Nicht nur Naturgewalt
Es gibt italienische Wörter, für die es keine direkte deutsche Übersetzung gibt und bei denen man sich mit Umschreibungen behelfen muss. Das Wort „abusivismo“ gehört dazu. Es leitet sich von „abuso“ ab, auf Deutsch „Missbrauch“, und kennzeichnet das Phänomen „missbräuchlicher“, sprich illegaler Bautätigkeit. Die gibt es zwar auch in Deutschland, aber in Italien ist sie massenhafte Praxis, die von der Politik vielfach geduldet und sogar mit großzügigen Amnestieregelungen begünstigt wird – in der Erwartung, von den dankbaren Wählern bei passender Gelegenheit wiederum „belohnt“ zu werden. Das nennt man in Italien „voto di scambio“, wörtlich „Stimmtausch“, noch so eine italienische Bezeichnung ohne genaue Entsprechung in der deutschen Sprache. „Ich tue was für dich und du gibst mir deine Stimme“.
Italien ist nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch hydrogeologisch ein äußerst fragiles Land, durch vulkanische Aktivitäten, häufige Erdbeben, eine fast durchgängig bergige Struktur und nun auch noch durch zunehmend extreme Wetterlagen infolge klimatischer Veränderungen. Kommen die wilde Urbanisierung gefährdeter Gegenden, die ungehemmte Versiegelung des Bodens und die Begradigung von Flussläufen hinzu, ist das Ergebnis explosiv. Zusammenbrüche des prekären hydrogeologischen Gleichgewichts, Erdrutsche von monströsem Ausmaß, massive Überflutungen sind vorprogrammiert.
Gerade in Italien sind konsequente Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an die bereits stattgefundenen Veränderungen dringender denn je. Dennoch liegt der von der Regierung Gentiloni 2017 erarbeitete Entwurf eines „Nationalen Plans zur Anpassung an den Klimawandel“ immer noch in der Schublade, während entsprechende Programme in den meisten europäischen Ländern – u. a. Deutschland, Frankreich, Portugal, Spanien, Österreich und den Niederlanden – bereits in Angriff genommen wurden.
Ein Erdrutsch verwüstet wieder mal Casamicciola
Am frühen Morgen des 26. November löste sich von dem Berg Epomeo im Ort Casamicciola auf der Insel Ischia ein gewaltiger Erdrutsch. In der Nacht hatte es sintflutartige Regenfälle gegeben, der aufgeweichte vulkanische Boden, der hauptsächlich aus Asche und Geröll besteht, gab nach und stürzte den Berghang hinunter. Eine Lawine aus Schlamm und Geröll, die alles mitnahm, was sie auf ihrem Weg traf, um schließlich ins Meer zu münden. 30 der illegal gebauten Häuser am Berghang, die dort in einer solchen prekären Lage gar nicht stehen dürften, wurden von der Schlammflut erfasst und zum Teil zerstört. Elf Menschen, darunter Kinder, wurden bisher tot geborgen, es gibt Schwerverletzte, zwei Personen werden noch vermisst, über 200 mussten evakuiert werden.
Der Ort Casamicciola ist für die Häufung solcher „Naturkatastrophen“ bekannt. Im neapolitanischen Dialekt gibt es sogar die Redewendung „E’ successa ’na Casamicciola“ („Es ist eine Casamicciola passiert“), wenn man über irgendein Desaster oder ein schlimmes Ereignis spricht. Bereits 1910, 1987 und 2009 hatte es am Monte Epomeo ähnliche Erdrutsche gegeben, mit Toten und Verletzten. 2017 fand ein Erdbeben statt, mit ähnlichen Folgen. Der rasch fortschreitende Klimawandel erhöht den Ausmaß der Katastrophen enorm. Dennoch ging das wilde Bauen am Hang des Vulkanbergs ungestört weiter.
„In der Region Kampanien sind 64,3% der Gebäuden illegal. Bei Ischia kommt hinzu, dass die Insel ein besonders hohes hydrogeologisches Risiko aufweist, wie viele Ereignisse in der Vergangenheit gezeigt haben“, so der Staatsanwalt von Neapel Luigi Riello im Interview. Er setzt hinzu: „Dass jetzt die Leute die Schuld wieder nur in der Natur oder in dem Schicksal suchen, finde ich, milde ausgedrückt, befremdlich“.
