Opposition gemeinsam für Mindestlohn
Diesmal ausnahmsweise eine positive Nachricht, die vielleicht unsere Leserinnen und Leser erfreuen wird, die sich beklagen, angesichts unserer „sorgenvollen“ Italien-Beiträge gelegentlich in eine gewisse Depression zu verfallen (wie übrigens auch wir): Die Oppositionsparteien, die bisher zum Mindestlohn mit verschiedenen eigenen Positionspapieren auftraten, haben sich darauf geeinigt, einen gemeinsamen Gesetzesvorschlag ins Parlament einzubringen.
„Wir bekräftigen unsere gemeinsame Überzeugung, dass es Zeit ist, Art. 36 der Verfassung voll Geltung zu verschaffen, welcher verlangt, dass jedem Arbeitnehmer eine Entlohnung garantiert wird, die der Quantität und Qualität seiner Arbeit angemessen ist und ausreicht, ihm und seiner Familie ein Leben in Würde zu sichern. Zu diesem Zweck sieht unser gemeinsamer Gesetzesvorschlag vor, dass alle Beschäftigte in jedem Wirtschaftsbereich eine Bezahlung erhalten, die nicht unter der in den Tarifverträgen festgelegten liegt. Um dieser Anspruch auf eine gerechte Entlohnung zu garantieren, soll rechtlich verpflichtend einen Mindestlohn von 9 Euro pro Stunde eingeführt werden. Damit werden insbesondere die prekären und schlecht bezahlten Beschäftigten in Bereichen geschützt, in denen die Verhandlungskraft der Gewerkschaftsorganisationen schwach ist“.
So die gemeinsame schriftliche Erklärung, die am 30. Juni (fast) alle Oppositionsparteien (PD, 5SB, Sinistra Italiana, Europa Verde, Azione und +Europa) unterzeichneten. Sie haben inzwischen im Parlament einen entsprechenden Gesetzesvorschlag eingebracht. Nicht daran beteiligt ist nur Italia Viva, deren Chef Renzi sich nach dem Tod Berlusconis immer stärker nach rechts bewegt (als ob er die vom Verstorbenen hinterlassene Lücke ausfüllen möchte).
Ein Schritt nach vorne
Angesichts der chronischen Zerstrittenheit zwischen den Oppositionsparteien ist dieser Schritt alles andere als selbstverständlich. Insbesondere der Vorsitzende der 5Sterne, Conte, der in der PD eher einen Konkurrenten um Wählerstimmen als einen Verbündeten gegen Melonis Regierung sieht, ist sorgsam darauf bedacht, auf die Avancen der PD-Chefin Schlein mit Zurückhaltung zu reagieren und sich lieber mit eigenständigen Initiativen in Szene zu setzen. Ganz besonders geht er bei der Frage des russischen Angriffskriegs auf Distanz zur PD: Hier fordert er eine Beendigung der Militärhilfen an die Ukraine und sofortige Friedensverhandlungen, ohne zu fragen, ob auf der russischen Seite überhaupt eine Bereitschaft zu solchen Verhandlungen besteht.
Gravierende Differenzen, die auch nach dem Zusammenschluss beim Mindestlohn bestehen bleiben. Dennoch geht das gemeinsame Vorgehen in einer Frage, die konsensfähig ist, in die richtige Richtung. Sie sollte auch für andere Bereiche, in denen zwischen den Oppositionskräften weitgehend Einverständnis herrscht, Schule machen, z. B. beim Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens und bei der Eindämmung des Klimawandels.
Die Dachverbände der großen Gewerkschaften unterstützen die Initiative, allerdings mit unterschiedlichen Positionen zur Einführung einer gesetzlichen Regelung: während CGIL und UIL diese befürworten, plädiert die politisch konservative CISL für eine Festlegung über Tarifverhandlungen.
Zustimmung kommt auch von den Arbeitgeberverbänden. Sie betonen zwar, dass in den Unternehmen, die sie vertreten, bereits Löhne über der geforderten Grenze gezahlt werden, halten aber dennoch einen gesetzlichen Mindestlohn für notwendig, um einem Lohndumping in Bereichen außerhalb der tariflichen Bindung effektiv entgegentreten zu können.
