Soziale Frage im Fokus
Die linksgerichtete CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) ist der größte und mächtigste Gewerkschaftsverband Italiens. Ihr Generalsekretär Maurizio Landini ist ein erfahrener und charismatischer Gewerkschaftsführer, der mit den jeweiligen Regierungen – linken wie rechten – selbstbewusst und auf Augenhöhe verhandelt.
Entsprechend hoch war das politische und mediale Interesse an dem Nationalkongress des Verbandes, der vom 15. bis 18. März in Rimini stattfand, und an den dort erwarteten Gästen: von der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bis zu den Leadern der Oppositionsparteien – allen voran Elly Schlein (PD) sowie Giuseppe Conte (5Sterne), Nicola Fratoianni (Sinistra Italiana/Verdi) und Carlo Calenda (Terzo Polo).
„Schließen wir uns in einem Zimmer ein“
Bei der Diskussionrunde mit den Oppositionsführern zeigte sich klar, wem die Zuneigung der tausend Delegierten gehört: Die Medien zählten bei den Redebeiträgen Schleins zwanzig mal Applaus, Conte musste sich mit zwölf zufrieden geben – und für Calenda gab es nur Pfeifkonzerte.
Mit Schlein an der Spitze könne die CGIL zur PD wieder den „politischen und kulturellen Einklang“ finden, sie sei in der Lage, die „alte und neue Welt der Arbeit“ anzusprechen und verbinde die ökologische Transformation eng mit der sozialen Frage – so einige Delegierte.
So war es auch die PD-Chefin, die in der Podiumsrunde die Themen setzte: Mindestlohn, Bekämpfung des Prekariats, Ausbau des öffentlichem Gesundheitswesens, Förderung industrieller Innovationen, progressive statt flache Besteuerung, Verhinderung der regionalen Autonomiereform, um die bereits vorhandene Spaltung zwischen Nord und Süd nicht noch weiter zu vertiefen. Die neben ihr sitzenden Leader von 5SB, Sinistra Italiana/Verdi und Terzo Polo fordert sie auf, hier gemeinsam vorzugehen. „Setzen wir uns zusammen, schließen wir uns in einem Zimmer ein und gehen erst dann auseinander, wenn wir einen Konsens gefunden haben“. Conte und Fratoianni signalisieren Gesprächsbereitschaft, Calenda winkt ab: „Nicht mit mir!“ (Pfeifkonzert).
Melonis Absage an Gewerkschaften und Opposition
Am nächsten Tag war die Ministerpräsidentin Hauptgast. Eine kleine „radikale“ Gruppe der CGIL verweigerte Meloni ihr Gehör: sie legte zu ihrem Empfang Stofftiere auf den Boden, um an die kleinen Opfer der Schiffskatastrophe von Cutro zu erinnern, und verließ dann – „Bella ciao“ singend – den Saal. Die große Mehrheit blieb zwar sitzen (CGIL-Chef Landini: „Wir hören jedem und jeder zu“), verfolgte aber Melonis Rede mit absolutem Schweigen.
Die Regierungschefin gab sich unbeeindruckt und nannte ihren Auftritt als Chefin einer rechten Regierung auf einem Kongress der (linken) CGIL „historisch“. Um dann deren Forderungen eine Absage zu erteilen. Ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn schade den Arbeitnehmern, denn er schwäche die Verhandlungskraft der Gewerkschaften in Tarifrunden, was den Arbeitnehmerschutz reduziere. Man müsse stattdessen den Kreis der tarifgebundenen Unternehmen erweitern (was die Regierung nicht beeinflussen kann, MH).
Neue Sozialzuwendung begünstigt kinderreiche Familien
Das – von der Regierung inzwischen abgeschaffte – Bürgergeld („reddito di cittadinanza“) stempelt Meloni ebenfalls als untauglich ab, da es „potentiell Beschäftigungsfähige“ vom Arbeitsmarkt fern halte, und preist die von ihrer Regierung geplante „Maßnahme zur aktiven Inklusion“ („Misura di inclusione attiva/MIA“) als das richtige Modell.
