Zwei einschneidende Ereignisse
Am gestrigen Sonntag geschah zweierlei. Erstens wurde am Morgen bekannt, dass es wieder zu einer Flüchtlingstragödie vor der italienischen Küste gekommen ist. Und zweitens fand am gleichen Tag etwas statt, was damit scheinbar nichts zu tun hat: die „Primarie“ der PD, um als Nachfolger oder Nachfolgerin Enrico Lettas einen neuen Generalsekretär zu wählen. Mit einem überraschenden Ergebnis.
Die neuerliche Tragödie im Mittelmeer
Am Samstagabend sichtete ein Flugzeug der Frontex ein altes Fischerboot, das am „Stiefelabsatz“ im Ionischen Meer unterwegs war, 40 Seemeilen von Crotone entfernt. Da es voller Menschen war, funkte die Besatzung des Flugzeugs Alarm, woraufhin sich zwei Patrouillenboote der italienischen Küstenwache in Bewegung setzten. Da Wetter und Sicht schlecht waren und sie das Fischerboot nicht fanden, brachen sie die Suche ab. Am Sonntagmorgen um 5 meldet ein Fischer in Höhe des Ortes Cutro wenige Kilometer südlich von Crotone einen Schiffbruch mit einer unbekannten Anzahl von Opfern, und löst damit die höchste Alarmstufe aus. Der Strand von Cutra füllt sich mit Polizisten, Freiwilligen, Leuten vom Roten Kreuz und vom Zivilschutz.
Die Dämmerung enthüllt das ganze Grauen: Körper, die von den bis zu vier Metern hohen Wellen nebeneinander an Land gespült wurden oder noch im aufgewühlten Meer treiben, darunter viele Kinder und Frauen. Es gibt aber auch Menschen, die noch um ihr Leben kämpfen. Zwei versuchen mit einem Kleinkind an Land zu gelangen, das sie gemeinsam hochhalten; beide werden gerettet, es sind der Onkel und der Bruder des Kindes. Aber das Kind ist tot, alle Wiederbelebungsversuche am Strand scheitern.
Das motorisierte Fischerboot kam auf der neuen Fluchtroute aus der Türkei. Hier begann sie am Donnerstag in Izmir, mit ca. 180 Menschen an Bord. Viele von ihnen sind Kriegsflüchtlinge, die pro Kopf im Durchschnitt 2500 Euro bezahlten, um „nach Europa“ zu kommen: Afghanen, Iraner, Pakistani, Somalis und Palästinenser. Als sich das Wetter verschlechtert und sich das Boot dem kalabrischen Festland nähert, läuft das Boot auf Grund, es stößt auf eine Sandbank oder gegen einen Felsen. Es zerbricht in zwei Teile und wird von dem aufgewühlten Meer sofort in seine Einzelteile zerlegt. Viele der Flüchtlinge können nicht schwimmen, sie schaffen es nicht an Land. Andere trägt die Strömung fort, es werden noch Leichen vier Kilometer entfernt gefunden. An diesem Morgen werden 80 gerettet, 60 tot geborgen, ca. 30 werden noch vermisst.
Als die Medien die Nachricht von der neuerlichen Flüchtlingskatastrophe verbreiten, kommt abends der neue Innenminister Piantedosi, eine Kreatur Salvinis, in die Präfektur von Crotone. Er klärt sofort die Schuldfrage: Die Schlepper sind verantwortlich und die Flüchtlinge selbst: Ihre Abreise („partenza“) sei schuld, sonst wären sie nicht ums Leben gekommen. Dass er mit seinem Kreuzzug gegen die NGOs dazu beiträgt, das Mittelmeer zu einem Friedhof zu machen, ist unerheblich.
Sieg einer Outsiderin
Am gleichen Sonntag wird Elly Schlein als erste Frau in der Geschichte der Partei zur Generalsekretärin der PD gewählt. Sie gewinnt die Stichwahl gegen Stefano Bonaccini, den Präsidenten der Region Emilia-Romagna, mit 54% zu 46%. Die Vorentscheidung in den örtlichen Parteigliederungen („circoli“), die sich mit 52,8% für Bonaccini aussprachen, wird auf den Kopf gestellt. Anders als in den „circoli“ nahmen an der offenen Stichwahl auch Nicht-Mitglieder teil, wenn sie schriftlich erklärten, Wähler der PD zu sein und die Ziele der Partei zu unterstützen. An der Stichwahl beteiligten sich 1,2 Millionen.
