„Aufforderung zum Ertrinkenlassen“
„Das neue Dekret der italienischen Regierung ist eine Aufforderung zum Ertrinkenlassen“, so der Kommentar von Oliver Kulikowski, Pressesprecher der Rettungsinitiative „Sea-Watch“.
Der Ausdruck ist drastisch, aber leider begründet. Tatsächlich ist es das erklärte Ziel des „Sicherheitsdekrets“, mit dem Melonis Kabinett das Jahr abschloss, NGO-Schiffe, die im Mittelmeer Menschenleben retten, an der Erfüllung ihrer Aufgabe zu hindern. Die Schiffe würden zu den Schlepperbooten hin und her pendeln, um gezielt Flüchtlinge an Bord zu nehmen und an die italienische Küsten zu kutschieren, behauptete die Ministerpräsidentin bei ihrer Pressekonferenz zum Jahresabschluss.
Eine Unterstellung ohne Belege. In Wahrheit retten die NGO-Schiffe mit ihren Einsätzen Menschen, die von den Schleppern auf See ihrem Schicksal überlassen wurden, vor dem Ertrinken, Verdursten oder Verhungern. Es sind gefährliche, komplizierte und emotional stressige Einsätze, die sie nicht aus Lust und Laune tätigen, sondern weil sie sich verpflichtet fühlen, hier die komplette Untätigkeit der EU zu kompensieren. Dafür gebührte ihnen eigentlich Dank und Anerkennung, doch die italienische Regierung sieht in ihnen Feinde, die mit allen Mitteln lahmgelegt werden müssen.
Rettungsorganisationen kritisieren Dekret
Das neue Dekret trifft die Rettungsinitiativen hart. Sie reagieren mit ebenso harter Kritik. Hier Auszüge aus der Stellungnahme von Sea-Watch, veröffentlicht am 29. Dezember auf ihrer Webseite:
„Die zivile Rettungsorganisation Sea-Watch kritisiert das am 28.12.2022 von der ultrarechten italienischen Regierung beschlossene Dekret scharf. Dieses sieht unter anderem vor, dass Rettungsorganisationen empfindliche Strafen drohen, sollten sie nach einer ersten erfolgten Rettung nicht unverzüglich die Such- und Rettungszone verlassen. Bereits kurz zuvor hatte die Regierung eine neue Praxis im Umgang mit Rettungsschiffen eingeführt. Durch gezielte Zuweisung weit entfernter Orte als sichere Häfen für die Ausschiffung Geretteter sollen Rettungsschiffe möglichst lange von der Rettungszone ferngehalten werden.
Das am 28.12.2022 beschlossene Dekret richtet sich direkt und explizit gegen zivile Organisationen zur Seenotrettung und gegen Schiffe, die systematisch oder nicht nur gelegentlich Such- und Rettungseinsätze durchführen. Es beinhaltet verwaltungsrechtliche Sanktionen, die Geldstrafen von 10.000 bis 50.000 €, Festhalten des Schiffes und die Beschlagnahme und Einziehung des Schiffes vorsehen.“
Der „Techniker“ hat geliefert
Innenminister Piantedosi, der im Kabinett als „Techniker“ gilt, hat mit der Neuregelung keine technische, sondern eine politische Auftragsarbeit erledigt, entsprechend dem Willen der Ministerpräsidentin und seines Vorgängers (und früheren Chefs) Salvini.
Schon Anfang November, kurz nach Antritt der Meloni-Regierung, hatte Piantedosi mit abstrusen Konstruktionen ohne rechtliches Fundament mehreren Schiffen den Zugang zu einem sicheren Hafen verweigert. Zunächst versuchte er, die Verantwortung für die Aufnahme von Geretteten an die Staaten weiterzugeben, unter deren Flaggen die Rettungsschiffe fuhren. Vergeblich: Die Europäische Kommission erteilte ihm eine Abfuhr und stellte klar, maßgebliches Kriterium für die Aufnahme sei nicht die Flagge, unter der das Schiff fährt, sondern das Territorium, auf dem sich die Flüchtlinge befinden – wozu auch die nationalen Gewässer gehören.
Gescheitert war Piantedosi auch mit der von ihm erfundenen „selektiven Anlandung“, bei der nur kranken, schwangeren und minderjährigen Flüchtlingen erlaubt werden sollte, an Land zu gehen. Mit allen anderen sollten die Schiffe die italienischen Gewässer wieder verlassen und sich woanders einen Hafen suchen. Die von örtlichen Behörden und Bürgerinitiativen eingeschalteten Ärzte erklärten jedoch, alle Geretteten seien körperlich und psychisch extrem fragil und müssten unverzüglich an Land gebracht und versorgt werden. Der Innenminister musste wieder nachgeben.
Mit dem Gesetzesdekret versucht er jetzt, diesen bereits gescheiterten Versuchen einen pseudo-legalen Anstrich zu geben. Die Begründung lautet, die humanitären Aktionen im Mittelmeer würden die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit gefährden. Das ist grotesk, zumal über das Mittelmeer nur ein kleiner Anteil (11%) der Flüchtlinge Italien erreicht, die meisten kommen über andere Routen. Auch die Behauptung, mit den neuen Regeln werde ein bisher fehlender Verhaltenskodex der NGOs gegenüber den staatlichen Behörden eingeführt, ist nicht zutreffend. Das internationale Seerecht enthält ausreichende Verfahrensregeln, die von den Besatzungen bei Rettungseinsätzen gegenüber den Behörden der betroffenen Staaten zu beachten sind. Die NGOs bekräftigen immer wieder, dass sie diese auch einhalten.