Laut Gesetzesentwurf wird die „MIA“, die das Bürgergeld ersetzt und im September in Kraft treten soll, die Unterstützung für Alleinstehende ohne Kinder von 500 auf 375 Euro absenken, da sie als „beschäftigungsfähig“ gelten. Ein Etikett, das an der Realität vorbei geht: die Jugendarbeitslosigkeit in Italien ist überdurchschnittlich hoch (22,9%, in Deutschland 4,4%), weil – vor allem im Süden – Arbeitsplätze fehlen, von denen man leben und eine Familie ernähren kann, und nicht, weil junge Italiener besonders faul sind. Wenn überhaupt, bekommen sie befristete und unterbezahlte Stellen oder jobben schwarz, ebenfalls für Hungerlöhne.
Begünstigt werden von „MIA“ Familien mit minderjährigen Kindern und/oder Personen, die behindert bzw. älter als 60 Jahre sind. Sie erhalten einen Grundbetrag von 700 Euro, der je nach Anzahl der Kinder aufgestockt wird. Insgesamt sind die Hilfen jedoch niedriger als beim früheren Bürgergeld. Restriktionen gibt es auch für die Dauer der Unterstützung: für Alleinstehende nur 12 (statt bisher 18) Monate, mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit für 6 Monate. Die Zuwendung entfällt künftig schon bei Ablehnung des ersten (bisher zweiten) Arbeitsangebots.
Melonis Steuerreform: „Der Fiskus als Freund“
Ein weiteres Konfliktfeld zwischen Regierung und Opposition ist die geplante Steuerreform, sie trägt die Überschrift: „Der Fiskus als Freund – Ein Pakt zwischen Steuerzahler und Staat“. Sie sieht anstelle stärkerer Progression (die als Grundprinzip im Art. 53 der Verfassung verankert ist) eine Ausweitung der sogenannten flachen Besteuerung („flat tax“) für alle vor: abhängig Beschäftigte, Unternehmer, Freiberufler, Rentner. Also einen reduzierten gleichen Steuersatz unabhängig vom Einkommen,wovon vor allem Mittel- und Hochverdiener profitieren. Ein solches – sicherlich vereinfachtes – System würde zu einem insgesamt geringeren Steuereinkommen für die Staatskasse führen, was in einem hoch verschuldeten Land wie Italien kaum ohne Kürzungen im Sozialbereich und bei öffentlichen Dienstleistungen kompensiert werden könnte
Opposition und Wirtschaftsexperten kritisieren auch den „Pakt“ zwischen Steuerzahlern und dem „fisco amico“ als weiteres Geschenk – nach diversen Amnestien und Steuererlassen – für Steuerhinterzieher. Er besteht in einer „einvernehmlichen Vereinbarung“ für die Dauer von zwei Jahren („concordato preventivo biennale“) über den zu zahlenden Steuerbetrag auf der Grundlage eines – einvernehmlich geschätzten – Einkommens, der in dieser Zeit unveränderbar bleibt. Man darf raten, wer vor allem an einem solchen Pakt interessiert ist. Sicher nicht die Arbeitnehmer und Rentner, deren Einkommen und Besteuerung feststehen und kaum Spielräume für „Schätzung“ bieten. Wohl aber die vielen kleinen und mittleren Selbständigen verschiedener Bereiche, die schon jetzt das Gros der Steuerhinterzieher ausmachen. Die Regierung meint, der „Pakt“ diene der Vertrauensbildung und solle „präventiv und nicht repressiv wirken“. Na dann: Grazie, fisco amico!
