Nach der Flut die Seuchengefahr
„Beeilt euch, hier stirbt man“. Diesen knappen verzweifelten Appell findet man in Conselice, einem kleinen Ort mit ca. 10.000 Einwohnern in der Provinz Ravenna, auf Handzetteln, die eingeschlossen in Plastikflaschen und an Straßenschildern festgebunden auf der schwarz-bräunlichen Brühe schwimmen. Langsam zieht sich das Wasser, das alles unter sich begraben hatte, zurück. Auf dem nach und nach hervortretenden Sumpf tauchen dunkle Kraftstoffflecken, stinkende Abwässer aus der kollabierten Kanalisation, Gülle, Pestizide, Müll und jeder mögliche Unrat auf. Ein hochtoxisches Gemisch, das nicht nur in Conselice, sondern in vielen Orten der überschwemmten Gebiete der Emilia-Romagna Natur, Menschen und Tiere gefährdet. Die Bürgermeisterin von Conselice hat jetzt alle Einwohner, die in der Nähe von Gewässern und Schlamm wohnen, dringend aufgefordert, sofort ihre Wohnungen zu verlassen und sich in die vorbereiteten Aufnahmezentren transportieren zu lassen. Es handelt sich um ca. 500 Familien, darunter viele Ältere, die seit über zwei Wochen ohne Strom, Trinkwasser und Gas leben. Doch viele weigern sich. Sie sorgen sich um ihre Tiere, befürchten die Plünderung ihrer verlassenen Häuser und ein monatelanges Leben in rudimentären Sammelzentren.
Nach der Gefahr, zu ertrinken und durch fallende Bäume erschlagen zu werden, kommt nun auch die Seuchengefahr. Der sich langsam zurückziehenden Flut folgen Magen-Darm-Erkrankungen und Infektionen von Haut und Atemwegen. Viele Gebäude sind noch unerreichbar und viele Straßen unpassierbar, was die notwendigen Präventionsmaßnahmen erschwert. Die Kommunalverwaltungen und Gesundheitsbehörden haben Flyer mit Empfehlungen an die Bürger verteilt, soweit sie erreichbar sind: Kontakte mit Gewässern und Schlamm vermeiden oder unbedingt Schutzkleidung tragen, an der laufenden Kampagne zur Tetanusimpfung teilnehmen und wegen der giftigen Ausdünstungen FFP2-Masken tragen, wie zur Zeit der Pandemie. Besonders gefährdet sind Kinder und die fast 22.000 jungen Ehrenamtlichen, die seit Tagen unermüdlich helfen, Schlamm wegzutragen, Menschen in gefährdeten Gebieten mit Nahrung und Trinkwasser zu versorgen und Straßen wieder begehbar zu machen.
Der Klimawandel trifft ein fragiles Land
Der Klimawandel schreitet in Italien rasch voran. Auf lange und extreme Trockenperioden, auch im Winter, folgen immer öfter langandauernde Phasen von Starkregen, Überflutungen, Stürmen. Die Auswirkungen sind, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, besonders massiv. Nicht nur wegen der natürlichen Charakteristika des Landes – Prägung durch Berge (ca. 70% des Territoriums), vulkanische Aktivitäten und hohes sismisches Risiko – , sondern auch durch eine starke hydrogeologische Instabilität, die vor allem menschengemacht ist: extensive Flächennutzung, Zementifizierung und wildes Bauen in Risikogebieten, Begradigung der Flussläufe.
