Zum Tod Berlusconis
Wenn wir heute einen Nachruf auf den gerade verstorbenen Silvio Berlusconi schreiben, müssen wir zunächst einräumen, dass ihm dieser Blog seine Existenz „verdankt“. Als wir ihn Ende 2009 „Aus Sorge um Italien“ nannten, wollten wir zuallererst auf das Bild reagieren, das sich damals ein Teil der deutschen Öffentlichkeit von Berlusconi machte: Er sei nun einmal – wie die Tarantella und Don Camillo – ein Stück „italienischer Folklore“, die man nicht weiter ernst zu nehmen brauche. Auch unser Versuch einer Gegenaufklärung steckte noch in Kinderschuhen: Wir warnten zwar, dass sich hinter seinen extravaganten Verhaltensweisen autoritäre Absichten versteckten, aber unterschätzten noch das ganze Ausmaß der kulturellen Zerstörung, die er in Gang setzen würde, ebenso wie wir uns in der Europäischen Volkspartei täuschten, von der wir damals noch dachten, dass die Aufnahme Berlusconis in ihre Reihen nur auf die Unkenntnis seiner Politik und seines Charakters zurückführbar sein könne.
Unbegrenzte Öffnung nach rechts
Rückblickend können wir feststellen, dass Berlusconi der italienischen Entwicklung eine politische und kulturelle Richtung gegeben hat, von dem es vorerst keine Rückkehr zu geben scheint. So ziemlich am Anfang seiner politischen Karriere stand ein Tabubruch: eine Öffnung nach rechts, die den „Verfassungsbogen“ durchbrach, innerhalb dessen sich die italienische Politik lang bis dahin (d. h. bis zur Auflösung der „Democrazia Cristiana“) abgespielt hatte: Wie es heute noch in Deutschland die Verabredung gibt (wer weiß, wie lange sie noch gilt!), dass man weder im Bund noch auf Länderebene ein Bündnis mit der nazinahen AfD eingehen dürfe, so gab es in Italien die Verabredung, dass die neo- und postfaschistischen Parteien aus allen Regierungsbündnissen herauszuhalten seien. Diese Verabredung hielt ein halbes Jahrhundert lang.
Das Datum dieses ersten Tabubruchs lässt sich bestimmen, und zwar auf den 23. November 1993, als in Rom die Wahl eines neuen Oberbürgermeisters anstand, bei der sich in der Stichwahl nur noch der „grüne“ Mitterechts-Kandidat Rutelli und der damals noch ultrarechts stehende Gianfranco Fini gegenüberstanden. Hier vollzog Berlusconi, der erst wenige Wochen später offiziell seinen Hut in den politischen Ring warf, einen Schritt, der in der Öffentlichkeit zunächst nur auf ein mäßiges Interesse stieß und dessen Tragweite erst viel später klar wurde. Bei der Eröffnung eines neuen kommerziellen Zentrums erklärte er, dass er, der Mailänder, jetzt „als Römer ohne Zögern Fini wählen würde“. Damals gewann noch Rutelli, und es dauerte 8 Jahre, bis Berlusconi Finis Alleanza nazionale (AN) in sein Regierungsbündnis aufnahm, und weitere 8 Jahre, bis er seine Forza Italia mit der AN verschmolz. Aber die Ultrarechte hatte er damit „hoffähig“ gemacht – ein Pfund, mit dem sie von nun an wuchern konnte, auch als sie sich bald wieder aus Berlusconis Umarmung löste, weil sie sich auf ihre eigenen Wurzeln besann und wieder Mussolinis Flamme im Parteilogo haben wollte. Nun begann der Aufstieg Giorgia Melonis, deren Partei Fratelli d’Italia – anfangs noch mit Salvinis Lega, schließlich im Alleingang – zur meistgewählten Partei Italiens wurde, und die es sich sogar leisten konnte, im Rechtsbündnis dem kränkelnden Berlusconi das Heft vorzeitig aus der Hand zu nehmen. Es ist nicht Berlusconi allein anzulasten, dass die Hoffnung der Gründungsmütter und -väter der italienischen Republik, im „Nie wieder Faschismus“ einen dauerhaften Minimalkonsens gefunden zu haben, nicht mehr gilt. Aber er hat kräftig dazu beigetragen.
