„Repubblica“: So werden die Sanktionen umgangen
Vorbemerkung der Redaktion: Nach der weltweiten Aufregung über den rätselhaften „Aufstandsversuch“ von Prigozhin, dem Anführer der Söldnertruppe Wagner, geht der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit unverminderter Brutalität weiter. Die von den Kommentatoren und westlichen Regierungen diagnostizierte Schwächung des russischen Herrschers bewirkt – zumindest bis jetzt – keineswegs Anzeichen für eine Abkehr von seinem bisherigen Kriegskurs und für eine gewachsene Verhandlungsbereitschaft seinerseits. Darüber, was sich im Verborgenen im russischen Machtapparats tut, gibt es nur mehr oder weniger plausible Spekulationen.
Für eine Einschätzung der Situation in Russland, der Festigkeit von Putins Position und der Aussichten seiner Kriegsführung ist nicht zuletzt die Frage wichtig, wie bzw. ob sich die Sanktionspakete, welche die westlichen Länder verhängen, effektiv auswirken.
Am 24. 03. 2023 berichtete das Portal „GTAI Germany Trade & Invest“, dass die EU die Kontrollmechanismen gegen die Umgehung der Russland-Sanktionen „nachschärfen“ wolle. Wobei vor allem die Staaten ins Visier genommen wurden, die 2022 den Import von Technologie aus Europa massiv steigerten und deren Ausfuhr nach Russland zugleich überproportional stiegen. Nun möchte die EU aus diesen Ländern detaillierte Informationen zur Nachverfolgung von Hunderten von Warenpositionen erhalten, die militärisch verwendet werden können. „Länder, die sich unkooperativ verhalten, droht die EU Handelsstrafen an“, und David O’Sullivan, ein neuer Sanktionsbeauftragter der EU, soll sich darum kümmern.
Auf dieser Linie will das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auch die deutschen Exporteure dazu veranlassen, „für alle sanktionierten Güter zusätzlich zu den Ausfuhranmeldungen transparente Erklärungen zum Endverbrauch vorzulegen“, bis hin zu den „finalen Empfängern“. Firmen, die das Umgehen der Russland-Sanktionen unterstützen, sollen auf schwarze Listen gesetzt werden und Sanktionsverstöße „konsequent als Straftatbestand geahndet werden“. Für die exportierenden Unternehmen bedeute dies „steigenden bürokratischen Aufwand“, zumal es „schwierig (sei), Verkäufe über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts nachzuverfolgen“. Aus dem Bundesverband der Deutschen Industrie komme deshalb der Vorschlag, „vertraglich mit den Abnehmern zu fixieren, dass diese den Verbleib der sanktionierten Ware außerhalb Russlands sicherstellen müssen“. Auch die USA gingen nun schärfer gegen Sanktionssünder vor und hätten deren für sie erreichbaren Vermögenswerte eingefroren.
Einen Trost hält allerdings das GTAI-Portal seinen Lesern bereit: „Die Lieferungen aus Drittländern können den massiven Rückgang der direkten Exporte von Technologie aus dem Westen nur zu einem Bruchteil kompensieren… Dem Rückgang der deutschen Ausfuhren nach Russland von rund 12 Mrd. Euro steht ein Exportanstieg in Russlands Nachbarländer von nur rund 2,5 Mrd. gegenüber“.
Nun scheint das Thema auch Italien erreicht zu haben. In seinem Artikel „Einkauf in der EU, Weiterverkauf an Putin – Wie das ehemalige Netz der UDSSR Sanktionen umgeht“ berichtete der Journalist Claudio Tito am 23. Juni in der „Repubblica“, wie – neben China und anderen Ländern – auch ehemalige UDSSR-Mitgliedstaaten wie Kirgistan, Kasachstan und Usbekistan Putin dabei helfen, systematisch und trickreich und teilweise auch mit europäischer Hilfe westliche Sanktionen umgehen bzw. deren Wirkung zu konterkarieren.
