Eiserne Hand gegen Flüchtlinge
Am gleichen Tag, an dem Staatspräsident Mattarella bei der Gedenkveranstaltung „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz daran erinnerte, dass „die faschistischen Regimes in Europa Bürgerinnen und Bürger ihren nazistischen Henkern auslieferten“, warnte Italiens Landwirtschaftsminister Lollobrigida (FdI) vor der Gefahr „eines ethnischen Austauschs“. In einer öffentlichen Rede beklagte er den Geburtenrückgang in Italien: „Wir dürfen nicht vor der Vorstellung eines ethnischen Austauschs kapitulieren, nach dem Motto ‚Die Italiener kriegen weniger Kinder, also ersetzen wir sie durch andere‘. Das ist nicht der richtige Weg“.
Die Mär des „ethnischen Bevölkerungsaustauschs“
Die Verschwörungstheorie des „großen ethnischen Bevölkerungsaustauschs“ ist ein rekurrierender Topos von Rechtsradikalen, Identitären und rechtsextremen Terroristen, die sich dabei auf einen angeblichen „Kalergi-Plan“ berufen (genannt nach dem Schriftsteller, Politiker und Gründer der Paneuropäischen Union Richard Coudenhove-Kalergi), dem zufolge die weiße europäische Bevölkerung durch die gezielte Einwanderung von Afrikanern und Asiaten ersetzt werden soll. Trump spricht von einem „alwhite genocide“, Orban sieht dahinter die Regie von Juden (Soros) und in Deutschland gehört die Mär vom ethnischen Austausch zum AfD-Repertoire.
In diese illustre Gesellschaft reiht sich auch Meloni ein, Chefin (und Schwägerin) des Ministers Lollobrigida. In einer Rede 2017 sagte sie: „Es handelt sich um eine systematisch geplante Invasion, sie heißt ethnischer Austausch“. 2018 wendete sie sich – unter Rückgriff auf antisemitische Ressentiments – gegen „Haie und Spekulanten wie George Soros, den jemand als Philanthrop sieht und dabei vergisst, dass er jemand ist, der den ethnischen Austausch der europäischen Völker finanziert“.
Jetzt versucht Lollobrigida, seine Äußerungen angesichts heftiger Kritik zu verharmlosen, indem er behauptet, er sei kein Rassist, sondern „nur ignorant“ (sic), und habe „nicht gewusst, was ethnischer Austausch bedeutet“. Schlimm genug, wenn es so wäre. So ist es aber nicht, denn der Minister wiederholt exakt, was Meloni und andere Rechtsradikale seit Jahren verbreiten.. Nicht viel besser sind die Beschwichtigungen von Melonis Verbündeten Lega und Forza Italia: Lollobrigidas Wortwahl sei zwar falsch und „hässlich“ gewesen – in der Sache aber habe er natürlich recht.
„Nationaler Notstand“ ausgerufen
Es geht in der Tat um die Sache und nicht allein um Worte. Um Fakten und um das Handeln einer Regierung, die Flüchtlinge als „Invasoren“ betrachtet, gegen die sich Italien abschotten muss – wenn nötig, an internationalen Vereinbarungen vorbei. Statt der globalen Migration mit strukturellen Maßnahmen zu begegnen, die sowohl Steuerung als auch Integration und die Beachtung der Menschenrechte und des Asylrechts beinhalten, behandelt die italienische Regierung Zuwanderung als permanenten Notstand und Schutzsuchende, die nicht bereits über einen Aufenthaltstitel verfügen, von vornherein als „Illegale“, denen keine Rechte zustehen.
Inzwischen hat die Regierung tatsächlich – nicht nur metaphorisch, sondern real – den „nationalen Notstand“ ausgerufen, zunächst für die Dauer von sechs Monaten. Dieser kann nach den Bestimmungen zum Zivilschutz in Katastrophenfällen vom Kabinett beschlossen werden; der Regierung ermöglicht er, durch Eilverordnungen Maßnahmen in Kraft zu setzen, ohne dass sie vom Parlament abgesegnet werden. Im Fall des „Flüchtlingsnotstands“ gehören dazu u. a. beschleunigte Asylverfahren an der Grenze, die Errichtung neuer Aufnahme- und Abschiebezentren und die Ernennung eines Sonderbeauftragten. Ausgewählt und mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet wurde hierfür Valerio Valenti, im Innenministerium zuständig für Migrationsfragen.
