Eine neue „Siegesformel“ der Rechten?
Dass die italienische Linke die letzte Wahl auch wegen eigener Fehler verloren hat, war in den letzten Monaten häufig Gegenstand unserer Blog-Beiträge. Es liegt aber auch daran, dass die Rechte gelernt hat. Dies ist zumindest das Fazit einer Untersuchung, die jetzt zwei italienische Politologen vorlegten, die mit der römischen Filiale der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammenarbeiten (Marco Valbruzzo und Sofia Ventura: „Fratelli d’Italia e Lega – diversamente populisti di destra“). Ihre empirische Basis war eine repräsentative Befragung von 1000 Italienerinnen und Italienern, die sie unmittelbar nach der Wahl durchführten und die sich thematisch auf die beiden Rechtsparteien Fratelli d’Italia und Salvinis Lega konzentrierte.
Vom Wirtschaftsliberalismus zum Wohlstandschauvinismus
Der theoretische Ausgangspunkt der Untersuchung sind Veränderungen, die Politologen schon seit Jahrzehnten in der europäischen Wählerschaft der radikalen Rechten beobachten. Sie stützen sich dabei vor allem auf den in den USA lehrenden holländischen Politologen Cas Mudde: Während zur klassischen Rechten das Bekenntnis zur Marktfreiheit, zur ökonomischen Deregulierung, zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und zur Begrenzung des Wohlfahrtsstaates gehörte, habe sich neuerdings in der Wählerschaft der Anteil derer verstärkt, die ihre autoritäre Orientierung nicht mehr mit dem Ja zum ungehinderten Wirken des Marktmechanismus verbinden, sondern aufgrund ihrer eigenen „Proletarisierung“ auf ökonomischem Gebiet nach dem regulierend eingreifenden und umverteilenden Staat rufen. Dementsprechend sei es zur neuen „Siegesformel“ rechtsradikaler Parteien geworden, sich für staatliche Regulierungsmaßnahmen einzusetzen, diese Übernahme „linker“ Positionen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik aber dadurch zu kompensieren, dass sie „den Schwerpunkt des programmatischen und rhetorischen Konflikts in andere (kulturelle und identitäre) Dimensionen verschieben“. Dies erleichtere es der Rechten, auch sozial und ökonomisch marginalisierte Schichten anzusprechen, sofern sie sich als ansprechbar für neo-nationalistische Positionen erweisen. Dass diese Verbindung von „linker“ Wirtschaftspolitik mit „rechter“ Demagogie Erfolge erzielt, zeigen die Wahlergebnisse – vor allem wenn die Ressourcen knapp sind, die umverteilt werden können. „Wohlstandschauvinismus“ (welfare chauvinism) ist der Begriff, der beides zusammenfasst.
Eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung Italia
Valbruzzos und Venturas Untersuchung dient in erster Linie der empirischen Bestätigung dieser These, und zwar am Beispiel Italien. Dass auch dort die Wählerschaft der rechten Parteien nach dem regulierenden Staat ruft, zeigt die Liste ihrer durch die Befragung ermittelten Prioritäten: Überdurchschnittlich oft fordern die italienischen Rechtswähler – die Wähler von Meloni sogar noch häufiger als die Wähler von PD und M5S – staatliche Maßnahmen gegen Energieverteuerung und Inflation, gegen den Mangel an Arbeitsplätzen und Missstände im Gesundheitswesen, und fast ebenso häufig wie die Linke Maßnahmen für den ökologischen Übergang. Die deutlichsten Abweichung der rechten von der linken Wählerschaft zeigt sich erst beim Thema soziale Unterschiede – hier sind Linkswähler deutlich sensibler – und beim Thema Sicherheit und Kriminalität (bei diesem klassischen „rechten“ Thema ist es umgekehrt). Ein „linkes“ Thema blieb eine Agenda für mehr Bürgerrechte, ebenso wie der Ruf nach einem immigrantenfreundlicheren Staatsbürgerrecht, an dem sich die rechte Wählerschaft uninteressiert zeigt (wohinter auch Ablehnung steht) – was aber beides auch für die linke Wählerschaft keine hohe Relevanz hat.
Die beiden rechten Parteien haben sich programmatisch auf die veränderten Erwartungen ihrer Klientel eingestellt, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten: Die Lega betont stärker die Notwendigkeit von Steuererleichterungen und verbesserten Renten; Meloni hebt stärker die Notwendigkeit hervor, die Familien und die kleineren und mittleren Unternehmen zu unterstützen. Beiden gemeinsam ist das Ziel, die Infrastrukturen und der Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates zu verbessern. Mit dem entscheidenden Zusatz: aber nur zugunsten der „nativi“, der im Land geborenen autochthonen Italiener.
War der linke Universalismus schuld?
Bleibt die Frage, welche politischen Schlussfolgerungen aus dem Untersuchungsergebnis der FES Italia zu ziehen sind. Stefano Feltri, der junge Direktor der (moderat linken) Tageszeitung „Domani“, meinte am 24. 1. in einem Kommentar, die Untersuchung habe erwiesen, dass sich nun die programmatisch runderneuerte Rechte in einem „formidablen Wettbewerbsvorteil“ gegenüber einer Linken befinde, welche „durch ihr Bekenntnis zum Universalismus und ihr Gerechtigkeitsversprechen gezwungen ist, die Schutzrechte auf alle auszudehnen, auch auf weniger populäre Minderheiten“. Was man auch so lesen kann, dass für die Linke der programmatische Universalismus ein „unpopulärer“ Klotz am Bein sei, den sie schleunigst loswerden muss, um es wieder mit der Rechten aufnehmen zu können.