Diesmal war es die Region Emilia-Romagna, die den höchsten Tribut zahlen musste, und nicht zum ersten Mal. 15 Tote, bis zu 26.000 Evakuierte (viele kehrten inzwischen in ihre Häuser zurück), 781 gesperrte Straßen und 422 Erdrutsche, so die regionale Bilanz. Metereologen weisen daraufhin, dass hier innerhalb von zwei Jahren in kurzer Zeit dreimal extreme Wetterlagen aufeinander folgten. Es sei auch falsch, von einer „Tropikalisierung“ zu sprechen, denn die Trocken- und Regenphasen ließen sich nicht bestimmten Jahreszeiten zuordnen. Sie können offenbar zu jeder Jahreszeit auftreten, die vier Jahreszeiten von früher gebe es nicht mehr. Eine reine „Optik des Notstands“ sei da verfehlt, denn die Notstände werden immer mehr zur „Normalität“, sagt der Metereologe Giulio Betti. Man müsse sich einerseits auf strukturelle und langfristige Maßnahmen zur Eindämmung der Ursachen für den Klimawandel konzentrieren – u. a. konsequente Dekarbonisierung und massive Ausweitung erneuerbarer Energien –, andererseits auf eine ökologische Wende auf der infrastrukturellen Ebene. Mit den bestehenden Infrastrukturen könne man nicht Ereignissen dieses Ausmaßes begegnen. In der Emilia-Romagna, wo sie nicht mal so schlecht sind, habe sich das gezeigt. Man sollte endlich begreifen, dass es notwendig ist, mit flächendeckenden und kapillaren Interventionen die urbanen Zentren „neu zu denken“ und die Landschaftsgestaltung sowie die Wasserableitungssysteme gründlich zu verändern.
Sechs gescheiterte „Sonderprogramme“ in 12 Jahren
Klar ist: Man kann die Versäumnisse bei der Bekämpfung der in Italien besonders krassen hydrogeologischen Ungleichgewichte kaum allein der gegenwärtigen Regierung anlasten. Denn seit mindestens 12 Jahren wurden von den jeweiligen Regierungen Sonderprogramme aufgelegt, die allesamt im Sande verliefen. Von Berlusconi bis Monti, von Letta bis Renzi, von Conti bis Draghi: Alle stellten Ressourcen bereit, ernannten Sonderkommissare und ließen ihre Umweltminister Tausende von Vorhaben entwickeln, um Italiens pathologische Defizite auf diesem Gebiet zu beheben. „Piano suolo“, „Italia sicura“, „Progetto Italia“, „Strategia Italia“, „Piano nazionale energia e clima“: Die Namen der Sonderprogramme ändern sich mit jeder Regierung, aber die Ergebnisse sind kaum nennenswert oder bleiben ganz aus, die Ressourcen werden nicht genutzt. Und mit schöner Regelmäßigkeit schieben die jeweiligen Regierungen die Verantwortung für das Scheitern ihren jeweiligen Vorgängern zu.
Keine Priorität für Melonis Regierung
Das tut selbstverständlich auch Meloni, die aber „ihr“ Sonderprogramm noch gar nicht offiziell präsentiert hat. Eine interministerielle Arbeitsgruppe arbeite daran, verkündete der Minister für den Zivilschutz Musumeci (Fratelli d’Italia), während den Menschen in der Emilia Romagna das Wasser buchstäblich bis zum Halse steht.
Klar ist, dass Naturschutz und Bekämpfung des Klimawandels nicht oben auf der Agenda der rechtsextremen Regierung stehen. In der Koalitionsvereinbarung findet man unter der Überschrift „Der Umweltschutz – eine Priorität“ paradoxerweise lediglich zwei Zeilen über das künftige „Sonderprogramm für die Sanierung der Gebiete mit hohem hydrogeologischen Risiko durch gezielte Interventionen“. Welche die sein sollen und in welchem Zeitraum sie zu realisieren sind, steht nicht drin. Die Arbeitsgruppe „arbeitet noch daran“, die dafür vorgesehenen 8,4 Milliarden liegen noch in der Schublade.
Dieses zögerliches Herangehen ist kein Zufall, denn besonders in Melonis Partei ist die Zahl derjenigen hoch, die die Existenz einer epochalen – und vor allem menschengemachten – Veränderung des Klimas anzweifeln. Der Fraktionsvorsitzende von FdI im Senat, Lucio Malan, erklärte zu den desaströsen Ereignissen in der Emilia Romagna: „Der Klimawandel ist kein Dogma. Auf jedem wissenschaftlichen Feld gibt es keine endgültige Wahrheiten, es wird geforscht und es gibt viele Meinungen“.