„Wir haben eine kleine große Revolution vollbracht“ ruft die Siegerin ihren jubelnden Anhängern zu. Und dann etwas verschmitzt: „Auch diesmal hat man uns nicht kommen sehen“. Tatsächlich galt der gestandene Parteipromi Bonaccini – zumal nach dem Ergebnis in den „Zirkeln“ – als gesetzt. Spekuliert wurde nur darüber, wie groß der Abstand zwischen den beiden sein würde. Schlein ließ sich nicht beirren. Während ihrer „Gewaltwahltour“ durch ganz Italien gab sie sich selbstbewusst: „Ich werde immer unterschätzt. Und dann gewinne ich“. Was auch stimmt: sowohl als Newcomerin bei den Europa-Wahl 2014 als auch 2020 bei den Regionalwahlen in der Emilia-Romagna, wo sie mit einer unabhängigen Liste Bonaccini unterstützte, konnte Schlein erstaunliche Ergebnisse erzielen.
„Auch diesmal hatte man uns nicht kommen sehen“
Auch das fiese Regenwetter am vergangenen Sonntag konnte nicht verhindern, dass sich vor den Wahlständen (5.500 in ganz Italien) lange Schlangen bildeten. Viele junge Menschen, aber auch etliche ehemalige Mitglieder oder Wähler, die der Partei enttäuscht den Rücken gekehrt hatten, reihten sich ein, um „Elly“ zu wählen.
Das sei „ein Fest der Demokratie und Bürgerbeteiligung“ gewesen, freute sich nicht nur Schlein, sondern auch der unterlegene Bonaccini und der ehemalige Generalsekretär Letta. Eine positive Bewertung, die allerdings Ambivalenzen enthält, die Schlein noch Probleme bereiten können. Denn die Umkehr des „innerparteilichen“ Wahlvotums durch die offene Stichwahl könnten gerade Parteimitglieder (und ein Teil der Parteinomenklatura, zu der Schlein, anders als Bonaccini, nicht gehört) als Missachtung betrachten. Die neue Parteichefin wird darauf achten müssen, auch diese einzubinden, wenn sie die Partei stärken und vermeiden will, dass sie durch ihre Führung zu einer „linken Nische“ wird, was existenzgefährdend sein könnte. Dass sie das weiß, zeigen ihre Worte schon am Wahlabend: „Wir werden die verschiedenen politischen Kulturen in unserer Partei zusammenhalten, allerdings ohne auf den klaren Kurs zu verzichten, für den wir bei dieser Wahl eintraten“. Ein schwieriger Spagat.
Mehr als eine „Anti-Meloni“
Die größte Herausforderung bleibt für die junge Parteiführerin, zu der rechtsradikalen Regierung von Giorgia Meloni eine starke Opposition aufzubauen, die nach der Wahlniederlage im Herbst und dem Führungsvakuum nach dem (angekündigten) Rücktritt von Letta erlahmt war. Dafür wird es nicht reichen, dass die Person Schlein zu einer Art „Anti-Meloni“ wird , wozu sie schon die Medien hochstilisieren. Eine Opposition, die nur auf die Ministerpräsidentin fixiert und darauf bedacht ist, „es ihr und ihrer Regierung“ zu zeigen, bliebe steril und würde die Menschen kaum interessieren, die Antworten auf ihre konkrete Probleme und Sorgen erwarten: prekäre Arbeit, Inflation, Angst vor dem Krieg, dem Klimawandel und um die eigene Zukunft. Schlein hat in ihrer Kampagne versucht, darauf einzugehen und Wege aufzuzeigen. Nun muss sie diese auch in den Mittelpunkt der Oppositionsarbeit ihrer „neuen“ PD stellen. Sie wird dazu auch Verbündete brauchen, um eine und mehrheitsfähige politische Alternative zu der Rechten aufzubauen.
Den Kurs und die programmatischen Schwerpunkte hat sie in ihren Auftritten und einem Positionspapier zur Wahl bereits skizziert. Sie nennt drei zentrale – eng miteinander verbundene – Herausforderungen: Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und Prekarisierung, ökologischer Umbau, gleiche Rechte für Frauen und Minderheiten. Die neue PD könne nur eine „soziale, ökologische und feministische“ sein. Dazu sei eine gerechtere Umverteilung von Ressourcen notwendig: der wirtschaftlichen, zeitlichen, räumlichen und energetischen.
Viele dieser Punkte stimmen mit dem Programm ihres unterlegenen Konkurrenten Bonaccini überein: Mindestlohn, progressive Besteuerung, Förderung erneuerbarer Energien, Ausbau des Gesundheitswesens und der Bildung, Stärkung der EU. Dennoch sind ihre politische Positionen nicht deckungsgleich. Bonaccini, der für einen pragmatischen Reformkurs und administrative Erfahrung steht, zielte darauf ab, „alle“ mit seinem Programm und seiner Botschaft zu erreichen: Jung und Alt, Frauen und Männer, Arbeiter, Mittelschicht und Unternehmer. Er folgt insofern dem Kurs, den die PD seit Jahren vertritt – mit schwindendem politischen Erfolg.
