Kantige Konservative?
„Erleben wir also die Metamorphose einer neofaschistischen Erbin zu einer zwar kantigen, aber verantwortungsvollen Konservativen, die die nationalen Interessen ihres Landes mit Härte vertritt?“, fragte Ulrich Ladurner in der ZEIT vom 2. März in seinem Artikel über Giorgia Meloni (Titel: „Immer im Kampfmodus“). Dahinter steht zwar noch ein Fragezeichen, aber der Artikel suggeriert, bei Giorgia Meloni könne eine solche Metamorphose im Gange sein, auch wenn an dem konservativen Küken, das sich da aus den Eierschalen ans Licht arbeitet, noch ein paar Reste vergangener Zeiten hängen (z. B. der ewige „Kampfmodus“).
Als der Artikel veröffentlicht wurde, schien Ladurners Hoffnung nicht ganz unbegründet zu sein. Im scheinbaren Widerspruch zu den Befürchtungen, die Melonis Aufstieg begleiteten, war ihr Auftreten überraschend beherrscht, die „Alphamännchen“ an ihrer Seite (Salvini und Berlusconi) hielt sie zumindest in der Ukraine-Frage am kurzen Zügel, und auch ihr Auftreten gegenüber der EU war pragmatischer als erwartet. Als am Morgen des 26. Februar das von Izmir kommende Fischerboot vor der kalabrischen Küste zerbrach und die toten Flüchtlinge an Land geschwemmt wurden – was Innenminister Piantedosi zu der sofortigen Erklärung veranlasste, schuld seien die Flüchtlinge selbst -, konnte man noch hoffen, dass dies die erste Reaktion eines Überforderten war, der sich nur schnell von jeder Verantwortung reinzuwaschen suchte, und dass Meloni das schon irgendwie korrigieren würde.
Trügerische Hoffnung
Denn zunächst schien sie von dem Sturm der Entrüstung, den die Einlassung von Piantedosi auslöste, nach ihrer Rückkehr auch ein wenig beeindruckt zu sein. Sie distanzierte sich zwar nicht von ihm, aber ließ verlautbaren, dass sie an einem Dekret arbeite, das die Koordinierung der Maßnahmen in solchen Notfällen künftig an das Verteidigungsministerium übertrug, womit Piantedosi ein Teil seiner Zuständigkeit entzogen wäre. Gleichzeitig häuften sich in den Medien Nachrichten, dass der Mangel an Arbeitskräften in allen Bereichen der Wirtschaft – in der Industrie, der Landwirtschaft, dem Bau-, Transport- und Gesundheitswesen, den Pflegediensten und dem Tourismus – immer mehr zu einem Notstand anwächst, bei dem es um Hunderttausende fehlender Arbeitskräfte geht. Da Meloni Wert auf gute Beziehungen zur Wirtschaft legt, kündigte sie gleich ein weiteres Dekret zur Förderung der gesteuerten Einwanderung („decreto flussi“) an, wobei sogar von 250.000 fehlenden Arbeitskräften die Rede war. Was ein erster Durchbruch wäre, auch wenn es noch an dem alten Dualismus zwischen „legal“ und „illegal“ festhält (die „Legalen“ rekrutiert man im Ausland, nachdem sie dort möglichst mundgerecht für den italienischen Bedarf ausgebildet wurden, die „Illegalen“ klopfen ungebeten an die eigene Haustür). Aus der italienischen Wirtschaft wurden schon Stimmen laut, die fragten, ob man denn nicht die fehlenden Arbeitskräfte auch direkt in den inländischen Aufnahmezentren für Flüchtlinge rekrutieren könnte – bei etwas Ausbildung, natürlich, aber mit Perspektive bis zur Rente.