Geologen und Umweltschützer äußern sich ähnlich. „Jedes zweite Haus in Casamicciola ist illegal gebaut, es wurde errichtet, wo es nicht erlaubt ist. Nach der letzten Bauamnestie für Ischia 2018, als die Lega mit den 5Sternen regierte, kamen von der Insel 28.000 entsprechende Anträge. Allein aus den Gemeinden Casamicciola und Lacco Ameno mit 13.000 Einwohnern waren es 6.000, das heißt, jeder Zweite reichte dort einen Antrag auf Amnestie ein“, erklärte der Vorsitzende der italienischen Grünen, Angelo Bonelli.
Amnestien für illegales Bauen
Es wird also nicht nur massenhaft ohne Genehmigung gebaut, sondern die illegalen Gebäude werden durch vom Staat erlassene Amnestien („condoni“) nachträglich „legalisiert“. Zudem erhalten die Besitzer Finanzhilfen für deren „Sanierung“ und Wiederbau. So geschehen 1985 durch die Regierung des Sozialisten Craxi, dann 1994 und 2003 durch Berlusconi (mit der Lega als Koalitionspartner), und zuletzt – speziell für Ischia – im Jahr 2018 durch die Koalition Lega-5SB (Regierung „Conte I“).
Im letzten Fall hatte sich der damalige Vizepremier Di Maio, der inzwischen die 5SB verlassen hat, besonders vehement für eine Amnestie eingesetzt (Ischia gehörte zu seinem Wahlkreis), mit Erfolg: die Amnestie für die Insel wurde in ein Gesetzesdekret für den Wiederbau der abgestürzten Brücke von Genua „hineingeschmuggelt“, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Als jetzt der Leader der 5Sterne Giuseppe Conte, der damals Ministerpräsident war, von Medienvertretern darauf angesprochen wurde, behauptete er unverfroren, es habe sich da mitnichten um eine Amnestie gehandelt, sondern nur um eine „Maßnahme zur Beschleunigung und Vereinfachung bürokratischer Prozeduren“. Eine glatte Lüge. Schon die Überschrift des Art. 25 des Gesetzesdekrets lautet klipp und klar: „Bestimmungen über die Amnestieverfahren“.
„Abusivismo di necessità“
Immer, wenn solche „condoni“ erlassen werden, behaupten die jeweiligen Regierungen und die sie tragenden politischen Kräfte, es handele sich um Ausnahmeregelungen, um Probleme „pragmatisch“ zu lösen und entstandene Not schnell zu lindern. Auch Di Maio, als er die „Ischia-Amnestie“ zu rechtfertigen versuchte, nutzte einen solchen Begriff: Es gehe bei dem dortigen illegalen Bauen um „abusivismo di necessità“, auf Deutsch „Gesetzesbruch aus sozialer Not“.
Abgesehen davon, dass man Wohnungsnot nicht mit der brutalen Zerstörung von Lebensräumen bekämpfen kann, wofür die Natur unweigerlich die Rechnung ausstellt: Was Ischia betrifft, sind diejenigen, die dort wild bauen, meistens alles andere als arm, was man gerade in Casamicciola sehen kann. Am Berghang des Epomeo stehen bzw. standen keine bescheidene Häuschen, sondern vor allem Villen und „Villette“ mit mehreren Stockwerken und prächtigen Terrassen in schönster Panoramalage. Die Zeche für ihre Zerstörung zahlen jetzt nicht nur deren Besitzer – einige leider auch mit ihrem Leben –, sondern der ganze Ort und die Gemeinschaft insgesamt.
„Abusivismo di necessità“ ist eine Absurdität, ebenso wie die Amnestien, die als soziale Wohltaten verkauft werden. Der Journalist Stefano Cappellini erklärt, worum es in Wahrheit geht: „Amnestien dienen – immer und ohne Ausnahme – dazu, Stimmen zu ergattern und sich auch auf längere Sicht Wählerpotentiale zu sichern. Denn jede Amnestie, sei es beim Bau oder bei Steuern, zielt nicht nur darauf, sich die Stimmen der direkt Betroffenen zu sichern. Es ist vielmehr eine Botschaft, die sich an die gesamte Wählerschaft richtet, ein Signal für heute und für morgen, das besagt: Regeln dürfen missachtet werden, weil die politische Klasse die Garantie dafür übernimmt, dass man in solchen Fällen immer irgendein Schlupfloch, einen Ausweg oder Trick finden wird, um alles mit einem Federstrich zu tilgen. Damit werden jene, die Regeln missachten, mit denen gleichgestellt, die sie beachten“.