Eine gewagte These, die weitgehende Konsequenzen haben könnte, aber auch empirisch auf wackeligen Füßen steht. Denn erstens unterstellt die Untersuchung, dass die PD – die hier in erster Linie gemeint sein dürfte – bisher eine Politik verfolgte, die dem universellen Grundsatz der Gerechtigkeit, sprich den Menschenrechten verpflichtet ist. Was nur mit Einschränkungen den Tatsachen entspricht, wenn man z. B. sich ihre (von Minniti verantwortete und von der Rechten fortgesetzte) Politik gegenüber Libyen anschaut, die darauf abzielte, möglichst viele Bootsflüchtlingen postwendend wieder in die libyschen Lager zurückzuschicken. Zweitens unterstellt der Hinweis auf die „weniger populären Minderheiten“, bei deren Unterstützung die Linke ins Hintertreffen gerate, eine homogene Wählerschaft, die alle abstraft, die sich auf die Seite einer solchen Minderheit stellen. Die Untersuchung zeigt, dass die Unterstützung einer fremdenfeindlichen Politik durch die italienische Bevölkerung weniger kompakt ist, als hier vorausgesetzt wird: Die Aussage „Wer in Italien geboren wurde, sollte gegenüber den Immigranten bei der Arbeit den Vortritt haben“, wird zwar von den Rechtswählern mit Mehrheiten von über 70% unterstützt, in der Gesamtbevölkerung aber nur von 50%. Eines Besseren belehren müsste auch der Wiederaufstieg der 5-Sterne-Bewegung, die sich gerade mit der frühzeitigen Parteinahme für das Bürgergeld – sogar unter Inkaufnahme des Sturzes der Regierung Draghi – offenbar ihrerseits einen „Wettbewerbsvorteil“ gegenüber der PD verschaffte, der sich immer noch für sie auszahlt. Selbst wenn man zugesteht, dass in Feltris Fazit, der universalistische Anspruch der Linken sei vorteilhaft für die Rechte, ein Stück Realismus steckt, ist die Wahrheit paradoxer: Zum heutigen Dilemma zumindest der PD gehört es auch, diesem eigenen Anspruch bisher zu wenig gerecht worden zu sein.
Die Grenzen der Untersuchung
Die Grenzen der FES-Italia-Studie werden deutlich, wenn man ihr Ergebnis in dem Begriff „Wohlstandschauvinismus“ zusammenfasst. Denn bei genauerem Hinsehen auf die italienische Wirklichkeit erweist er sich als zweideutig: Sofern er „Chauvinismus“ mit Fremdenfeindlichkeit gleichsetzt und somit die Grenze zwischen den gebürtigen Italienern und „allen anderen“ zieht, stimmt immerhin die Hälfte der Italiener seiner Rhetorik („Italiener zuerst“) zu und entspricht ihm auch die Politik der neuen Regierung gegenüber Flüchtlingen und bereits in Italien lebenden Immigranten. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass sich die Politik der Rechten auch gegen einen Teil des eigenen Volks richtet, siehe die angekündigte Streichung des „Bürgergelds“ für Arbeitslose (vor allem im Süden). Ihre Einbeziehung gibt dem Begriff „Wohlstandschauvinismus“ eine andere Bedeutung: Nun zieht er auch die Grenze zwischen Mittelschicht und Unterschicht, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, in denen die politische Rechte nicht die eigene Klientel, sondern „Faulpelze“ und „Parasiten“ sieht, denen man nicht auch noch einen Teil der knappen Ressourcen hinterherwerfen sollte. Leider scheint die FES-Studie den Konflikt um das Bürgergeld nicht in die Empirie einbezogen zu haben, obwohl Meloni schon im Wahlkampf angekündigt hatte, dass eine der ersten Maßnahmen ihrer neuen Rechtsregierung darin bestehen würde, es wieder abzuschaffen. Dies ist eine Widersprüchlichkeit, welche die Linke zwar vor Probleme stellt, ihr aber auch einen Handlungsspielraum gibt, der größer ist, als es die Rede von dem „formidablen Wettbewerbsvorteil“ der Rechten behauptet.
Was die Untersuchung leider nur streift, ist das ambivalente Verhältnis der europäischen Rechten zu Europa. Für die Rechte legitimiert die Berufung auf das autochthone italienische „Volk“, dessen Stimme sie zu sein behauptet, nicht nur die Abgrenzung gegenüber den Migranten und in gewissem Sinn auch gegenüber den marginalisierten Schichten im Süden, sondern auch gegenüber den Bestrebungen der EU, die eigenen Kompetenzen auf Kosten der Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten auszuweiten. Das Problem für die Rechte ist dabei das Angebot, das die EU Italien in Gestalt des Next Generation-Programms macht. Auch eine rechte Regierung kann es sich nicht leisten, dieses milliardenschwere Angebot zu gefährden oder gar abzulehnen.