Eigeninteressen als Motor politischen Wirkens
Das Beseitigen von Grenzziehungen – zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Medienmacht und Politik, zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem – sind konstitutive Elemente des „Berlusconismo“. Die Bühne der Politik betrat er nicht aus politischer Überzeugung oder ideologischer Berufung, sondern um seine unter Druck geratene Unternehmen zu sichern und auszubauen. Politische Kontakte und Allianzen waren nicht von irgendwelchen Prinzipien oder „Visionen“ geleitet, sondern instrumentell. Seinen außerordentlicher Machtinstinkt nutzte er, um sich frei von Skrupeln an den staatlichen und demokratischen Institutionen zu bedienen, soweit es für ihn persönlich und für sein Wirtschaftsimperium von Vorteil war.
„Er übersprang die Vermittlungen, ignorierte die politischen und institutionellen Rituale und nahm sich einfach, was er brauchte. Mit einer Lässigkeit, die keine akrobatische Tricks scheute und eine Verletzung und gleichzeitig Erneuerung des Systems herbeiführte – und er war in der Lage, von beiden zu profitieren“, so charakterisiert ihn Ezio Mauro, der in seiner Zeit als Chefredakteur der „Repubblica“ einer der bittersten Gegner Berlusconis gewesen ist.
Interessenkonflikt und Verachtung rechtsstaatlicher (und sonstiger) Regeln
Der eklatante Interessenkonflikt ist der rote Faden von Berlusconis politischem Wirken, über Jahrzehnte hinweg. Er prägte sein Verhältnis zu Rechtsstaatlichkeit und zu den Spielregeln der Demokratie. Die zahlreichen berüchtigte „Gesetze ad personam“, mit dem er verhinderte, dass seine Rechtsbrüche und zwielichtige Geschäfte durch die Justiz geahndet werden konnten (Ausnahme: eine rechtskräftige Verurteilung wegen Steuerbetrugs zu vier Jahre Haft, die aufgrund seines Alters durch Sozialdienste ersetzt wurden) hielt er aus tiefster Überzeugung für legitim. Er fühlte sich sein ganzes (politisches) Leben lang von politisierten linken Richtern verfolgt und war von keinem Unrechtsbewusstsein geplagt.
Diese Grundhaltung bestimmte auch die Beziehung des Leaders oder besser gesagt des „Patrons“ zu seinem Volk, mit einem Art Deal, dessen Versprechen lautete: Der Staat lässt euch Bürgern so viel Freiheit wie möglich, um eure eigenen Interessen weitgehend selbst zu regeln – sei es beim Zahlen von Steuern, beim Einhalten von Parkvorschriften oder beim Verschaffen von Vorteilen für euch und eure Familie. Eines der Krebsgeschwüre der italienischen Ökonomie, das Hinterziehen von Steuern seitens der kleinen und großen Selbstständigen, konnte unter seiner Ägide ungehemmt weiter wachsen (er tat es ja selbst – Pech hatte nur, wem die Steuern gleich vom Lohn abgezogen wurden). Im Gegenzug müsst ihr mir vertrauen und mich wählen.
Ein vergiftetes Angebot, das gut ankam
Das Angebot war verlockend und fand Einklang. Zumal die Kommunikationsfähigkeit Berlusconis unbestreitbar war. Er erreichte die Menschen – auch die sogenannten „einfachen Leute“ – nicht nur mit seinen Versprechen, sondern auch mit Jovialität. Versprechen, die prägnant und mitunter lächerlich waren: „Ich werde dafür sorgen, dass innerhalb drei Jahre der Krebs besiegt wird! Alle Rentner werden mindestens 1000 Euro Rente und kostenlosen Zahnersatz bekommen!“ Und im letzten Wahlkampf 2022 zur Rettung des Klimas: „Ich werde jährlich eine Million Bäume pflanzen lassen!“.
