Eine Stimme der Kirche: Die Menschenrechte und der Zynismus der Macht

Vorbemerkung der Redaktion: Die Anzahl der Toten, die nach dem Schiffbruch des türkischen Fischerboots an die kalabresische Küste geschwemmt oder aus dem Meer geborgen wurden, ist inzwischen auf 71 Frauen, Männer und Kinder gestiegen – aber noch immer werden einige vermisst. Gegenwärtiger Stand der Ermittlungen: Das Schiff war schon Samstagabend, also 5 Stunden vor dem Schiffbruch, von einem Frontex-Flugzeug gesichtet, fotografiert und aufgrund verschiedener Indizien als ein Boot identifiziert worden, das aus der Türkei kam, mit möglicherweise Hunderten von Flüchtlingen unter Deck. Aber obwohl das Flugzeug diese Nachricht sofort den zuständigen Behörden vom Küstenschutz und von der Polizei zufunkte und sich das Wetter in der Nacht verschlechterte, unternahm die italienische Seite nichts – wenn man davon absieht, dass zwei Patrouillen-Boote der Guardia di Finanza ausliefen, um das Fischerboot polizeilich zu kontrollieren, aber eben wegen des schlechten Wetters gleich wieder umkehrten. Auf die Idee, dass dieses Wetter ein Grund mehr war, um sofort die unsinkbaren und auf Seenotrettung spezialisierten Schiffe der Küstenwache in Bewegung zu setzen, ist offenbar niemand gekommen – bis das Fischerboot am Sonntagmorgen hundert Meter vor der Küste auseinanderbrach. Inwieweit dies mehr als ein Fall von mörderischer Gedankenlosigkeit war – nämlich die billigende Hinnahme einer derartigen Konsequenz durch eine Regierung, die ja auch bisher schon alles tat, um die Seenotrettung im Mittelmeer zu erschweren -, könnte vielleicht (?) die laufende Untersuchung klären.

Das Wrack und die Trümmer

Dass dieser Verdacht, so ungeheuerlich er ist, nicht aus der Luft gegriffen sein könnte, dafür gibt es inzwischen ein weiteres Indiz: den Zynismus, der in den Verlautbarungen der (zuständigen) Minister Piantedosi und Salvini nach dem Schiffbruch zum Ausdruck kam. Denn unter dem Beifall Salvinis gab Piantedosi nach dem Schiffbruch eine Erklärung ab, die den Menschen grundsätzlich das Recht auf Flucht abspricht, zumindest wenn sie „riskant“ ist (welche Flucht ist das nicht?) und wenn „Frauen und Kinder“ mitgenommen würden, was dann völlig „verantwortungslos“ sei. Eine Flucht scheint also für Piantedosi eine Art Segeltörn zu sein, den man besser absagt, wenn die Familie dabei ist und die Wetteraussichten schlecht sind. Die Flüchtlinge, die für ihn grundsätzlich „illegal“ sind, zeigen durch ihre Flucht auch noch kriminelle Verantwortungslosigkeit. Dass sie dann ihrem Schicksal überlassen werden, so die unausgesprochene Suggestion, daran sind sie selbst schuld.

Die Spitzen der FdI und der Rechtskoalition haben sich sofort hinter Piantedosi gestellt. Und schließlich schloss sich ihnen auch Giorgia Meloni, die auf Auslandsreise war, nach mehrtägigem Schweigen an: Die Lösung des Problems sei es, schon die „Abreisen“ („partenze“) zu verhindern. Wie das Meloni beispielsweise bei Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien oder dem Iran bewerkstelligen will, bleibt ihr Geheimnis.

Anders Staatspräsident Mattarella: Er reiste nach Crotone, um die Überlebenden im dortigen Krankenhaus zu besuchen und dann vor den aufgebahrten Toten seine Betroffenheit zu zeigen. Und anders auch bei einem Teil der italienischen Bevölkerung, bei der die Erklärungen von Piantedosi einen Sturm der Entrüstung auslösten. Auch die Katholische Kirche meldete sich zu Wort – zumindest der Teil des Klerus, der nicht der Eingebung Salvinis folgt, dass die Madonna persönlich dem Kampf gegen die Bootsflüchtlinge ihren Segen gebe. So auch Corrado Lorefice, den Papst Franziskus 2015 an der Kirchenhierarchie vorbei zum Erzbischof von Palermo ernannt hatte – er war auf ihn aufmerksam geworden, weil sich Lorefice als junger Priester bedingungslos auf die Seite der Armen schlug und den Kampf gegen die Mafia aufnahm. – nach dem Vorbild seines Mentors Don Pino, den die Cosa Nostra 1993 ermordet hatte, ebenso wie die Richter Falcone und Borsellino.

Im Folgenden übersetzen wir ungekürzt die Erklärung, mit der Lorefice schon am 28. Februar, also zwei Tage nach der Katastrophe, an die Öffentlichkeit getreten war (dem frühen Zeitpunkt ist es geschuldet, dass er noch von „63 Toten“ sprach). Mit seltener Klarheit bringt er zum Ausdruck, dass es hier um die Menschenrechte geht, wobei er nicht davor zurückscheut, Ross und Reiter auch politisch beim Namen zu nennen (und dabei nicht nur an die italienische Regierung, sondern auch an die europäischen Institutionen denkt). Als Ort des Schiffsbruchs redet er von „Cutro“: ein Ort mit 10.000 Einwohnern, an dessen Strand der Schiffbruch geschah. Cutro liegt etwa 20 Km westlich von der größeren Stadt Crotone.

