Webers riskantes Angebot
Optimisten könnten in dem gesteigerten Interesse der italienischen Rechten an der EU ein gutes Zeichen sehen. Es ist ja noch nicht lange her, dass Leute wie Berlusconi, Salvini und sogar Grillo in den Brüsseler „Bürokraten“ vor allem lästige Sparkommissare sahen, die sich anmaßend in die nationalen Angelegenheiten einmischten. Zumal das Land mit der Einführung des Euro ein Stück altbewährter Souveränität verlor, die unter anderem darin bestand, sich bei Bedarf immer wieder durch Lira-Abwertungen über die Runden retten zu können. Da gab es Gedankenspiele, die nicht gerade von Selbstbewusstsein zeugten – Grillo profilierte sich eine Zeitlang mit der Idee, dass man aus der Eurozone auch wieder austreten könne.
Das ist Vergangenheit. Denn heute fühlt sich die Rechte nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa im Aufwind. Auf einmal scheint bislang Unerreichtes möglich zu sein: in der EU an die Schalthebel der Macht zu gelangen. Und zwar nicht nur aus eigener Kraft, sondern weil auch die Umstände günstig sind. Manfred Weber, der Chef der größten Fraktion im EU-Parlament, hat in Meloni eine neue mögliche Partnerin entdeckt, mit dem man sich endlich aus dem ungeliebten Bündnis mit den Sozialisten und Liberalen befreien könnte.
Aus Webers Perspektive
Webers Motive sind ebenso politisch wie persönlich. Er gehört immer noch zum Vorstand der bayrischen CSU an, konzentriert aber seit 2004 seine politische Karriere ganz auf die EVP, in der er sich im Lauf der Jahre eine starke Machtstellung erarbeitet hat (heute ist er hier Fraktions- und Parteivorsitzender). Wenn er sich jetzt mit Meloni verbünden will, kann er sich darauf berufen, dass ja auch Söder und Merz in Deutschland zum Angriff auf die SPD und (vor allem) die Grünen blasen. Seiner politischen Überzeugung zeigt er schon vor Jahrzehnten, als er nicht nur Berlusconis, sondern auch Orbans Mitgliedschaft in der EVP so lange wie möglich verteidigte. Söders und Merzens (bisheriger) Abgrenzung zur AfD trägt er Rechnung, indem er seine Annäherung an Meloni rhetorisch mit einer umso schärferen Abgrenzung von Salvini und Le Pen verbindet.
Hinzu kommt ein persönliches Motiv: Seit Jahren wird überlegt, ob die im EU-Parlament vertretenen Parteien-Familien nicht mit übernationalen „Spitzenkandidaten“ in die U-Wahlen gehen sollten, mit dem Hintergedanken, so dem Kandidaten bzw. der Kandidatin der Partei, die zu relativen Wahlsieger wird, auch ein „natürliches“ Anrecht auf die Präsidentschaft der Kommission zu geben (heute liegt hier das Vorschlagsrecht beim Europäischen Rat, das Parlament kann nur zustimmen oder ablehnen). Immerhin gibt es einen Präzedenzfall: Als Jean-Claude Juncker 2014 zum Präsidenten gewählt wurde, war er auch Spitzenkandidat der EVP gewesen. So glaubte sich auch Weber schon 2019 (fast) am Ziel seiner Wünsche, als die EVP erneut zur stärksten Fraktion gewählt worden war – diesmal mit ihm als förmlichem Spitzenkandidaten (was allerdings im Wahlkampf nur die deutschen Unionsparteien in den Vordergrund gerückt hatten). Dann kam seine „Demütigung“: Als es Probleme gab, für ihn im neuen Parlament die notwendige absolute Mehrheit zu finden, zog Macron plötzlich Ursula von der Leyen aus dem Ärmel – eine Außenseiterin, obwohl auch sie, zu Webers Verdruss, zur EVP-„Familie“ gehört. Als sich ihrer Wahl außer der EVP auch die Sozialisten und die (von Macron instruierten) Liberalen anschlossen, wurde sie knapp gewählt. Und Weber fühlte sich, so war zu hören, um das ihm eigentlich zustehende Amt „betrogen“.