Streit um Ressourcen und den Sonderkommissar
Die oppositionelle PD reagiert scharf, spricht von „klimatischem Negationismus“ und macht Druck, um möglichst schnell Ressourcen für die betroffenen Regionen zu mobilisieren. Generalsekretärin Schlein hat die Regierung aufgefordert, auch auf Mittel des Nationalen Recovery Plans/PNRR zurückzugreifen, die Italien zum Wiederaufbau nach der Covid-Pandemie von der EU erhalten hat. Der dafür zuständige Minister Fitto (FdI) winkt ab: der PNRR sehe die Finanzierung spezifischer Projekte in einem Zeitraum bis 2026 vor, erklärte er, daher könnten kurzfristig daraus keine Mittel für den Notstand in der Emilia-Romagna entnommen werden. Und sein Kollege Musumeci meint, es gebe Ressourcen in der Region, die zunächst genutzt werden sollten. Regionspräsident Bonaccini (PD) kontert, die würden auf keinen Fall ausreichen, um die notwendigen Maßnahmen zu finanzieren.
Apropos Bonaccini: Auch um seine Person gibt es Streit. Die Opposition und auch einige Regionspräsidenten aus den Parteien der Rechtskoalition meinen, er sei für die Funktion eines Sonderbeauftragten zum Wiederaufbau in der Emilia-Romagna prädestiniert. Er habe dafür die Kompetenz, die besten Kenntnisse über die Region und die nötigen Kontakte zu den Kommunen und Bürgern. Meloni selbst hatte sich zunächst dafür offen gezeigt, doch Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia legten ihr Veto ein, weil Bonaccini zur „falschen“ Partei gehört. Es sieht so aus, dass die Ministerpräsidentin einknickt, es sind nun andere Namen im Umlauf. Aus parteipolitischen Gründen geht kostbare Zeit verloren. Die Zeche zahlen die Menschen in den Überflutungsgebieten.
Was ist zu tun?
Der Wirtschaftswissenschaftler Enrico Giovannini – früher Arbeitsminister im Kabinett Letta und Minister für Infrastruktur und Verkehr im Kabinett Draghi – leitet jetzt als Wissenschaftlicher Direktor die von ihm gegründete „Italienische Allianz für nachhaltige Entwicklung“ (ASviS), der mehr als 300 Akteure der Zivilgesellschaft gehören.
In seinem Beitrag „Welche Schritte sind nach der Überschwemmung notwendig“ vom 25. Mai in der „Repubblica“ forderte Giovannini Regierung und Parlament dazu auf, die 2015 von der Weltgemeinschaft unter dem Dach der UNO beschlossene Agenda 2030 zu implementieren, um zu einer Transformation des sozioökonomischen Systems zu kommen, die Klimagerechtigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. Für Italien bedeute dies die rasche Verabschiedung und Umsetzung des „Nationalen Plans zur Anpassung an den Klimawandel“, der „Nationalen Strategie für eine nachhaltigen Entwicklung“ sowie des neuen „Integrierten Nationalen Plans Energie und Klima“, der die Reduzierung klimaschädlicher Energiequellen bis 2030 um 55% und die CO2-Neutralität bis 2050 vorsieht. Als ersten Schritt müsse das Parlament noch im Sommer ein Klimagesetz beschließen, wie es schon in anderen europäischen Ländern geschah, sowie den vom Kabinett Draghi erarbeiteten Gesetzesentwurf zur urbanen Regeneration.
Eine überaus ehrgeizige Roadmap, deren Realisierung allerdings bei den Entscheidungsträgern die politische Einsicht und den Willen voraussetzt, den Klimawandel und die ökologische Wende als höchste Priorität zu behandeln. Wovon bei der gegenwärtigen Regierung nicht die Rede sein kann.
Anders die Bürgerinnen und Bürger: Nach einer Umfrage des Instituts Demos, die ein paar Wochen vor der Flutkatastrophe durchgeführt wurde, halten mehr als 60% der Befragten – parteiübergreifend – den Naturschutz und die Bekämpfung des Klimawandels für prioritär, auch gegenüber dem wirtschaftlichen Wachstum.
Letzte Meldung: Bei den Stichwahlen am vergangenen Sonntag/Montag in den Kommunen, wo im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreicht wurde, hat die Rechtskoalition deutlich gesiegt. Von 7 Provinzhauptsädten gingen 5 an die Rechte, eine ans Zentrum und nur eine an die Linke. PD-Chefin Schlein: „Der rechte Wind weht noch stark in unserem Land“. Und, mit Wink an die 5Sterne: „Die PD allein kann es nicht schaffen“.