Berlusoni hat augenblinzelnd unterstützt – und damit auch bestärkt -, was man ein wenig bösartig den italienischen Grundkonsens nennen könnte: Familiensinn und Steuerhinterziehung. Der Stärkung eines solidarischen Gemeinwesens hat dies nicht genützt. Wo er Italien kulturell veränderte, war dies nicht zum Besseren. Was sich auch in seinem Verhältnis und in seiner Einstellung zu Frauen zeigte, die zutiefst patriarchalisch (er ließ sich von seinen ganz jungen Gespielinnen „Papi“ nennen) und sexistisch war. Die Frauen, die ihn an seinen berühmt-berüchigten „Bunga Bunga“-Abenden verwöhnten, wurden mit Geld (manchmal Schweigegeld), Häusern und Geschenken „belohnt“. Und seine private Fernsehsender zeigten bzw. zeigen non-stop spärlich bekleidete, mit dem Hintern wackelnde Schönheiten zur Freude der Herren der Schöpfung.
Staatsbegräbnis für einen Populisten
Mit Sicherheit kann man sagen, dass Berlusconi ein Vorreiter war. Das Modell des Leaders als „starker Macher“, der unmittelbar zum Volk spricht, sind auch Merkmale des Trumpismus und von Orbans „illiberaler Demokratie“. Wie schon oft in der Geschichte erweist sich Italien als „Laboratorium“ für spätere Entwicklungen. Und es ist keine Floskel, wenn Silvio Berlusconi nun in den italienischen und ausländischen Nachrufen immer wieder als „der erste Populist“ oder als „Vater aller Populisten“ gekennzeichnet wird. Unter anderem war er der Erfinder der „Einmann-Partei“ („partito personale“ oder vielmehr „partito padronale“). Seine Gefolgsleute in der Partei waren eher Bedienstete als politische Gefährten. Mit dem Ergebnis, dass jetzt nach seinem Tod kein Nachfolger in Sicht ist, der/die ihn wirklich ersetzen könnte. Es besteht die reale Gefahr, dass Forza Italia in sich zusammenfällt und zur Beute anderer (allen voran Melonis Fratelli d’ Italia) wird.
Heute – das hat die Rechte durchgesetzt – findet im Mailänder Dom für Berlusconi ein Staatsbegräbnis statt, samt nationaler Staatstrauer, und zu seinen Ehren wird eine Woche lang weder der Senat noch die Abgeordnetenkammer zusammentreten. Solche eine Ehre wurde in Italien noch niemandem zuteil. Ebenso wie ein Teil seines Volks werden seine Abgeordneten aus verschiedenen Legislaturperioden dabei sein, sicher mit Tränen in den Augen. Sie haben dem italienischen Parlamentarismus schon manchen Dienst geleistet, wenn sie wieder einmal beschließen mussten, dass irgendeine Straftat Berlusconis gar keine war.
Eine ihrer Sternstunden war gekommen, als der damalige Ministerpräsident Berlusconi eines Nachts persönlich(!) mehrmals in eine Mailänder Polizeiwache anrief, um eine der Mädchen, die seine Bunga-Bunga-Feste bereicherten, den Klauen der Carabinieri zu entreißen. Er musste improvisieren, und er tat es mit der Behauptung, dass das Mädchen „Mubaraks Nichte“ sei, weshalb eine Staatsaffäre drohe, wenn sie nicht sofort wieder auf freien Fuß gesetzt werde. Was die verdutzten Polizisten dann auch taten. Leider wurde der Fall gerichtsnotorisch, weil sie über den Vorfall eine Aktennotiz verfassten. Womit das Parlament ins Spiel kam: Um Berlusconi zu entlasten, musste die Abgeordnetenkammer mit ihrer damaligen Regierungsmehrheit am 5. April 2011 beschließen, dass Berlusconi in der besagten Nacht tatsächlich glaubte, bei besagter Person (die in Wahrheit aus Marokko stammte) habe es sich um „Mubaraks Nichte“ gehandelt. Alle Mitglieder der damaligen Regierungsmehrheit stimmten zu. Auch Giorgia Meloni, die damalige Jugendministerin.