Erklärung des Erzbischofs von Palermo zu der Schiffskatastrophe von Cutro

„Unsere Brüder und Schwestern, die 63 Toten von Cutro, die von den Wellen unseres Meeres in ihrem letzten verzweifelten Kampf verschlungen wurden, als sie von den Leiden der Flucht aus ihrer gepeinigten Heimat erschöpft waren – bis zum letzten Atemzug hatten sie sich an eine Hoffnung geklammert: endlich ein Land zu betreten, das sie retten und aufnehmen kann. Ein anderes Land als jenes, das sie tragischerweise verlassen mussten, weil es nicht in der Lage war, ihnen das Recht auf Leben und Sicherheit zu geben, das allen Menschen zusteht.

Aber vor dem kalten Horizont einer Küste, die ihnen nicht zu Hilfe kam und nicht die kostbare Einzigartigkeit ihres Lebens schützen konnte, vermochten unsere pakistanischen, afghanischen, iranischen und syrischen Brüder keinen Unterschied mehr zu dem Land zu erkennen, das sie verjagt, verfolgt, bedroht und ins Exil gezwungen hatte.

Wenn sie es an Land geschafft hätten, hätten sie uns gefragt – und das fragen uns die entsetzten Augen der Überlebenden weiterhin –, welche Grundlage noch das Versprechen hat, das wir Europäer gaben, als wir die universelle Erklärung der Menschenrechte schrieben. Und sie hätten uns die Frage gestellt, die wir uns als Bürger und Christen selbst und im Namen jedes Einzelnen von ihnen auch den italienischen und europäischen Regierungen stellen müssen: Haben wir verstanden, dass wir dieses Versprechen gerade auch jenen gaben, die heute noch aus Orten fliehen, an denen diese Rechte unbekannt sind oder verletzt werden. Und ob uns klar ist, dass wir, als wir sie sterben ließen, als erstes diese Menschenrechte verletzten.

Nicht nur angesichts der Ereignisse in Kalabrien sehen wir uns zu dieser Feststellung genötigt, sondern auch angesichts der schwerwiegenden Leugnung jeder Verantwortung und des Mangels an politischem und humanitärem Bewusstsein seitens der nationalen und internationalen Institutionen, die nur damit beschäftigt sind, mit Ländern wie Libyen Verträge zu schließen, um Migranten aufzuhalten und in Lager zu drängen, die nichts anderes als Konzentrationslager sind.

Es gibt heute keinen Raum mehr, sich rauszuhalten; für jeden von uns ist die Zeit gekommen, klar jedes Narrativ zurückzuweisen, das die Schuld den schwächsten Gliedern der Gesellschaft zuschieben will. Die Verantwortung liegt bei uns: Was in Cutro geschah, war kein Unfall, sondern notwendige Folge der italienischen und europäischen Politik dieser Jahre, und die notwendige Folge dessen, dass wir Bürger und Christen – trotz aller Appelle von Papst Franziskus – nicht unsere Stimmen erhoben und nicht das Nötige taten, sondern uns abwandten oder lau und ängstlich blieben.

Der symbolische Höhepunkt von alledem war die Erklärung von Innenminister Piantedosi. welche die Schuld den Opfern zuschiebt. Und das sagt ein Mann der Institutionen, der seinen Eid auf die Verfassung geschworen hat – also auf jene Verfassung, die an erster Stelle die Unverletzlichkeit der Menschenrechte anerkennt und garantiert. Wie ich schon beim Friedensgebet am 4. November 2022 sagte: Wir stehen alle in Gefahr, an einer besonderen Form von Alzheimer zu erkranken, die uns die Gesichter der Kinder vergessen lässt, die Schönheit der Frauen, die Kraft der Männer, die weise Zärtlichkeit der Alten. Eine Alzheimer-Art, die uns den Duft eines geteilten Mahls vergessen lässt.

In Erinnerung an die evangelische Botschaft eines Messias, der die Armut wählte und sich auf die Seite der Armen schlug, glauben wir als Christen – gemeinsam mit den Frauen und Männern guten Willens und den zahlreichen humanitären Organisationen, die sich im Mittelmeer und auf den anderen Fluchtrouten engagieren -, dass es unerlässlich ist, Antwort auf die vielen offenen Fragen zu geben. die der Schiffbruch von Cutro aufwirft. Und unmissverständlich die enorme Verantwortung derjenigen klarzustellen, die den Schiffbrüchigen nicht zur Hilfe kamen und sie im Meer sterben ließen.

Machen wir endlich den Weg frei für die lang erwarteten humanitären Korridore, setzen wir uns für das Asylrecht und die Integration ein. Machen wir gemeinsam aus unserer Erde einen fruchtbaren Garten des Lebens, in dem wir die Chance haben, ein Zusammenleben in Unterschieden zu erproben und zu erfahren.

Corrado Lorefice, Erzbischof von Palermo“