Kontroverse Justizreform
Justizminister Carlo Nordio war von Giorgia Meloni seinerzeit als Kandidat „super partes“ für das Amt des Staatspräsidenten vorgeschlagen worden. Sie könne sich nicht vorstellen, dass gegen einen solchen Kandidaten „von irgendjemanden Einwände erhoben werden könnten“. Offensichtlich lag sie damit falsch, denn im Januar 2022 wurde nach mehreren Wahlgängen Sergio Mattarella mit 759 Stimmen wiedergewählt, Nordio erhielt 90.
Nach ihrem Wahlsieg im September 2022 berief die neue Ministerpräsidentin Nordio, der kurz vor der Wahl in Melonis Partei eingetreten war (also nicht mehr ganz „super partes“ war), zum Justizminister und beauftragte ihn mit der Erarbeitung einer Justizreform. Eine Genugtuung für den selbstgefälligen Juristen, dem nachgesagt wird, er habe sich beruflich nicht genügend anerkannt gefühlt und hege gegenüber seiner eigenen Juristenzunft einen gewissen Groll.
Nordios Gesetzesentwurf liegt jetzt auf dem Tisch, Staatspräsident Mattarella hat ihn schon per Unterschrift zur parlamentarischen Beratung freigegeben. Er enthält Änderungen, die dem verstorbenen Berlusconi Freude bereitet hätten: von der Abschaffung des Straftatbestands Amtsmissbrauch bis zu erheblichen Restriktionen bei der unrechtmäßigen Beeinflussung von Amtshandlungen und bei Abhörmaßnahmen.
Abschaffung des Straftatbestands Amtsmissbrauch
Besonders einschneidend ist die geplante Beseitigung von Art. 323 des Strafgesetzesbuches, der den Amtsmissbrauch im Bereich der öffentlichen Verwaltung betrifft (und dazu führen wird, dass 3.623 bereits ausgesprochene Verurteilungen aus dem Zeitraum 1997-2022 getilgt werden).
Der Justizminister begründet dies damit, dass sich viele Amtsträger und Angehörige der öffentlichen Verwaltung vor notwendigen Entscheidungen drücken oder diese ewig hinausschieben würden, und zwar aus Angst, dafür rechtlich belangt zu werden. Die Betroffenen, u. a. viele Bürgermeister (auch von Mittelinks) geben ihm – wenig überraschend – Recht: Die Gesetzesänderung werde wesentlich dazu beitragen, die öffentliche Verwaltung schneller und effizienter zu machen.
Weniger begeistert sind Richter und Staatsanwälte, die mit der Bekämpfung der Korruption zu tun haben. Experten wie der Antimafia-Staatsanwalt Gianni Melillo und der ehemalige Chef der Nationalen Antikorruptionsbehörde Raffaele Cantone schlagen Alarm und weisen daraufhin, dass über Fälle von Amtsmissbrauch oft auch andere – und größere – Korruptionsdelikte und Straftaten der organisierten Kriminalität aufgedeckt werden.
Die Gesetzesänderung kommt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem die EU-Kommission bei der Einbringung ihres „Antikorruptionspakets“ Italien lobend erwähnt: es habe in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet, viele der von der Kommission jetzt vorgeschlagenen Regelungen seien dort bereits in Kraft. Die Kommission empfiehlt nun deren Übernahme in allen EU-Ländern (bisher besteht der Straftatbestand des Amtsmissbrauchs in 22 der 27 Mitgliedstaaten, Deutschland gehört nicht dazu: Eine entsprechende Vorschrift des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 hatte Hitler 1943 durch Erlass aufgehoben, sie wurde später durch Einführung einzelner Amtsdelikte im StGB ersetzt).
Der italienische Justizminister bleibt vom EU-Lob unbeeindruckt und steuert genau in die entgegengesetzte Richtung.
Restriktionen bei Abhörmaßnahmen
Umstritten sind auch die geplanten Änderungen im Umgang mit Abhörmaßnahmen. Sie betreffen vor allem die Weitergabe, Verbreitung und Veröffentlichung von Protokollen und Informationen, die über das Abhören gewonnen wurden – auch wenn diese bereits den betroffenen Parteien zugeleitet wurden und nicht mehr dem Amtsgeheimnis unterliegen. Eine Verbreitung bzw. Veröffentlichung soll künftig nur möglich sein, wenn die Inhalte bereits im Laufe des Verfahrens durch die Ermittlungsbehörden bekannt gegeben wurden. Richtern, Staatsanwälten und Polizeibehörden wird untersagt, persönliche Daten und Abhörprotokolle von Personen zu verwenden, die nicht zu den am Verfahren beteiligten Parteien gehören, es sei denn, dass diese „erwiesenermaßen“ für die Weiterführung der Ermittlungen unerlässlich sind.
Bekanntlich gewinnen die Ermittlungsbehörden gerade durch das Abhören wesentliche Informationen, nicht zuletzt über mafiose Aktivitäten. Der Minister sieht es anders: „Mafiosi telefonieren sowieso nicht, weil sie wissen, dass sie abgehört werden“. Das erklärte er ausgerechnet zum Zeitpunkt der Festnahme vom „Boss der Bosse“ Matteo Messina Denaro, die erst durch Telefonate von Angehörigen, die auf seine Spur führten, möglich geworden war.