Bisher galt von der Leyen zur eigenen Wiederwahl im nächsten Jahr als gesetzt – falls sie sich wieder zur Wahl stellt, was noch unklar ist. Obwohl sie Weber zu „links“ und zu „grün“ ist und er sie auch persönlich ablehnt, hält er es für klüger, ihr jetzt nicht offen entgegenzutreten (es würde zu sehr nach „Revanche“ aussehen). Also schlägt er Umwege ein: einerseits durch die Vorbereitung auf ein neues Rechtsbündnis, das in Brüssel anstelle der bisherigen „Ursula-Mehrheit“ die Macht übernehmen könnte. Und andererseits durch den frontalen Angriff auf ihr wichtigstes, aber von Weber ungeliebtes Projekt, den Green Deal.
Vorbereitung eines neuen Bündnisses
Das Problem des neuen Bündnisses ist der Bruch eines Tabus, das bisher zum Selbstverständnis der EVP gehörte. Denn es setzt zunächst voraus, dem neuen Partner FdI überhaupt „Bündnisfähigkeit“ zuzusprechen, obwohl in seinem Partei-Logo weiterhin Mussolinis Flamme brennt (trotz Webers Bitte, sie zum Zeichen einer inzwischen erhofften Distanzierung zu entfernen), und obwohl sich die Hoffnung, dass hundert Jahre nach Mussolinis Machtergreifung vielleicht doch eine „Aufarbeitung“ beginnen könnte, als trügerisch erwies. Stattdessen paktiert Meloni weiter mit der reaktionären spanischen Vox-Partei, mit Orban und Kaczynski, die mit „europäischen Grundwerten“ wenig im Sinn haben. Dass sich Meloni in ihrer Europa-Politik als bisher „pragmatisch“ erwies, sich selbst als „Atlantikerin“ identifiziert, im Ukraine-Krieg auf der richtigen Seite steht und mit von der Leyen nach Tunesien reist, um den dortigen Diktator zum Verbündeten gegen die Migranten zu machen, genügt Weber, um sie weiterhin zu umwerben. Die Frage, wofür ihr „Atlantismus“ stehen wird, wenn in den USA wieder ein Trump an die Macht kommt, wagt niemand zu stellen. Der Kampf gegen die europäischen Sozialisten und Grünen rechtfertigt alles.
… und inhaltliche Demontage
Die zweite Front, die Weber gegen von der Leyen eröffnet hat, zielt auf den Green Deal, mit dem die EU anstrebt, auf dem Weg zur Klimaneutralität in 2050 die CO2-Emissionen bis 2030 um 55% zu senken. Je mehr man hier ins Detail geht, desto deutlicher wird, wie zerstörerisch Webers neuer Kurs für die politische Kultur der EU ist. In einem Interview mit der „Repubblica“ (vom 10. Juli) schildert der holländische Sozialist Frans Timmermans, der in der EU-Kommission eng mit Ursula von der Leyen zusammenarbeitet, wie er Webers Wende erlebte: „Wir haben schon gewusst, dass die radikale Rechte dagegen ist, aber seit 2020 hat uns die EVP immer gesagt, dass sie im Wesentlichen einverstanden ist.“ Natürlich habe es noch Meinungsunterschiede gegeben, aber das übliche Verfahren sei es gewesen, sie in den Ausschüssen durch Kompromisse kleinzuarbeiten. Nach dem Ausscheiden der CDU aus der deutschen Regierung und den Wahlen in Finnland und Italien sei plötzlich alles anders geworden: Nun erklärte Weber, im Widerspruch zum bisherigen Verfahren, dass die Gesetzesentwürfe nicht verbesserungsfähig seien, sondern insgesamt zurückgezogen werden müssten. Was den Versuch bedeutete, der EVP schon jetzt mit brachialen Methoden den Ausstieg aus dem „Ursula-Bündnis“ aufzuzwingen: Abgeordnete, die sich jahrelang in den Ausschüssen in die Materie eingearbeitet hatten, wurden plötzlich auf Anweisung von oben ausgewechselt, und potenziellen Rebellen wurde bedeutet, dass man sie für die bald anstehenden Europawahlen ja auch aus den Kandidatenlisten streichen könne.