Eckpunkte des Gesetzesvorschlags
Neben der Festlegung einer „nicht verhandelbaren“ Mindestgrenze von 9 Euro (brutto) sieht der Vorschlag vor, dass diese nicht nur für alle abhängig Beschäftigten zu gelten hat, sondern auch für Selbstständige und „wirtschaftlich abhängige Selbstständige“ (sog. Scheinselbstständige), die auf der Grundlage von „koordinierten und kontinuierlichen Mitarbeiterverträgen“ tätig sind.
Ferner soll eine Kommission eingerichtet werden, bestehend aus Vertretern der Institutionen und der Sozialpartner, die die Aufgabe hat, periodisch die Grenze für den Mindestlohn zu prüfen und anzupassen. Sie folgt weitgehend dem Modell der deutschen Mindestlohnkommission, die sich aus Vertretern der Tarifpartner sowie unabhängigen wissenschaftlichen Beratern zusammensetzt und alle zwei Jahre über die Anpassung entscheidet (zuletzt hat sie am 26. Juni, gegen die Stimmen der Gewerkschaften, beschlossen, den Mindestlohn für 2024 von 12 auf 12,41 Euro und für 2025 auf 12,82 Euro zu erhöhen, was die Gewerkschaften zu Recht für nicht ausreichend halten).
Den Tarifpartnern soll laut dem Vorschlag eine ausreichende Zeit eingeräumt werden, um die Verträge an die neuen Regelungen anzupassen. Arbeitgeber, für die diese eine besondere Herausforderung darstellt, sollen eine wirtschaftliche Unterstützung erhalten.
Regierungsmehrheit lehnt gesetzlichen Mindestlohn ab
Nur wenige Stunden nach der Ankündigung der Gesetzesinitiative durch die Opposition reagierte Arbeitsministerin Marina Elvira Calderone (Forza Italia) mit Ablehnung: „Ich denke nicht, dass man zu einem Mindestlohn durch ein Gesetz kommen kann. Man muss vielmehr auf die Tarifverhandlungen setzen“ erklärte sie. Und der Vorsitzende des Arbeitsausschusses der Abgeordnetenkammer Rizzetto, noch drastischer: „Ein ad hoc-Gesetz bringt nichts, der Weg geht über Steuersenkungen“. Weitere Vertreter der Regierungsmehrheit äußerten sich ähnlich.
Sie folgen damit der Weisung der Regierungschefin, die sich schon bei verschiedenen Zusammenkünften von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegen eine gesetzliche Festlegung ausgesprochen hatte. Das sei Sache der Tarifpartner, eine gesetzliche Regelung würde deren Verhandlungsspielraum einschränken. Notwendig sei vielmehr, den Kreis der Unternehmen zu erweitern, die sich den ausgehandelten Tarifverträgen anschließen.
Eine These, die ins Leere läuft, denn Unternehmer können nicht „par ordre du mufti“ dazu verpflichtet werden, Arbeitgeberverbänden beizutreten und tarifliche Entscheidungen zu übernehmen. Viele Kleinunternehmen tun es nicht, da es für sie profitabler ist, Niedriglöhne von 5 – 6 Euro die Stunde zu zahlen, weit unter denen, die von den Tarifpartnern ausgehandelt werden. Oft schließen solche Unternehmen auf Betriebsebene eigene Verträge mit kleinen sogenannten „gelben“ (d. h. arbeitgeberfreundlichen) Gewerkschaften ab, die dafür ad hoc ins Leben gerufen werden – mit schlechten Konditionen für die Beschäftigten, bei der Entlohnung sowie bei den Arbeits- und Vertragsbedingungen.