Auch um die Bürgerrechte verschärft sich die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Vor einer Woche protestierten in Mailand ca. 10.000 Menschen gegen das vom Innenministerium verhängte Verbot für die Bürgermeister, Geburtsurkunden von Kindern gleichgeschlechtlicher Paare, die im Ausland geboren wurden, in die amtlichen Standesregister zu übertragen. Da hier bisher in Italien eine gesetzliche Regelung über die Anerkennung der Kinder von nicht biologischen Eltern fehlte, entschieden sich viele Bürgermeister pragmatisch für eine solche Übertragung. Dies soll fortan nicht mehr möglich sein. PD-Chefin Elly Schlein nahm an der Kundgebung teil, die unter dem Motto „Hände weg von unseren Kindern!“ stattfand, und kündigte den Entwurf eines Gesetzes an, das die Gleichbehandlung aller Kinder (und Eltern) rechtlich sicherstellt.
Aktuelle Umfragen: Schlein zieht die PD nach vorne …
Um an allen diesen „heißen Fronten“ voranzukommen und die Regierung in Bedrängnis zu bringen, müssten die Oppositionsparteien geschlossen auftreten, wie Schlein nicht müde wird zu bekräftigen. Doch damit tut sich ausgerechnet Conte, der Leader der nach der PD zweitwichtigsten Oppositionspartei, besonders schwer. Er hadert heftig mit dem sogenannten „effetto Schlein“, der dazu führt, dass die PD stetig in Umfragen steigt, während die 5Sterne an Zustimmung verlieren.
Nach einer Umfrage des Instituts „Demopolis“ vom 20. März hat die PD innerhalb von zwei Monaten mehr als fünf Prozentpunkte hinzugewonnen und liegt jetzt bei 20,2% (hinter Melonis Partei mit ca. 30%), was umgerechnet einem Zuwachs von 1 Million und 800.000 Wählerstimmen entsprechen würde. Die 5SB bleibt mit 15% (- 0,8%) auf dem dritten Platz. Demopolis hat auch recherchiert, woher sich diese potentiellen Neuwähler rekrutieren, mit folgendem Ergebnis: bei 70 von 100 Befragten handelt es sich um frühere Nichtwähler, 16 von 100 kommen von der 5SB, 5 von Sinistra Italiana/Verdi und 9 von anderen Parteien. Auch wenn die direkte Abwanderung von 5SB zur PD gering ist, ist Conte alarmiert, weil sich vor allem das große Reservoir der Nichtwähler inzwischen Richtung Schlein orientiert – und nicht mehr zu ihm.
… und Conte setzt auf die „pazifistische Karte“
Der Vorsitzende der 5Sterne reagiert, indem er sich mit eigenen Positionen von der PD abzusetzen versucht. Vor allem auf dem zentralen Feld des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Die von Anfang an skeptische Haltung der 5SB zu Waffenlieferungen an die Ukraine hat sich immer mehr zur grundsätzlichen Ablehnung entwickelt, insbesondere seit dem Sieg Schleins bei den Vorwahlen und dem folgenden Aufwärtstrend der PD. Conte hofft, sich in Italien an die Spitze der pazifistischen Bewegung zu setzen (ähnlich wie Sahra Wagenknecht in Deutschland), um daraus politischen Profit zu ziehen und Schlein in Bedrängnis zu bringen.
Bei der parlamentarischen Debatte, die letzte Woche über eine Resolution zum Europarat stattfand, attackierte Conte frontal die Ministerpräsidentin mit dem Vorwurf, sie würde „mit hohem Tempo Italien in den Krieg führen“. Seine Attacke galt nicht nur Meloni, sondern indirekt auch Schlein. Deren Position es ist, den Verteidigungskampf der Ukrainer auch militärisch zu unterstützen und gleichzeitig ein stärkeres diplomatisches Engagement der EU anzumahnen – mit dem Ziel, zu Friedensverhandlungen zu kommen.
Der Weg zu einer geschlossenen Opposition gegen die rechtsextreme Regierung scheint steiniger zu sein, als es sich die PD-Chefin vielleicht vorgestellt hat.