Dass die Zahl von Bootsflüchtlingen, die über Italien den Weg nach Europa suchen, stark zugenommen hat, trifft zu. Seit Jahresanfang waren es ca. 36.000, gegenüber knapp 8.000 im gleichen Vorjahreszeitraum. Insgesamt beträgt in Italien die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber ca. 200.000. Sicher eine hohe Zahl, aber ganz bestimmt kein „Katastrophenfall“. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern rangiert Italien bei der Statistik auf einem mittleren Platz. An erster Stelle liegt Deutschland, wo insgesamt über eine Million Geflüchtete mit unterschiedlichem Schutzstatus und eine weitere Million ukrainische Kriegsflüchtlinge (in Italien sind es ca. 170.000) leben, ohne dass der „Katastrophenfall“ ausgerufen wurde.
„Gesetzesdekret Cutro“: weniger Rechte, weniger Integration
Der nationale Notstand bedient das Narrativ einer „Invasion“ durch Migranten und Flüchtlinge, die eine schrumpfende autochthone Bevölkerung bedrängen. Diesem Narrativ folgt auch das sogenannte „Decreto Cutro“, das im März vom Kabinett beschlossen wurde und am vergangenen Donnerstag mit 93 Ja und 64 Nein den Senat passierte. Die abschließende Abstimmung wird in der Abgeordnetenkammer im Mai folgen.
Schon die Überschrift des Gesetzesdekrets ist verstörend, weil sie sich ausgerechnet auf Cutro bezieht, den Ort in Kalabrien, vor dessen Küste vor einigen Wochen ein Flüchtlingsboot unterging, weil die italienische Behörden – trotz warnender Hinweise der europäischen Agentur Frontex auf einen Seenotfall – nicht rechtzeitig intervenierten. Bilanz: 94 Tote, davon ca. ein Drittel Kinder. Nun wird ausgerechnet mit dem Namen „Cutro“, der für diese vermeidbare Katastrophe steht, ein Maßnahmenpaket betitelt, das noch schärfere Beschneidungen von Flüchtlingsrechten einleitet. Mit der Neuregelung konnte die Lega einen großen Teil der „Sicherheitsdekrete“ des ehemaligen Innenministers Salvini wieder einführen, welche die folgenden Regierungen („Conte 2“ und Draghi) zurückgenommen hatten.
Humanitäre Duldung weitgehend abgeschafft
Ein zentraler Punkt des Dekrets ist die weitgehende Abschaffung des sogenannten „Sonderschutzes“ („protezione speciale“, früher „protezione umanitaria“ genannt). Er ist vergleichbar mit der Duldung in Deutschland und gilt für Personen, die rechtlich keinen individuell Anspruch auf Asyl haben, aber wegen Krankheit, Schwangerschaft, Naturkatastrophen, Gefahr von sexueller bzw. religiöser Verfolgung oder anderer Gründe nicht abgeschoben werden. Durch das Dekret wird dieser „Sonderschutz“ jetzt nur auf wenige Ausnahmefälle begrenzt.
Meloni, Salvini und weitere Vertreter der Regierungsparteien behaupten dabei immer wieder, die „protezione speciale“ gäbe es nur in Italien und in keinem anderen europäischen Land. Aus Äthiopien, wo sie gleichzeitig mit der parlamentarischen Beratung über das Dekret Cutro zu einem offiziellen Besuch war, bekräftigte die Ministerpräsidentin – nachdem sie kurz davor ergriffen und medienwirksam äthiopische Kinder geherzt hatte -: „Wir werden die ‚protezione speciale‘ beseitigen, denn sie stellt einen höheren Schutz dar als in den sonstigen Ländern Europas“.