4,5 Millionen unter 9 Euro-Grenze
Die Zahl solcher „Piratenverträge“, wie sie genannt werden, hat in den letzten Jahren stark zugenommen, während die der – für Arbeitnehmer günstigeren – Tarifverträge, die mit den starken Gewerkschaftsverbänden CGIL, CISL und UIL abgeschlossen werden, deutlich zurückgeht (von mehr als 50% im Jahr 2011 auf 20% 2022), auch wenn sie in absoluten Zahlen immer noch den größten Teil der Arbeitnehmer erreichen. Die Zunahme von „Piratenverträgen“ geht genau in die umgekehrte Richtung zu dem von Meloni propagierten Anstieg von Unternehmen mit tariflicher Bindung, die sie als Alternative zum gesetzlichen Mindestlohn präsentiert.
Die Entwicklung zeigt vielmehr, dass „Lohn- und Vertragsdumping“ keine Randerscheinungen sind, die nur wenige Beschäftigte betreffen. Im parlamentarischen Arbeitsausschuss rechnete der Arbeitsrechtler Marco Barbieri den Abgeordneten vor, dass über 4,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger als 9 Euro stündlich verdienen. Betroffen seien vor allem Beschäftigte im Haushalt (zum großen Teil Frauen), Landarbeiter, Mitarbeiter von Call Centern und Paket- und Lieferdiensten. Es sind Italiener und Migranten, Frauen und Männer, oft junge Menschen unter 35 Jahren und manchmal noch viel jüngere, die aufgrund prekärer wirtschaftlicher Lage gleich nach Verlassen der Schule ihren weiteren Bildungsweg abbrechen und nach einem Job suchen – egal welchen und wie miserabel bezahlt.
Dass es hier einen dringenden Handlungsbedarf gibt, meint auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger: Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts „Noto Sondaggi“ sprechen sich 64% für die Einführung eines Mindestlohns aus, jenseits aller sonstigen politischen Präferenzen.
Opposition: Pragmatismus und langer Atem sind gefragt
Dennoch hält Meloni an ihrer Ablehnung fest, auch wenn sie damit riskiert, einen Teil ihrer eigenen Wählerschaft – gerade in den sozial benachteiligten Schichten, die bei der letzten Wahl wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen haben – zu brüskieren. Das dürfte zwei Gründe haben. Erstens: sie will aus Prinzip kein Anliegen unterstützen, das sich die Opposition auf die Fahnen geschrieben hat. Zweitens: als Anführerin einer rechtsextremen, populistischen Kraft setzt sie nicht auf sozialen Ausgleich, sondern auf soziale Unzufriedenheit, die sie gegen die EU, die Linken, das Fremdkapital und die Migranten zu lenken sucht in der Hoffnung, daraus politischen Profit zu schlagen.
Es ist also nicht zu erwarten, dass die Opposition ihren Gesetzesentwurf, der am Monatsende im Parlament beraten werden soll, gegen die Regierungsmehrheit durchsetzen kann. Die Leader der Oppositionsparteien, allen voran PD-Generalsekretärin Schlein, erhöhen dennoch den Druck auf die Ministerpräsidentin. Sie ignoriere die soziale Ungleichheit und die wachsende Armut, die durch ausbeuterische „Piratenverträge“, Inflation und Wohnungsnot verschärft wird. Mit ihrer Ablehnung eines Mindestlohns bestrafe sie nicht die Opposition, erklärte Schlein, sondern Millionen Frauen, Männer und Kinder, die an oder unter der Armutsgrenze leben. Die Gründe, die Meloni für ihr „Nein“ vorbringe, seien haltlos: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde weder die Verhandlungskraft der Tarifpartner schwächen noch die Schwarzarbeit befördern, wie sich in 21 (von 27) EU-Ländern, die bereits über entsprechende Regelungen verfügen, gezeigt habe.
Die Gesetzesinitiative trifft die Ministerpräsidentin in einer Zeit, in der sie wegen verschiedener Skandale und Betrugsaffäre, die hohe Regierungsvertreter betreffen, ohnehin unter Druck steht. Auch wenn die Opposition an den Mehrheitsverhältnissen im Parlament scheitert, kann sie daraus erstarkt hervorgehen – wenn sie in der Lage ist, weitere Schritte in Richtung Einigkeit zu gehen und einen langen Atem zu haben.