25. April: Jetzt und immer Resistenza!
Der 25. April ist in Italien nationaler Feiertag. Sein Kurzname „Festa della Liberazione“ lässt allerdings die Frage offen: Befreiung wovon? Wikipedia antwortet: Es ist „der Tag der Befreiung vom Nazifaschismus, des Endes der nazistischen Besatzung und des endgültigen Falls des faschistischen Regimes“. Wobei zur Botschaft gerade auch das verbindende „und“ gehört, dessen historische Wahrheit als akzeptiert vorausgesetzt wird. Aber genau dies ist nun zum Stein des Anstoßes geworden. Denn in Italien ist eine Rechte an die Macht gekommen, deren politische Ahnen vor 68 Jahren zu den Besiegten gehörten und deren Nachfahren nun plötzlich einen Tag mitgestalten sollen, den sie bisher eher als Tag der Zumutung, wenn nicht gar der Trauer begingen.
Melonis Brief
Als neue Ministerpräsidentin musste Giorgia Meloni auf diesen Tag reagieren, und sie tat es mit einem Brief, der am 25. April im „Corriere della Sera“ erschien. Diesmal wiederholt sie nicht den Fehler, den sie unter Bezug auf die Massaker bei den Ardeatinischen Höhlen beging: sich bei einer glatten Geschichtsfälschung ertappen zu lassen (die 335 Opfer seien umgebracht worden, „nur weil sie Italiener waren“). Ihr Versuch, von der Mitverantwortung der italienischen Faschisten abzulenken, war allzu durchsichtig.
Hier zeigt Melonis Brief an den „Corriere“ Lernfähigkeit, auch wenn er allzu dezidiert behauptet, schon immer auf der richtigen Seite gestanden zu haben: Die Parteien ihres Bündnisses hätten längst erklärt, „keine Sehnsucht nach dem Faschismus zu haben“, und sie selbst gehöre zu einer Partei, die sich schon vor 30 Jahren vom Faschismus lossagte – eine Anspielung auf die „Wende von Fiuggi“, als Gianfranco Fini den Faschismus zum „absolut Bösen“ erklärte und die Alleanza Nazionale gründete, der auch Meloni angehörte (von der man allerdings bisher Ähnliches nie gehört hat). Der Brief enthält weitere Schritte in diese Richtung: Das „Ergebnis des 25. April ist die Wiederentdeckung der demokratischen Werte, die der Faschismus verletzt hatte und die in die Verfassung eingemeißelt sind“, woraus „eine Demokratie mit Freiheiten hervorging, auf die niemand mehr verzichten will“. Dann aber ein Vorschlag, der ein für allemal das Thema Antifaschismus erledigen würde: den 25. April einfach zum „Tag der Freiheit“ zu erklären.
Sind die scheinbaren Klarstellungen, die Meloni in ihrem Brief vornimmt, ernst zu nehmen, wie Finis Erklärung vor 30 Jahren? Meloni ist die Führerin einer Partei, die sich – ähnlich wie die AfD – vor allem durch die Offenheit nach ultrarechts auszeichnet. Ihr angebliches Bekenntnis zur Verfassung und damit zu den Menschenrechten konterkarierte sie eben noch einmal durch ihr demonstratives Einverständnis mit dem britischen Premier Sunak, den sie am gleichen Tag in London besuchte und der die Migranten, die sein Land zu betreten wagen, gleich nach Ruanda deportieren will.
Ganz ohne solche Windungen und Wendungen kommt die Rede von Staatspräsident Mattarella aus, deren Charakteristikum kristallene Klarheit ist. Er hielt sie am gleichen Tag in der norditalienischen Stadt Cuneo, die am Ende des 2. Weltkriegs zu einem Zentrum des Befreiungskampfs wurde.
Mattarellas Rede (Auszüge)
„‚Wenn ihr zu den Orten pilgern wollt, in denen unsere Verfassung geboren wurde, müsst ihr in die Berge gehen – dorthin, wo die Partisanen gefallen sind, in die Kerker, wo sie eingeschlossen wurden, auf die Felder, wo sie erhängt wurden. Geht überall dorthin, wo ein Italiener starb, um wieder Freiheit und Würde zu erlangen‘. Es ist Piero Calamandrei, der 1955 diese Worte an eine Gruppe junger Studenten der Humanitären Gesellschaft in Mailand richtete.
Deshalb würdigt heute die Republik gerade hier, in Cuneo, ihre Wurzeln und feiert die Befreiung. Hier, in diesem Ort, wo es über 12.000 Partisanen gab, wo 2000 im Kampf fielen und 2600 Opfer nazifaschistischer Massaker wurden. … ‚Der Krieg geht weiter‘, erklärte Duccio Galimberti am 26 Juli 1943 auf diesem Platz, der heute seinen Namen trägt.‚Der Krieg … wird so lange weitergehen, bis der letzte Deutsche verjagt und alle Spuren des faschistischen Regimes verschwunden sind, bis zum Sieg des italienischen Volkes, das sich gegen Mussolinis Tyrannei erhebt’… Ein klares, strenges Urteil. Eine von großer Weitsicht geprägte Rede. Durch die man den Wert und die volle Bedeutung der Resistenza begreifen kann. Galimberti war konsequent, er ging in die Berge – und wurde ein Jahr später von den Faschisten ermordet…
Nach dem 8. September (dem Tag, an dem das Badoglio-Regime 1943 den Waffenstillstand mit den Alliierten verkündete, HH) stand die Befreiung der Heimat … auf der Tagesordnung, nach den trügerischen Parolen des Faschismus: der Führermythos; ein Patriotismus, der dem Patriotismus anderer entgegengestellt wird und der die universellen Werte verachtet, die die nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts beseelte (einen solchen „Patriotismus“ vertritt Meloni noch heute, HH). Der Mythos von Krieg und Gewalt und eines dominanten Italiens, mit seinen imperialen Abenteuern am Horn von Afrika und auf dem Balkan – wo nicht gekämpft wurde, um sich zu befreien, sondern um anderen die Freiheit zu nehmen.