Aber als am 12. Juli in Straßburg die Abstimmung über ein Gesetz zur Renaturierung anstand – ein Kernstück des Green-Deal-Projekts, mit dessen Ablehnung Weber auch die Demontage von der Leyens einleiten wollte -,verweigerten ihm 21 Abgeordnete seiner eigenen Fraktion die Gefolgschaft. Zwar konnte Weber seinen neuen Kurs in in der 177-köpfigen EVP-Fraktion weitgehend durchsetzen (was nicht gerade für ihr demokratisches Bewusstsein spricht). Aber das Fähnlein der 21 Aufrechten reichte gerade noch, um das Gesetz zu verabschieden (336 Ja-Stimmen, 300 Nein, 13 Enthaltungen), obwohl sich, wie man hört, alle deutschen und italienischen EVP-Mitglieder an Webers Direktive gehalten haben. Womit sein erster Anlauf gegen von der Leyen gescheitert war. Für die Neuwahl der Kommissionspräsidentin nächstes Jahr bleibt sie vorerst im Rennen. Wenn sie es unter den gegebenen Umständen noch will.
Melonis Vorsicht
Nun zu Meloni. In der Abstimmung vom 12. Juli gehört auch sie mit Weber zu den politischen Verlierern. Dabei hatte ihr Weber in seinem Feldzug gegen von der Leyen und die sie tragende Mehrheit die Rolle der Türöffnerin nach Ultrarechts zugedacht. Und ihr dabei bei vielen Besuchen in Rom ein Angebot unterbreitet, von dem er offenbar glaubte, dass sie es nicht ablehnen kann: eine neue von Weber und ihr geführte rechte Allianz, die auch in der EU das Kommando übernehmen würde. Aber so verlockend dieses Angebot auch für Meloni sein dürfte, so gibt es doch bei ihr auch Anzeichen für ein gewissen Zögern, sich darauf einzulassen.
Nicht ohne Grund. Erstens ist Webers Manöver riskant, denn es setzt bei der nächsten Wahl auf einen Stimmungsumschwung zugunsten der Rechten, der auch die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament signifikant verändert (die Prognosen sprechen für rechte Gewinne, die sich aber in Grenzen halten). Und er setzt zweitens auf eine erneuerte EVP-Fraktion, die sich noch bedingungsloser als die gegenwärtige seinen Direktiven unterwirft – aber der Ausgang der Abstimmung vom 12. Juli könnte hier Zweifel nähren. Und ein Zeichen dafür sein, dass (zumindest bisher) Webers Machtanspruch gegenüber der eigenen Fraktion Grenzen gesetzt sind. Drittens würde Melonis Eingehen auf Webers Angebot ihr innenpolitisches Bündnis mit Salvini unter Stress setzen, denn es ist nicht ganz einfach, jemanden auf europäischer Ebene zum „Feind“ zu erklären, mit dem man in Italien am gleichen Kabinettstisch sitzt. Und viertens gibt es Hinweise dafür, dass Meloni eigentlich auch mit von der Leyen „kann“ – zumal diese klug (bzw. opportunistisch) genug ist, um Meloni immer wieder in wichtige Missionen einzubinden, z. B. in den Versuch, Tunesiens Diktator Saied in die europäische Politik zur Migrationsverhinderung zu gewinnen.
Auch Meloni scheint jetzt zu erwägen, ob in Webers Angebot nicht nur die verlockende Chance steckt, mit ihm die Macht in der EU zu übernehmen, sondern auch die Gefahr, nächstes Jahr wieder am Katzentisch einer marginalisierten Minderheit zu landen. Zu Webers Angebot, 2024 zur Frontfrau einen Anti-Von der Leyen-Koalition zu werden, wäre es eine Alternative mit weniger Risiko: zur „Ursula-Mehrheit“ zu stoßen, auch wenn dies für sie in Europa nicht den Durchbruch zur ganzen, sondern nur zur geteilten Macht bedeutet.