Anders Schlein. Sie plädiert mit Vehemenz dafür, programmatische Prioritäten zu setzen und die Identität der PD zu schärfen. „Man kann nicht gleichzeitig für alles und für das Gegenteil von allem sein“ heißt es in ihrem Positionspapier, „denn so kommt am Ende dabei heraus, dass man überhaupt niemanden repräsentiert. Es ist Zeit, mehr Mut zu haben, in unseren Entscheidungen, unseren Vorschlägen und in unserer Vision. Wir müssen deutlich machen, wen wir repräsentieren wollen“. Nämlich zuallererst jene, die „die größten Lasten tragen“ und besonders benachteiligt oder diskriminiert sind („gli ultimi“). Es gehe dabei nicht abstrakt „Reformismus oder Radikalität“, sondern darum, wie „ein neoliberales Entwicklungsmodell verändert werden kann, der sich als absolut untauglich erwiesen hat, Ungleichheiten vertieft und den Planeten zerstört“.
Die Bündnisfrage
Auf diese Frage antwortet die sonst pointiert auftretende Schlein etwas diffus. So in der Art: es mache keinen Sinn, abstrakt über Allianzen zu reden, man müsse vielmehr anhand konkreter Vorschläge jeweils schauen, mit wem ein Bündnis eingegangen werden kann. Dennoch ist klar, dass sie dabei nicht den zentristischen „Terzo Polo“ von Renzi und Calenda im Blick hat, sondern die von Conte geführte 5-Sternebewegung.
Diese ist in den letzten Jahren von einer Protestbewegung mit dem populistischen Ansatz „weder rechts noch links“ zu einer linksorientierten bzw. linkspopulistischen Partei mutiert. Wie stetig diese Entwicklung sein wird, lässt sich noch nicht erkennen. Sicher ist, dass ihre Akteure alles andere als zuverlässig sind (s. ihr Vorgehen zum Sturz der Draghi-Regierung mit folgenden vorgezogenen Neuwahlen). Und sicher ist auch, dass Conte anstrebt, der PD Wählerstimmen zu entziehen. Jetzt hat er gnädig erklärt, dass er die neue Generalsekretärin treffen möchte (Letta hatte er dies stets verweigert). Schlein ist sicher nicht so naiv, darin einen verlässlichen Sinneswandel zu sehen, sie weiß aber andererseits, dass die PD auf eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit den 5Sternen nicht verzichten kann.
Die heikelste Frage: die Haltung zum Aggressionskrieg gegen die Ukraine
Dass Elly Schlein den russischen Einfall in die Ukraine (in der sie übrigens familiäre Wurzeln hat) und die imperialen Absichten Putins scharf verurteilt, steht außer Zweifel. Sie unterstützt ohne Wenn und Aber die Hilfen der EU und der atlantischen Allianz im ukrainischen Widerstandskampf, und zwar wirtschaftlich, humanitär und militärisch. Gleichzeitig betont sie, dass die EU und die ganze internationale Gemeinschaft ihre politischen und diplomatischen Anstrengungen steigern müssen, um einen Weg für Friedensverhandlungen zu öffnen.
Eine richtige und nachvollziehbare Haltung. Kritik gibt es allerdings von einigen Kommentatoren als auch von Teilen der PD an ihrer Haltung gegenüber der Frage der Erhöhung des Verteidigungshaushalts: hier weiche sie aus oder äußere Zweifel. In Interviews hatte sie erklärt, wichtig sei, dass die EU ihre gemeinsame Verteidigungspolitik stärkt, das würde auch ermöglichen, die Verteidigungsausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten „zu optimieren und zu rationalisieren“, statt sie zu erhöhen. Sehr konkret ist eine solche Aussage nicht und man wird jetzt, wo sie die Führung der größten Oppositionspartei übernimmt, sehen, ob diese Zweifel ihrer Kritiker berechtigt sind.
Im Interesse Italiens und Europa ist jedenfalls, dass die neue Parteiführerin bei dem Aufbau einer starken Alternative eine glückliche Hand hat. Schon allein das grausame Massensterben im Mittelmeer erfordert das. Hier hat sie immer eine klare Haltung gehabt, im Unterschied auch zur PD, welche die Flüchtlingslager in Libyen mitzuverantworten hat. Den Willen und auch die Fähigkeiten hat sie, nun braucht sie bei dieser Herkulesaufgabe auch kräftige Unterstützung.