Chancen und Risiken eines Aufbruchs
„Die Frau, die die italienische Politik aufrüttelt (nein, es ist nicht die neue Ministerpräsidentin)“. So titelte die New York Times am 4. März ihren Artikel über die frisch gewählte PD-Generalsekretärin Elly Schlein. „Aufrütteln“ trifft ziemlich genau sowohl Schleins selbstgewähltes Ziel als auch die Welle, die zu ihrem Sieg geführt hatte und sie jetzt immer noch begleitet. Bei der antifaschistischen Demonstration in Florenz am vergangenen Samstag, ihrem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit nach der gewonnenen Stichwahl, stand sie so stark im Zentrum des Interesses, dass sie den Ansturm von Anhängern und Reportern erst höflich aber bestimmt abwehren musste, bevor sich der Demonstrationszug, an dessen Spitze sie stand, überhaupt in Bewegung setzen konnte.
Begegnung zwischen Schlein und Conte
Aufgerufen hatte der Gewerkschaftsbund CGIL , nachdem vor einem Gymnasium in Florenz drei Studenten von einem faschistischen Schlägertrupp der „Azione studentesca“ (Jugendorganisation von Melonis Partei FdI) brutal verprügelt worden waren. Als ob das nicht genug war, hatte Bildungsminister Valditara (Lega) auch noch eine Schulleiterin gerügt und mit Sanktionen bedroht, weil sie in einem offenen Brief ihre Schüler ermuntert hatte, angesichts faschistischer Gewalt nicht gleichgültig zu sein, denn der Faschismus in Italien „wurde nicht mit großen Versammlungen von Tausenden geboren, sondern auf irgendwelchen Bürgersteigen, wo Opfer von Schlägertrupps von gleichgültigen Passanten der Gewalt überlassen wurden“. In ihrem Brief berief sie sich auf die antifaschistische Verfassung Italiens, was dem Minister – der darauf sein Eid geschworen hat – offenbar missfiel.
Zur Protestdemonstration kamen viel mehr als erwartet (die Veranstalter sprechen von 40.000). Neben Gewerkschaftern, Schülern, Studenten und parteilosen Bürgern nahmen auch die PD, die 5-Sternebewegung, Sinistra Italiana/Verdi und – vereinzelt – Anhänger von Renzis Partei daran teil. Dabei kam es auch zu einer Begegnung von besonderer Bedeutung: zum ersten Mal nach Schleins Sieg trafen sich die neue PD-Chefin und der Vorsitzende der 5Sterne, unter den wohlwollenden Augen von CGIL-Chef Landini als eine Art Ehevermittler. Freundliches Händeschütteln und – zur Freude der Reporter – eine flüchtige Umarmung.
Nach der Eiszeit zwischen PD und 5SB, die dem Sturz der Draghi-Regierung durch die Grillini (im Zusammenspiel mit Lega und Forza Italia) folgte, nahmen beide Leader den Gesprächsfaden wieder auf. Die kurze Begegnung endete mit der Verabredung, sich bald wieder zu treffen.
Schwieriger Annäherungsprozess
Auf die Frage nach einer möglichen Wiederbelebung der früheren rot-gelben Allianz wiederholt Schlein das immer gleiche Mantra: Es gehe nicht um abstrakte Allianzen, sondern um die vielen konkreten Themen, bei denen die Opposition gut daran täte, gemeinsam und geschlossen aufzutreten. Dazu zählten der Mindestlohn, der Umgang mit Migranten und Flüchtlingen, die ökologische Transformation, die Verhinderung der Pläne zur erweiterten regionalen Autonomie („autonomia differenziata“) und die Stärkung von Gesundheitswesen und Bildung.
Conte hält sich mit Aussagen zurück und bekundet nur generell seine Gesprächsbereitschaft (die er Schleins Vorgänger Letta stets verweigert hatte). Er ist zur Zeit derjenige, der stärker unter Konkurrenzdruck steht: Die Wahl Schleins hat viele beflügelt, wozu auch einige gehören, die von der PD zu den 5Sternen gewandert waren und nun zurückkehren. Dem Aufruf Schleins gleich nach ihrem Wahlsieg, in die PD einzutreten, folgten innerhalb einer Woche über 10.000, vermutlich auch aus dem grillinischen Lager. In den Umfragen holt die PD auf: Anfang März kletterten ihre Zustimmungswerte in gut einer Woche auf 19% (+2,6). Damit ist sie zweitstärkste Partei nach Melonis FdI, während die 5SB mit 15,7% (-1,3) auf den dritten Platz zurückfiel.
Es sind aber nicht nur die Konkurrenz um die Wählergunst und die politische „Volatilität“ von Conte und den Seinen, die den Annäherungsprozess erschweren: Neben konsensfähigen Themen gibt es in der zentralen Frage der Haltung zum Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Differenzen. „Ich bin mit dem Nein der 5Sterne zu Waffenlieferungen an die Ukraine nicht einverstanden“ erklärte Schlein zum wiederholten Male auch gegenüber dem NYT. Die volle Unterstützung der Ukraine – politisch, finanziell, humanitär und auch militärisch – in ihrem Kampf gegen die „kriminelle Invasion“ durch Putins Russland stehe nicht zur Diskussion. Gleichzeitig sei es allerdings notwendig, dass sich die EU stärker als bisher bei der Suche nach politisch-diplomatischen Wegen zu einer Beendigung des Krieges engagiert, um möglichst bald „einen gerechten Frieden unter Beachtung der territorialen Integrität der Ukraine“ zu erreichen.
Ob trotz dieser Hypothek eine Zusammenarbeit von PD und 5SB auf Dauer zustande kommt, ist nicht gewiss. Um der rechtsextremen Regierung eine starke Opposition und eine politische Alternative entgegenzustellen, führt aber kein Weg daran vorbei, es zumindest zu versuchen.