Mit anderen Worten: Wer sich bis dahin an Recht und Gesetz gehalten hat, ist sozusagen „il fesso“ (der Depp) und wird sich wahrscheinlich irgendwann ebenfalls dafür entscheiden, illegale Wege zu gehen. Amnestien tragen dazu bei, dass Gesetzesbruch nicht nur unmittelbar belohnt, sondern auch perpetuiert und ausgeweitet wird.
„Baufrieden“ und „Steuerfrieden“
Politisch gesehen findet die verbreitete Praxis der „condoni“ durchaus parteiübergreifend statt, aber wer sie aggressiv betreibt, ist die Rechte, besonders Forza Italia, deren Leader Berlusconi sie auch persönlich verkörpert (er wurde wegen Steuerbetrugs rechtskräftig verurteilt), und die Lega unter der Führung Salvinis (einige wenige ausgenommen, wie der Gouverneur der Region Venetien Luca Zaia). Meloni und ihre Fratelli hatten bisher kaum Gelegenheit, sich in dieser Hinsicht zu profilieren, sind aber seit ihrer Regierungsübernahme schon auf dem besten Wege, das Verpasste aufzuholen. Siehe ihren Entwurf zum Haushaltsgesetz mit der Tilgung aller Steuerschulden unter 1.000 Euro für die Jahre 2000 bis 2015 (insgesamt eine Summe von über 1.000 Milliarden) und mit Bestimmungen, die Barzahlungen gegenüber elektronischen Zahlungsmitteln begünstigen.
Die Bezeichnung „Amnestie“ versuchen allerdings auch deren vehementeste Verfechter meist zu vermeiden. So auch jetzt. Sie greifen lieber auf „positiv besetzte“ Ausdrücke zurück: Amnestie bei illegalen Bauten heißt dann „Baufrieden“ und, wenn es um Steuerhinterziehung geht, „Steuerfrieden“ oder „steuerlicher Waffenstillstand“. Kann man denn gegen Frieden sein? Gewiss nicht, schon gar nicht in der heutigen Zeit.
Die Begriffe sind auch deswegen gut gewählt, weil sie – leider – der Wahrnehmung vieler Bürger entgegenkommen. Demnach führt der Staat („die Politik“, „die Bürokratie“), wenn er Baugenehmigungen vorschreibt oder Steuern einzieht, Krieg gegen die eigenen Bürger, die seine Kriegsopfer sind. Mit den Amnestien streckt also der Kriegstreiber seinen Opfern die Hand entgegen. Auf dass sie weitermachen mögen wie bisher. Bis zur nächsten „Naturkatastrophe“ – und zur nächsten Amnestie … Pardon: bis zum nächsten Friedensvertrag.
Nur kurze Frage: Ist die Zahl in Klammern im 3. letzten Absatz richtig, also 1.000 Milliarden? Das dürfte eine Billion sein, rund 2 Staatshaushalte Italiens.
Viele Grüße
Reiner Schäfer-Gölz, Berlin
Die in der Tat horrende Summe von über 1.000 Milliarden wurde in verschiedenen italienischen Zeitungen (u. a. La Repubblica, La Stampa, il Fatto Quotidiano) und einschlägigen Internetseiten veröffentlicht. Sie bezieht sich auf die Gesamtsumme der beim Fiskus angehäuften Steuerschulden, manche schreiben der letzten 20 Jahren, andere spezifizieren nicht den genauen Zeitraum. Darin enthalten sind allerdings auch inzwischen verstorbene Personen, Unternehmenspleiten und Schulden, die der Fiskus selbst versäumt hat, innerhalb der vorgsehenen Fristen einzufordern. Diese Einzelheiten habe ich in den Beitrag nicht aufgenommen, hätte ich vielleicht tun sollen. Danke für Ihren Hinweis.
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