Inhuman, rechtswidrig und schikanös
Hier zusammengefasst die wichtigsten Restriktionen, die ab sofort für die zivile Seenotrettung gelten:
NGO-Schiffe müssen nach einer ersten Rettungsaktion sofort und direkt den von den italienischen Behörden zugewiesenen Hafen ansteuern, auch wenn er weit entfernt vom Einsatzort liegt. Wenn sie andere Boote in Seenot bemerken, dürfen sie keine Hilfe leisten. Beide Bestimmungen verstoßen gegen das internationale Seenotrecht. Dieses schreibt vor, dass 1) den Rettungsschiffen der nächstgelegene sichere Hafen zuzuweisen ist und dass 2) in Fällen von Seenot immer einzugreifen ist, eine zahlenmäßige Begrenzung also nicht zulässig ist. „Sea-Watch“ schreibt dazu in ihrer Stellungnahme: „Werden zivile Rettungsschiffe nach erster abgeschlossener Rettung in einen Hafen gezwungen, während weitere Menschen in Seenot sind, verstößt dies gegen die im Völkerrecht verankerte Pflicht eines jeden Kapitäns zur Rettung. Das Unterlassen dieser Pflicht ist strafbar“.
Als erstes hat das Schiff „Ocean Viking“ der Organisation „SOS-Mediterranée“ die neuen Regeln zu spüren bekommen. Es musste mit 113 Geretteten an Bord – darunter Babys, unbegleitete Minderjährige und schwangere Frauen – bis zum Hafen von Ravenna im Nordosten Italiens fahren, der knapp 1700 km vom Einsatzort liegt und für den vier Tage Navigation nötig sind. Für die ohnehin erschöpften und traumatisierten Flüchtlinge eine – unnötige – Zumutung.
Riccardo Gatti von „Ärzte ohne Grenzen“ nennt die dahinter stehende Absicht: „Die Schiffe zu Häfen im mittleren Norden Italiens zu schicken, dient offensichtlich dazu, Hilfsaktionen einzuschränken. Wenn man einen Hafen zugewiesen bekommt, für den man vier Tage Navigation braucht, heißt dies schlicht, dass man die Präsenz der Rettungsschiffe dort, wo sie gebraucht werden, unterbinden will. Auch wenn dadurch Menschen sterben“.
Auch die Bestimmung ist rechtswidrig, die Kapitäne verpflichtet, von den Geretteten die Erklärung einzuholen, zur Beantragung von Asylschutz bereit zu sein. Laut UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) sind Kapitäne nicht für die Feststellung des rechtlichen Status der geretteten Personen zuständig. Jede Person habe das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren, wozu unter anderem die Anwesenheit von Übersetzern und den Zugang zu einem rechtlichen Beistand zählen. Dies sei auf Rettungsschiffen gar nicht umsetzbar, vielmehr sollten die Geretteten darüber aufgeklärt werden, dass Kapitäne nicht befugt sind, einen Asylantrag anzuhören, zu prüfen oder zu entscheiden.
Die NGOs haben erklärt, dass sie keinem Dekret Folge leisten werden, das gegen internationales Recht verstößt, und rechtliche Schritte gegen das Dekret angekündigt.
Schikanen gegen NGOs anstelle von Zuwanderungspolitik
Dessen ungeachtet behauptet die Ministerpräsidentin, das Dekret stehe im Einklang mit dem internationalen Recht. Ihre „Begründung“: „Das internationale Recht zur Seenotrettung sieht nicht vor, dass irgendjemand im Mittelmeer mit Fähren hin und her pendelt, um gemeinsam mit Schleppern Leute zu transportieren. Das internationale Recht sagt ganz klar, dass man intervenieren muss, wenn man zufällig jemanden antrifft, der in Seenot ist. Und das Dekret der Regierung zielt genau darauf ab, die Rettung von Migranten auf das einzugrenzen, was das internationale Recht vorsieht“.
Meloni rühmt sich, ihre Regierung habe „das Thema Migration wieder auf die europäische bzw. internationale Agenda gesetzt“. Was aber in Wirklichkeit durch Italien auf die EU-Agenda kam, waren Auseinandersetzungen über die Versuche, seine Häfen für Geflüchtete und ihre Retter zu sperren, was besonders mit Frankreich zu schweren Zerwürfnissen führte. Das Vorgehen Italiens gegen die Aufnahme von Flüchtlingen erleichtert kaum Fortschritte bei einer gemeinsamen EU-Zuwanderungsstrategie, sondern erschwert sie.
Das neue Dekret zeigt übrigens nicht „nur“ Verletzungen des internationalen Rechts und der Menschenrechte, sondern auch das komplette Fehlen jeglichen strategischen Ansatzes für eine Zuwanderungspolitik, die legale Einreisemöglichkeiten für Arbeitsmigranten definiert und gleichzeitig humanitäre Korridore für Flüchtlinge und Asylsuchende schafft. Und die sich nicht auf Notinterventionen beschränkt, sondern auch Bildungs- und Integrationsmaßnahmen für die Zugewanderten bereitstellt.
Da hilft es auch nichts, wenn der Innenminister gegenüber den Medien beteuert, die Regierung werde „eine Politik gegenüber den Herkunfts- und Transitländern entwickeln, die zu einem progressiven Ausräumen der Flüchtlingslager (in Libyen, MH) führt“. Das ist nur vages Gerede ohne politische Konsequenzen. Gleiches gilt für das Phantasieren der Regierungschefin über die Einrichtung von „Hotspots in Afrika“, die den Europäern lästige Migranten und Flüchtlinge vom Leib halten. Was bleibt, ist improvisiertes Handeln, das inhuman, schikanös und dazu auch noch nutzlos ist.