Die Journalistenverbände erheben gegen die Restriktionen heftigen Protest: „Die einzigen Kriterien in Sachen Veröffentlichung von Abhörinhalten dürfen das öffentliche Interesse und das Recht der Bürger auf Information sein, was auch mehrmals in Urteilen des Europäischen Gerichts für Menschenrechte bekräftigt wurde“, so der Nationale Presserat. Denn das öffentliche Interesse an einer bestimmten Information sei nicht notwendigerweise identisch mit ihrer strafrechtlichen Ermittlungsrelevanz. Wenn allein den Richtern vorbehalten werde, zu entscheiden, was von öffentlichem Interesse ist und was nicht, schränke dies die Kontrollfunktion der unabhängigen Presse ein und widerspräche Prinzipien der Verfassung. Und: Wirksame Maßnahmen zur Vorbeugung von Missbrauch seien bereits von den Vorgängerregierungen Letta und Draghi eingeführt worden.
Ahndung von „unrechtmäßiger Einflussnahme“ erschwert
Der Straftatbestand „Unrechtmäßige Einflussnahme“ betrifft missbräuchliche Formen von Lobbyismus, bei denen Personen ihre Kontakte zur öffentlichen Verwaltung und Politik nutzen, um – u. a. mit Geld oder anderer Zuwendungen – Begünstigungen und Sonderbehandlungen für Dritte zu erreichen. Es handelt sich meist um „Vermittler“ zwischen Wirtschaft und Politik bzw. Verwaltung, die vor allem im Bereich der Auftragsvergabe tätig sind. Den Tatbestand hatte 2012 die Monti-Regierung, die Berlusconi ablöste, eingeführt, auch auf Druck der Europäischen Union.
Die von Nordio erarbeitete Änderung beschränkt nun die Möglichkeit rechtlicher Ahndung nur auf Fälle, in denen die Einflussnahme „mit Vorsatz“ geschieht und Geld (nicht sonstige Zuwendungen) im Spiel ist, wobei die Zahlung nachweislich „im Zusammenhang mit der Amtshandlung“ stehen muss.
Der Justizminister und die Regierungsmehrheit begründen das damit, dass die aktuelle Regelung zu „schwammig“ sei und auch auf Fälle von „zulässigem Lobbyismus“ angewandt werden könnte. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen recht- und unrechtmäßigen Formen von Lobbyismus fließend, und es wird – nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern – schon lange darüber debattiert, wie in diesen Graubereich mehr Transparenz durchgesetzt und Missbrauch vermieden werden kann.
Nordios nächstes Vorhaben: Trennung der Laufbahnen von Richtern und Staatsanwälten
Neben dem jetzt vorgelegten Gesetzesentwurf hat der Justizminister noch einen weitere Plan in der Schublade, der politisch hochsensibel und schon seit Langem in Politik und Öffentlichkeit umstritten ist. Es geht dabei um die Frage, ob die – bisher gemeinsame – Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten so getrennt werden soll, dass ein „Spurwechsel“ von der einen zur anderen Funktion nicht mehr möglich ist und an der einmal gewählten Laufbahn bis zum Berufsende festgehalten werden muss. Diese Trennung hat die Rechte, und hier vor allem Forza Italia, schon lange auf der Agenda, konnte sie aber bisher nicht durchsetzen. Allein von der Draghi Regierung war eine Einschränkung eingeführt worden, wonach der „Spurwechsel“ nur einmal (statt vorher vier mal) innerhalb der beruflichen Laufbahn möglich sein soll. Das reicht dem jetzigen Justizminister nicht, er ist Verfechter einer rigiden Trennung beider Laufbahnen (die allerdings einer Verfassungsänderung bedürfte).
Was eine rein technisch-bürokratische Regelung zu sein scheint, hat in Wahrheit eine politische Komponente, die auch hinter der Kontroverse zwischen den Parteien steht. Die (rechten) Befürworter der Laufbahntrennung meinen, dass mit der geltenden Regelung einer der beiden Prozessseiten (der dem Richter gleichgestellten Staatsanwaltschaft) vor Gericht ein höheres Gewicht zugesprochen wird als der anderen Seite (Verteidigung). Mit anderen Worten: Da Richter und Staatsanwalt der gleichen „Zunft“ angehören, wird der Richter geneigt sein, eher dem Staatsanwalt als der Verteidigung zu folgen. Eine spekulative Argumentation, die übrigens auch außer Acht lässt, dass der Staatsanwalt in Italien nicht Vertreter der Anklage ist, sondern Ermittler „super partes“ und somit verpflichtet, gleichermaßen belastende sowie auch für den Angeklagten entlastende Elementen zu berücksichtigen.
Richterverbände sowie die meisten Oppositionsparteien lehnen eine solche Trennung ab, weil sie dahinter die Absicht vermuten, Staatsanwälte auf die Rolle einer „Anklagebehörde“ zu reduzieren und dadurch stärker an die Exekutive zu binden, mit der Gefahr, dass die jeweiligen Regierungen politischen Einfluss auf Ermittlungen ausüben. Als Beispiele für eine solche Entwicklung nennen die Kritiker u. a. Ungarn und Polen. Die EU-Behörden sehen das ähnlich und empfehlen ihren Mitgliedsstaaten, die Autonomie der Staatsanwälte als Teil der unabhängigen Justiz zu stärken und dem Einfluss der Exekutive zu entziehen.
Ministerpräsidentin Meloni stellt sich zwar vor ihren Justizminister, den sie allzu gern ins höchste Staatsamt gehievt hätte, ist aber inzwischen von ihrem umtriebigen Minister ziemlich genervt und versucht, ihn „dezent“ zu bremsen. So im Falle der Laufbahntrennung von Richtern und Staatsanwälten, wo sie erklärte, das Thema stehe „aktuell nicht auf der Agenda“. Der Grund: Sie will vermeiden, dass hier eine zweite Verfassungsdebatte entsteht – neben der zur Einführung eines Präsidialsystems, das für sie politische Priorität hat.