Die Resistenza war in erster Linie der moralische Aufstand von Patrioten gegen den Faschismus und für die nationale Befreiung. Ein Aufstand des Volkes… Zu ihr stießen Soldaten, die an die Front geschickt wurden und sich weigerten, sich den Befehlen der deutschen Besatzungsmacht zu unterwerfen. Und diese Entscheidung oft teuer bezahlten, mit der Internierung in deutschen Lagern, wo mehr als 50.000 starben. Zu ihr stieß die Jugend, die im Faschismus aufgewachsen war, dessen Natur kannte und sich dagegen auflehnte. Die verratene „falsche“ Generation.
Es war ein Aufstand, der die Arbeiter in den Betrieben mobilisierte und die Bauern und Bergleute erreichte, die wegen ihrer Solidarität mit den kämpfenden Partisanen den härtesten Repressalien ausgesetzt waren. Heute verneigt sich die Republik vor den Opfern und Leiden der Bevölkerung …
Der Überlebenskampf Italiens war hart, nach der Katastrophe, in die es der Faschismus geführt hatte. Soldaten aus anderen Ländern halfen uns, sie wurden Freunde und feste Verbündete. Viele von ihnen sind in Italien begraben.
Dieser Kampf wurde vom Bewusstsein begleitet: Die existentielle Krise des Landes fordert eine entscheidende Wende, eine neue Idee von Gesellschaft nach dem Scheitern der vorhergehenden. Es ging darum, im Staat ein authentisches Nationalbewusstsein zu verankern und ein neues Italien zu schaffen. Eine Verpflichtung und ein Versprechen, das … mit der republikanischen Verfassung realisiert wurde: eine Republik, die auf einer Verfassung beruht, der Tochter des Antifaschismus (der neue Senatspräsident la Russa hatte am gleichen Tag verkündet, das Wort „Antifaschismus“ komme in der Verfassung nicht vor, HH) …
Am 2. Juni 1946 folgte dann das Referendum, mit der Entscheidung für die Republik und einer Verfassungsgebenden Versammlung. Der Bruch des Pakts zwischen Nation und Monarchie, die Italien dem Faschismus ausgeliefert hatte, markierte den Beginn einer neuen Staatsordnung.
Die Verfassung formuliert die Antwort auf die Krise des zivilen Zusammenlebens, die der Nazifaschismus verursacht hatte, indem sie das Prinzip des Vorrangs der Individuen und der Gemeinschaft gegenüber dem Staat etablierte und in den lokalen und gesellschaftlichen Autonomien Italiens ein kostbares Gut sah, das zu bewahren und weiterzuentwickeln ist… Es war die Antwort auf die Niederlage der europäischen Totalitarismen faschistischer und nazistischer Prägung, um wieder das Grundprinzip der Selbstbestimmung und Würde jedes Menschen zu bestätigen…
Der 25. April ist der Tag, an dem unsere Verfassung entstand. Es ist der Tag, an dem eine wiedergefundene und nach dem Faschismus neugegründete italienische Identität gefeiert wird. Daraus hat sich eine starke und reife Demokratie entwickelt, in den Institutionen wie in der Zivilgesellschaft, die es Italien ermöglicht hat, unvorstellbare Fortschritte zu erreichen.
Und während hier noch der Krieg tobte, wurde in Cuneo auch die Idee einer zukunftsweisenden Verfassung geboren. Indem sie den Blick darauf richtete, künftige Konflikte zwischen den europäischen Staaten zu verhindern. Und so neben der italienischen auch eine europäische Verfassung zu schaffen. In dieser Idee, die damals noch ein Traum zu sein schien, war schon der Kern der Verträge für eine Europäische Union enthalten: für Frieden, Sicherheit, Fortschritt in Europa und in der Welt. Ein Traum, der in vielerlei Hinsicht im Laufe von 70 Jahren realisiert werden konnte, auch wenn es eine „Europäische Verfassung“ – trotz vielversprechender Ansätze – immer noch nicht gibt.
Wir sollten uns fragen: Wo und wie wären wir heute, wenn damals der Faschismus und der Nationalsozialismus gesiegt hätten? Um auf die Verfassungsidee von Duccio Galimberti zurückzukommen: Einige seiner Ziele schienen utopisch, zum Beispiel das einer „einheitlichen europäischen Währung“. Heute ist sie Wirklichkeit. Oder einer „gemeinsamen föderalen Armee“ in Europa. Das Thema einer gemeinsamen Verteidigung, die heute im Zentrum der Bestrebungen der Europäischen Union ist, die durch die Aggression Russland gegen die Ukraine empfindlich getroffen ist… (auch Meloni stellt sich auf die Seite der Ukraine, aber mit der europäischen Perspektive, die hier Mattarella beschwört, hat sie ihre Schwierigkeiten, HH).
Was auf der Gedenktafel zu lesen ist, die im achten Jahrestag der Ermordung Galimbertis vor dem Rathaus dieser Stadt angebracht wurde: ‚Sollten sich je Feinde der Freiheit auf diesen Straßen wagen, sie würden auf Patrioten stoßen‘. Dort steht auch geschrieben: ‚Tote und Lebende im gleichen Kampf vereint – ein Volk, das sich um das Denkmal zusammenschließt, das lautet: Jetzt und immer Resistenza!‘.
Es lebe das Fest der Befreiung! Es lebe Italien!“