Melonis Geschenkpaket zum 1. Mai
Ein Lieblingsmotto der italienischen Ministerpräsidentin lautet (in Abwandlung des Hinweises in öffentlichen Verkehrsmitteln „Stören Sie nicht den Fahrer“): „Stören wir nicht, wer produziert“.
Diesen Spruch trug Meloni bereits in ihrer Einführungsrede im Parlament vor, und sie greift weiterhin häufig auf ihn zurück. Er ist an sich nicht falsch, wenn man ihn so interpretiert, dass Unternehmer nicht durch eine ausufernde Bürokratie und unklare bzw. unnötige Regelungen daran gehindert werden, ihren Job effizient zu erledigen,auch im Interesse des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger. Problematisch wird er, wenn damit gemeint ist, Liberalisierung und Flexibilisierung könnten immer weiter ausgedehnt werden, auch wenn dabei die Beschäftigten, der Umweltschutz und die soziale Balance in der Gesellschaft Schaden nehmen.
Letzteres scheint leider Melonis Interpretation zu entsprechen, denn genau in diese Richtung geht ihr bisheriges Regierungshandeln: Einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn lehnt sie ab (das sei „Sache der Tarifpartner“), bei den neuen Bestimmungen zur Vergabe von Aufträgen ist Beschleunigung wichtiger als Transparenz und Korruptionsverhinderung, und die weitgehende Abschaffung des Bürgergeldes vermehrt besonders im Süden die Armut.
Mehr prekäre und befristete Arbeitsverhältnisse
Nun kommt noch eine Verordnung hinzu, die prekäre und befristete Arbeitsverhältnisse erleichtert und weitere Restriktionen bei den Sozialleistungen einführt, die das Bürgergeld ersetzen sollen.
Die sog. „Arbeitsverordnung“ („decreto lavoro“) beschloss das Kabinett ausgerechnet am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Die Ministerpräsidentin soll dieses Datum bewusst gewählt haben, um ihre Vorstellung einer veränderten Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu unterstreichen, als Kontrast zu den Forderungen der Gewerkschaften und der Opposition.
Mit der Neuregelung dürfen befristete Arbeitsverhältnisse ohne Begründung bis zu zwei Jahren abgeschlossen werden. Außerdem wird die Möglichkeit erweitert, ohnehin schlecht bezahlte Gelegenheitsarbeiten und kurze Arbeitseinsätze – u. a. bei Kongressen, Messen und in der Tourismus- und Unterhaltungsbranche – durch Arbeitsgutscheine (sogenannte „Voucher“) zu vergüten. Künftig können Arbeitgeber jährlich bis 15.000 Euro – statt bisher 10.000 – für diese Form der Bezahlung nutzen, und die Belegschaftsgröße von Betrieben, die Voucher zur Bezahlung ihrer Beschäftigten verwenden dürfen, steigt von 10 auf 25. Die Voucher unterliegen keiner vertraglichen Regelung und sind seitens der Arbeitgeber beliebig einsetzbar, was Dauer und Zeitpunkt der zu leistenden Arbeit betrifft.
Sowohl die Erleichterung befristeter Arbeitsverträge als auch das „Voucher-System“ treffen insbesondere die Jungen und gering Qualifizierten, die ohnehin größere Schwierigkeiten haben, Wege aus dem Prekariat und hin zu stabilen Beschäftigungen zu finden.
„Stärkste Steuerreduzierung der letzten Jahrzehnte“?
