genügen zu können.“