Wie nachhaltig ist der Aufbruch?
Wird der Enthusiasmus, der Schlein zum Sieg getragen hat, anhalten oder in absehbarer Zeit verpuffen? Zu früh, um die Frage zu beantworten. Bisher hat die neue Generalsekretärin jedenfalls keine Fehler gemacht.
Innerparteilich setzt sie auf Inklusion und versucht, den unterlegenen Bonaccini und seine zahlreiche Anhänger einzubinden. Die Einheit der Partei mit ihren „verschiedenen Kulturen“ sei unverzichtbar, bekräftigt sie. Gleiches gelte allerdings auch für einen klaren politischen Kurs und erkennbare Identität. Die Zeit der Machtkämpfe zwischen den „correnti“ (Seilschaften), die dies verhinderten, sei vorbei.
Bonaccini reagierte auf die Niederlage, zumindest bisher, souverän und loyal. Gleich nach seiner Niederlage erklärte er, mit seiner ehemaligen Konkurrentin eng zusammenarbeiten und sie unterstützen zu wollen. Ein wichtiger „Friedensaufruf“ vor allem an seine Anhänger in den örtlichen Parteizirkeln, die bei der internen Wahl mehrheitlich für ihn gestimmt hatten. Schlein hat inzwischen Bonaccini, seinem Wunsch entsprechend, die Funktion des Parteipräsidenten (und gleichzeitig Präsidenten der Vollversammlung) angeboten, der in erster Linie innerparteiliche und organisatorische Aufgaben hat. Auf der sich neu konstituierenden Vollversammlung am heutigen Sonntag (12. März) wurde Schlein als politische Sekretärin bestätigt und Bonaccini zum Parteipräsidenten gewählt.
Nach außen streckt Schlein die Fühler zu anderen Oppositionskräften aus, allen voran zur 5SB, jedoch ohne Abstriche an ihrem Anspruch, als Leader der wichtigsten Oppositionspartei ihre eigene politische Agenda voranzutreiben. Gegenüber der Rechtsregierung und der Ministerpräsidentin hat sie – zuletzt im Parlament im Zusammenhang angesichts des Massensterbens von Flüchtlingen vor der Küste Kalabriens – gezeigt, dass sie ihre Argumente artikuliert, fundiert und scharf vorbringen kann, ohne schrill oder aggressiv zu werden. Auch auf dem medialen Parkett bewegt sie sich bisher richtig. Nach dem Besuch von Staatspräsident Mattarella erwies sie – als einzige Politikerin – in Crotone den aufgebahrten Opfern der Schiffskatastrophe ebenfalls die Ehre, lehnte aber jegliche Stellungnahme oder Erklärung ab, um jeden auch nur entfernten Eindruck von politischer Instrumentalisierung vorzubeugen. Sie zog es vor, in Abwesenheit der Medien mit Angehörigen der Opfer zu sprechen.
Ministerpräsidentin Meloni hat solche Gesten des Respekts und der Empathie nicht für nötig gehalten, sie verlegte stattdessen eine Kabinettssitzung nach Cruto, dem Ort der Tragödie, ohne die Aufbahrungshalle aufzusuchen oder Kontakt zu den Überlebenden aufzunehmen. Auf die Kritik von Bürgern und Journalisten lautete ihre Antwort, dafür sei „keine Zeit“ gewesen, sie werde die Angehörigen später in ihren Amtssitz einladen. Die Katastrophenopfer sollen also zu ihr kommen, um ihr die Reverenz zu erweisen, statt umgekehrt (viele haben bereits die Einladung abgelehnt).
Die „Anti-Meloni“-Falle
Schleins Start ist also gelungen. Aber die harten Bewährungsproben kommen noch: von dem Ukrainekrieg bis zu den Auseinandersetzungen um die Migrationspolitik, Bürgerrechte, regionale Autonomie und Sozialpolitik, wo die Regierung anstelle des bisherigen Bürgergeldes (reddito di cittadinanza) eine reduzierte Form von Sozialhilfe einführen will, die weite Teile der von Armut Betroffenen ausschließt.
Noch etwas stellt für die junge PD-Chefin ein Risiko dar: ihre Reduzierung auf die Rolle einer „Anti-Meloni“. Dass die italienischen wie internationalen Medien dieser Versuchung nicht widerstehen können, ist verständlich: Auf einmal stehen, ausgerechnet im „Macho-Land Italien“, zwei junge, starke und grundverschiedene Frauen an der Spitze der Politik, die eine als Regierungschefin, die andere als Oppositionsführerin. Ihre öffentliche Auftritte, ihre Sprache, ihr „Modell von Weiblichkeit“ und ihr Politikstil werden verglichen, bewertet, analysiert. Das ist naheliegend, birgt aber die Gefahr, dass die politischen Inhalte und Überzeugungen, die beide verkörpern, in den Hintergrund geraten. Obwohl diese das Entscheidende sind.
Meloni hat ihr „Credo“ auf einer Veranstaltung lauthals so zusammengefasst: „Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin Italienerin, ich bin eine Mutter, ich bin eine Christin!!“. Nationalismus, rückwärtsgewandtes Frauenbild, Exklusion der „Anderen“ – ob religiös, sexuell oder ethnisch. Schlein hat kein „Credo“, ihr Selbstbewusstsein speist sich aus anderen Lebenserfahrungen, ihre politische Botschaft ist zukunftsgerichtet. Wenn sie das in den Mittelpunkt stellt, dabei einen guten Job macht und sich nicht von der Obsession, das „Gegenbild der anderen“ zu sein, irre machen lässt, kann sie Meloni so „alt“ aussehen lassen, wie sie in Wirklichkeit ist.