Besonders rühmt die Ministerpräsidentin die Entscheidung, die Steuer- und Abgabelasten auf Arbeit um ca. 4 Prozentpunkte zu reduzieren, um die Nettolöhne von Beschäftigten mit niedrigem Einkommen zu erhöhen. In einem ins Netz gesetzten Video, in dem sie – lässig durch die prachtvollen Säle des Palazzo Chigi (ihren Amtssitz) wandelnd – den Kabinettsbeschluss erläutert, spricht Meloni hier von der „stärksten Steuerreduzierung der letzten Jahrzehnte“. Das entspricht nachweislich nicht der Wahrheit: Sowohl die PD-geführten Regierungen von Renzi und Gentiloni als auch die Regierungen von Conte und Draghi hatten Steuerreduzierungen eingeführt, die deutlich höhere Entlastungen bewirkten (9-10 Milliarden, im Vergleich zu den 3,5-4 Milliarden, die die gegenwärtige Regierung jetzt bereitstellt). Die Ministerpräsidentin unterschlägt außerdem, dass die Entlastung nur für ein paar Monate – von Juli bis Jahresende – gilt. Eine Verlängerung steht in den Sternen, die dafür nötigen 10 Milliarden (mindestens) kann die Regierung zurzeit nicht in Aussicht stellen. Es handelt sich also um eine punktuelle und keine strukturelle Maßnahme, deren Wirkung ab kommenden Januar wieder entfällt.
Weitere Eckpunkte des Pakets sind die Einführung einer Sozialhilfe von 500 Euro (plus 280 Mietgeld) für Familien mit minderjährigen Kindern, Behinderten oder Angehörigen über 60, deren Jahreseinkommen unter 9.360 Euro liegt. Diese Zuwendung, die das Bürgergeldes ersetzt, wird für 18 Monate gezahlt und kann nur einmal um weitere 12 Monate verlängert werden.
Alleinstehende oder Ehepaare ohne Kinder gelten grundsätzlich als „beschäftigungsfähig“ und erhalten nur 350 Euro monatlich für maximal 12 Monate, wenn sie dafür verpflichtend an Fortbildungs- oder Qualifizierungskursen oder an gemeinschaftlich nützlichen Projekten teilnehmen. Eine Möglichkeit der Verlängerung gibt es nicht. Schon bei Ablehnung des ersten Angebots (innerhalb ganz Italiens) entfällt die Zuwendung. Mit den neuen Bestimmungen, die eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem davor geltenden Bürgergeld darstellen, wird Italien zum einzigen Land der EU, das keine generelle Unterstützung bei Armut gewährt und diese auch bei weiterbestehendem Bedarf einstellt.
Fakten und Zahlen zu Quantität und Qualität der Arbeit in Italien
In ihrem Artikel „Wenn die Ungleichheiten wachsen“, der am 1. Mai in der Repubblica erschien, nennt die bekannte Expertin für Sozialstatistik und Leiterin des Nationalen Statistikinstituts, Linda Laura Sabbadini, Fakten und Zahlen zur „Quantität und Qualität der Arbeit“ in Italien. Mit dem Ergebnis, dass hier das Land im Kreis der G7, in Europa und in der OECD Schlusslicht ist.
Hier einige Daten: Nur 60,7% der Bevölkerung bis 64 Jahren haben eine Arbeit. Damit belegt Italien den letzten Platz unter den G7-Ländern und den vorletzten in Europa und in der OECD. Besonders niedrig ist der Anteil junger Menschen bis 24 Jahre, die eine Beschäftigung haben: er liegt bei nur 20% (27 Prozentpunkte unter dem G7-Durchschnitt und 23 unter dem der OECD).
Arbeit ist in Italien aber nicht nur ein rares Gut, sondern auch in hohem Maß prekär. Die Teilzeitarbeit liegt bei 17%, was in etwa den Werten von G7 und OECD entspricht, aber sie ist in 61,7% der Fälle (OECD-Wert: 17%) nicht selbstgewählt. Und bei den Jungen liegt der Anteil der befristet Beschäftigten ebenfalls über 60% (OECD-Durchschnitt: ca. 22%).