Das Dekret
Im Rückblick auf die Geschehnisse der vergangenen Wochen wird klar, dass Meloni solchen Überlegungen schon wegen einer Ideologie nicht zugänglich ist, die sie mit Salvini und ihren Parteifreunden teilt und die auch nicht durch Katastrophen wie Cutro in Frage gestellt wurde: Die weltweiten Migrationsbewegungen sind das Werk krimineller Menschenhändler und Schlepper, hinter denen dunkle Mächte stehen, die Länder wie Italien letztlich „entchristianisieren“ und „umvolken“, zumindest aber „destabilisieren“ wollen. Die Idee, die Koordinierung der Maßnahmen in den Fällen von Seenot an das Verteidigungsministerium zu übertragen, wurde aufgegeben (Salvini protestierte zu heftig), und das unter dem Druck der italienischen Wirtschaft angekündigte „decreto flussi“ wurde auf die lange Bank geschoben. Stattdessen beschloss der Ministerrat als Reaktion auf die Katastrophe von Cutro ein Dekret, das die zukünftige Richtung zeigt: Jeder Versuch, „illegal“ nach Italien zu kommen, muss „entmutigt“ („scorraggiato“) werden. Salvini hatte auch hier Erfolg: Das Duldungsrecht für Personen, die im Herkunftsland ethnischer oder religiöser Verfolgung ausgesetzt waren, soll ihnen wieder entzogen werden – Salvini hatte es schon als Innenminister unter „Conte 1“ abgeschafft, aber musste dabei zusehen, dass es von „Conte 2“ wieder eingeführt wurde. Seine Wiederabschaffung bedeutet, dass Tausende von Flüchtlingen, die auf auf der Grundlage einer solchen Duldung in den letzten Jahren in Italien eine Arbeit fanden, wieder in das Heer der „Illegalen“ zurückgestoßen werden. Dafür werden die Haftstrafen für die Schlepper, nach denen man „zu Lande und zu Wasser fahnden“ werde, weiter verschärft, und wenn bei den „illegalen“ Fluchthilfen Menschen zu Tode kommen, wie in Cutro, dann sogar mit Haftstrafen bis zu 30 Jahren. Womit die Schuldfrage bei Katastrophen wie in Cutro wieder einmal geklärt wäre. Dass es zu ihr auch deshalb kam, weil die italienischen Behörden das Auslaufen der Boote der Küstenwache verhinderten, wäre dann juristisch unerheblich. Und es wäre der Freifahrtsschein auch dafür, das Mittelmeer auch in Zukunft so weit wie möglich nicht nur von den verhassten NGOs, sondern auch von den eigenen Institutionen zur Seenotrettung freizuhalten.
Statt Empathie Karaoke
Die Reaktion der neuen Rechtsregierung auf die Katastrophe von Cutro hat einen weiteren Aspekt, der auf den ersten Blick nur schwer zu begreifen scheint: das fast demonstrative Fehlen jedes Zeichens von Empathie. Das Meer hat inzwischen 76 Tote freigegeben, darunter auch viele Frauen und Kinder, andere werden immer noch vermisst. Staatspräsident Mattarella flog wenige Tage nach der Katastrophe nach Cutro und Crotone, um die Überlebenden im Krankenhaus zu besuchen und den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Zu einer ähnlichen Geste seitens der Regierung kam es nicht, auch nicht von Giorgia Meloni, die sich im Wahlkampf als „Frau“, als „Christin“ und ganz besonders auch als „Mutter“ inszeniert hatte (der Bürgermeister von Crotone bat sie öffentlich wenigstens als „Mamma“ um ein entsprechendes Zeichen). Als einzige Antwort berief sie für den 9.März eine Sitzung des Ministerrats nach Cutro ein, um dort das neue Dekret zur Bekämpfung der Schlepper zu verabschieden, mit anschließender kurzer Spazierfahrt durch den Ort – zu mehr sei „wegen anderer Termine“ keine Zeit. Auch nicht zu einem Treffen mit den Überlebenden, die sie stattdessen zu einem Besuch in ihrem Amtssitz im Palazzo Chigi einlud. Als dann die Kolonne der Staatskarossen langsam durch Cutro rollte, bewarfen sie Bürger und Flüchtlinge gemeinsam zum Zeichen des Protests mit Stofftieren, als Symbol für die ertrunkenen Kinder,
Der „andere Termin“ war Salvinis 50. Geburtstag, der noch am gleichen Abend groß gefeiert werden sollte. Die ganze Rechte war versammelt, samt Berlusconi. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Am späteren Abend wurde Karaoke gesungen, und das Bild, wie dabei auch Meloni mit Salvini einen gemeinsamen Auftritt hatte, ging durch ganz Italien: Die beiden sangen Arm in Arm „Marinella“, die gefühlvolle Ballade von Fabrizio de André über eine junge Prostituierte, die in einem Fluss ertränkt wurde. Der Beifall der Anwesenden, von denen viele am Vormittag noch in Cutro waren, soll rauschend gewesen sein.