Dass diese Form des Schutzes ein „italienisches Unikum“ (O-Ton Salvini) darstellt, ist eine Lüge. Denn sie existiert innerhalb der EU in 18 (von 27) Ländern. In Deutschland entspricht sie der Duldung, die inzwischen auch erweiterte Möglichkeiten zur Arbeits- oder Ausbildungsaufnahme eröffnet und bei gelungener Integration sogar den Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis ermöglicht. In unterschiedlichen Varianten gibt es sie auch in Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Griechenland und weiteren Ländern.
Der Verlust des Sonderschutzes bewirkt nun, dass Tausende von Flüchtlingen – einschließlich Familien mit Kindern – nicht mehr in Asylunterkünften wohnen und an wesentlichen Gesundheitsleistungen teilhaben dürfen. Da meistens eine Abschiebung bzw. Rückführung nicht möglich ist, werden sie in Italien bleiben, aber die Regierung setzt sie ohne Mittel zum Überleben auf die Straße – sie treibt sie damit in die Illegalität, die sie vorgibt, beseitigen zu wollen. Offensichtlich erlischt Melonis Liebe und Empathie für afrikanische Kinder, sobald sie einen Fuß auf italienischen Boden setzen.
Die Abschaffung der „protezione speciale“, die bereits zu Salvinis Sicherheitsdekreten gehörte, steht in Widerspruch zu internationalen Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte. Sie war daher schon 2018 vom Staatspräsidenten angemahnt worden, der auf der Einführung eines Passus zur Beachtung „der verfassungsrechtlichen Pflichten und internationaler Vereinbarungen“ bestand. Bei der neuen Auflage wollte die Lega diesen Bezug auf solche internationale Verpflichtungen weglassen, was erneut zur Intervention Mattarellas führte. Er machte Meloni klar, er werde das nicht durchgehen lassen – und der Passus war wieder drin.
Salvinis Jagd auf Konsens
Weitere Restriktionen sind der Ausschluss von Asylbewerbern von der Teilnahme am “SAI“-Programm („Sistema di accoglienza e integrazione“), das in der Zuständigkeit der Kommunen liegt, und ihre Unterbringung in zentralen Aufnahmestellen für „illegal eingereiste Ausländer“, bis über ihr Asylverfahren entschieden wird (was Jahre dauern kann). Die Teilnahme am „SAI“-Programm bleibt nur Personen vorbehalten, die entweder bereits asylberechtigt sind bzw. über humanitäre Korridore nach Italien kommen (eine verschwindend kleine Anzahl) oder gesundheitliche Beeinträchtigungen haben.
Die Lega jubelt, man habe Salvinis Sicherheitsdekrete von 2018 wieder eingeführt und das Versprechen eines Stopps der „illegalen“ Migration eingehalten. Was Unsinn ist. Denn die massive Beschneidung von Rechten wird keinen Flüchtling davon abhalten, den Weg nach Europa zu suchen. Schon davor hatten der harte Kurs der Regierung bei der Seenotrettung und die Schikanen bei der Anlandung zu keinem Rückgang der Flüchtlingszahlen geführt. So auch jetzt, wo täglich Boote mit Hunderten von Schutzsuchenden Italiens Küste erreichen. Was sich aber Salvini erhoffen kann, ist das Anwachsen von Ängsten und Ressentiments gegen die „fremde Invasion“ und mehr Konsens für seine Partei. Die Rechnung scheint aufzugehen: in den letzten Umfragen kommt die Lega auf 10% (+ 2 Punkte).
Viele Bürgermeister appellierten öffentlich an die Regierung, das Gesetzesdekret und insbesondere die Streichung des humanitären Schutzes zurückzunehmen. Dadurch würden Tausende in die Rechts- und Mittellosigkeit entlassen, was in den Städten und Gemeinden zu größeren Sicherheitsproblemen, Anstieg von Kriminalität und Schwarzarbeit führen werde. Der Appell und auch der Protest von Oppositionsparteien, Kirche, Gewerkschaften und NGO’s blieben unerhört.