Angesichts dieser Zahlen sind Maßnahmen, die auf eine weitere Ausweitung befristeter und prekärer Arbeitsverhältnisse setzen, schlicht kontraproduktiv. Bei einem so hohen Anteil der Arbeitslosen, besondes bei der Jugend, stellt sich die Frage: liegt er wirklich daran, dass sich die – potentiell „beschäftigungsfähigen“ – Betroffenen lieber auf dem Sofa lümmeln statt zu arbeiten? Weshalb sie mit dem Entzug einer sozialen Zuwendung „bestraft“ werden müssen? Oder liegen die Ursachen nicht eher in strukturellen Problemen des Arbeitsmarkts und dem Fehlen einer aktiven Beschäftigungspolitik? Diese müsste die Regierung gezielt angehen, statt den Arbeitgebern noch größere Spielräume für unterbezahlte und prekäre Arbeit zu eröffnen.
Gewerkschaften und Opposition rufen zum Protest auf
Das ausgerechnet am 1. Mai beschlossene Paket bezeichnen die drei große Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL als Provokation. Erbost sind sie auch darüber, dass die Regierung sie erst für den Abend des 30. April zu einem „Beteiligungsgespräch“ eingeladen hatte, nur wenige Stunden vor der Kabinettssitzung, wo sein Beschluss anstand. Eine reale Möglichkeit, Einfluss auf die Vorlage zu nehmen bzw. Änderungen zu erörtern, hat es demzufolge nicht gegeben.
Insbesondere lehnen die Arbeitnehmervertreter die Maßnahmen ab, welche befristete Verträge, Bezahlung durch „Vouchers“ und Einschränkungen der sozialen Zuwendungen betreffen, und rufen gemeinsam zur „permanenten Mobilisierung“ auf. Geplant sind Protestkundgebungen in ganz Italien, auch ein Generalstreik ist nicht ausgeschlossen. Den Auftakt bildete am vergangenen Samstag eine Demonstration mit anschließender Kundgebung in Bologna, wo 30.000 dem Aufruf der Gewerkschaften folgten.
Die Oppositionsparteien Partito Democratico, 5Sterne und Sinistra Italiana/Verdi, haben die Neuregelungen ebenfalls scharf kritisiert und erklärt, sie würden die gewerkschaftlichen Protestaktionen unterstützen. PD-Chefin Elly Schlein, die an der Demonstration in Bologna teilnahm, bekräftigte, man werde sowohl im Parlament als auch auf den Plätzen „mit allen Mitteln“ dieses Dekret bekämpfen, er sei eine Ohrfeige vor allem für junge Menschen und für solche, die in Armut leben. Der Vorsitzende der 5Sterne Giuseppe Conte ist vor allem über die Abschaffung des Bürgergeldes („reddito di cittadinanza“) erzürnt – ein Steckenpferd der „Grillini“, das 2017 eingeführt wurde, als er selbst Ministerpräsident der Regierungskoalition von 5SB und Lega war.
Eher bedeckt hält sich der ebenfalls zur Opposition gehörende „Terzo Polo“ von Renzi und Calenda. Man werde sich im Parlament das Dekret im Detail ansehen und dann entscheiden, ob es in Teilen mitgetragen werden könne. Von einer Unterstützung der gewerkschaftlichen Initiativen ist hier nicht die Rede.
Die Ministerpräsidentin gibt sich erstaunt wegen der Kritik an ihrem „1. Mai – Geschenkpaket“. „Es ist doch eine ausgestreckte Hand an die Arbeiter“, verkündete sie, „ich hätte eher ein ‚Bravo!‘ erwartet“.
Von den undankbaren Arbeitern kommt hingegen, nicht überraschend, weder ein „Bravo“ noch ein „Dankeschön“. Stattdessen gibt es landesweite Protestaktionen, die auf einem Spruchband in Bologna ankündigen: „Es ist der Anfang eine langen Kampfes“. Es bleibt zu hoffen, dass die politische Opposition es schafft, diesen gewerkschaftlichen Kampf möglichst geschlossen zu unterstützen, trotz der Differenzen bei anderen – nicht minder wichtigen – Fragen, allen voran die Haltung zum russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine und die Unterstützung ihres Widerstandskampfes.