Die Frage, ob und inwieweit diese Geburtstagsgesellschaft zu Salvinis 50. eine Versammlung von „Faschisten“ war, ist akademisch, Aber hier zeigte sich eine Gemeinsamkeit: das Nebeneinander von Empathiefähigkeit (auch die Nazis liebten ihre Kinder!) und Empathieverweigerung. Am Morgen ist man noch in Cutro, wo man gemeinsam beschließt, dass die ertrunkenen Toten selbst schuld seien. Und am Abend de Andrés „Marinella“. Ist eine solche selektive Selbstimmunisierung „konservativ“?
Nachspiel 1: Untergang eines Schlauchboots. Inzwischen eingelaufene Meldungen sprechen vom Beginn einer Massenflucht über das Mittelmeer. Am 10. März rettete die italienische Küstenwache, die dafür sogar die Marine zu Hilfe rief, an einem Tag 1800 Flüchtlinge vor dem Ertrinken. In der folgenden Nacht geschieht mit einem Schlauchboot, das sich von Libyen aus mit 47 Flüchtlinge an Bord in Bewegung gesetzt hat, Ähnliches wie in Cutro: Das Boot, offensichtlich in Seenot, wird von einem Flugzeug gesichtet. Diesmal führt der ausgelöste Alarm dazu, dass sich sofort ein in der Nähe befindlicher Frachter zur Unglücksstelle in Bewegung setzt. Aber da sich das Schlauchboot noch in libyschem Hoheitsgewässer befindet, entscheidet die römische Zentrale, dass hierfür die libysche Küstenwache zuständig und bereits benachrichtigt sei. Sie werde ein Rettungsschiff schicken, weshalb der Frachter keine Hilfe leisten, sondern nur vor Ort bleiben solle. Nach vielstündigem Warten kommt aus Bengasi die Nachricht, dass „heute kein Schiff zur Verfügung steht“. Und von der römischen Zentrale die Antwort: „Danke für die Information, bye-bye“. Inzwischen haben weitere Schiffe den Unglücksort erreicht. Da die Situation des Schlauchboots immer unhaltbarer wird (Ausfall des Motors, Sturmstärke 6, meterhohe Wellen. das Schlauchboot ist manövrierunfähig), entschließt sich im Morgengrauen ein Schiff zu dem Versuch, die 47 Insassen an Bord zu nehmen, auch ohne dazu autorisiert zu sein. Bei der Operation überschlägt sich das Schlauchboot, 17 werden gerettet, die restlichen 30 verschwinden im Meer.
Nachspiel 2: Empfang im Palazzo Chigi. Am Samstag, den 18. März, zieht Giorgia Meloni durch, was sie am 9. März in Cutro angekündigt hatte: die Einladung Überlebender oder Angehöriger nach Rom. Nur noch 24 Personen nahmen die Einladung an, die anderen waren schon abgereist. Keine Öffentlichkeit, war die Devise. Nur drei Flüchtlinge sollten reden, ansonsten stellte Meloni die Fragen. Die 24 werden in einer Reihe aufgestellt, sie begrüßt jeden mit Handschlag, was ein hinterher freigegebenes Video dokumentiert. Hinterher sickert durch, was Meloni ihre Gäste fragte: Ob sie sich vorher bewusst gewesen, welche „Risiken“ mit dieser Flucht verbunden seien? Hier scheint für Meloni das Treffen aus dem Ruder gelaufen zu sein: Alle fingen zu reden an. Ein Afghane habe gesagt: Unter anderen Umständen hätte er sich nie auf eine solche Reise eingelassen. Aber er habe in Afghanistan für die Amerikaner und Europäer gearbeitet, in denen die Taliban ihre Feinde sehen. Da habe es für ihn keine Alternative gegeben.
Die anschließende Pressemitteilung aus dem Palazzo Chigi meldete nur, das Treffen sei „sehr positiv“ verlaufen. Die Antwort des Afghanen blieb unerwähnt. Ebenso die Frage, die offenbar Meloni immer wieder gestellt wurde: „Warum kam niemand zu Hilfe?“