Titos detaillierter Bericht, den wir hier in deutscher Übersetzung (mit leichten Kürzungen) veröffentlichen, bezieht sich auf ein „höchst vertrauliches“ Dossier, das im Auftrag des EU-Parlaments erstellt wurde und inzwischen auch den EU-Gremien vorliegt.
„Einkauf in der EU, Weiterverkauf an Putin
Armenien +195%, Kirgistan +151%, Usbekistan +53%, Kasachstan +25%. Um zu verstehen, wie es Russland schaffte, die europäischen Sanktionen nach seinem Angriff auf die Ukraine zu überleben, muss man genau diese Zahlen zur Kenntnis nehmen. Sie zeigen die Exportsteigerung dieser Länder nach Russland. Steiles Wachstum auf Rekordhöhe während des Jahres 2022, das im laufenden Jahr anhält. Daten, die alle Staaten in Zentralasien betreffen, mit denen der Kreml schon vor langer Zeit Freihandelsabkommen schloss. Zu denen sich 1992 eine militärische Allianz gesellte, die faktisch die Wiederauferstehung des Warscbauer Pakts bedeutete.
Der Mechanismus ist einfach: Putins „Alliierte“ kaufen in Europa und verkaufen an Russland weiter. Halbleiter, Weizen, Uran, Schießpulver. Alles, was für einen Krieg unentbehrlich ist. Der Mechanismus funktioniert auch in umgekehrter Richtung: Die Nachbarstaaten kaufen zum Beispiel „Putinsches“ Öl und verkaufen es im alten Kontinent. Viele Daten entstammen einem top secret-Dossier, das in den letzten Wochen auf den Tischen des Coreper landete (Komitee der 27 EU-Botschafter, das Vorarbeit für die Beschlüsse des EU-Rats leistet) und vorgestern (am 21.6., Red.) einem weiteren Sanktionspaket zustimmte. Die Studie erstellten die Dienststellen des Europäischen Parlaments. Die übrigens auch belegt, dass die Mitgliedstaaten nicht mit der notwendigen Sorgfalt untersuchten, auf welchen Wegen die Sanktionen umgangen werden.
Nun entdeckt man also, dass von März 2022 bis Jahresende das Handelsvolumen zwischen Russland und Zentralasien um 63% und die russischen Investitionen um 80% zunahmen. Das BSP in fast all diesen Ländern kletterte steil nach oben: von +12,6% in Armenien bis +8% in Tadschikistan. Ein weiterer signifikanter Indikator sind die Geldüberweisungen Russlands in dieses Gebiet, die um 9,4% anstiegen.
Die Exporte von EU und Großbritannien nach Armenien, Kirgistan und Kasachstan sind nach Inkrafttreten der Sanktionen um 15% bis 90% gestiegen. Um die Rolle zu beleuchten, die dabei europäische Länder spielten, nennt die Studie den Fall Finnland: Dessen Warenexporte in Richtung Kirgistan, Kasachstan und Usbekistan sind seit Februar 2022 (Beginn des russischen Angriffs, Red.) in auffälliger Weise angestiegen – allein im Fall Kirgistan um mehr als 430% -, die Importe sogar um über 800%.
Das Dossier fokussiert seine Analyse auf die drei wichtigsten „Partner“ des Kremls: Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan. Und da erfährt man, dass sich in den kasachischen Banken die Konten russischer Kunden um den Faktor 44 erhöht haben. Die Importe verzeichnen ein Plus von 8,5 Milliarden Dollar, davon etwa 2,5 Milliarden aus der EU. Dank Kasachstan kontrolliert Russland weltweit 60% des Urans, ein für Kriegszwecke wichtiges Material. Das ist möglich dank der niederländischen Gesellschaft „Uranium One Netherlands“, welche die kasachischen Aktivitäten an die Gruppe „Uranium One JSC“ übertrug, die dem russischen Staatsunternehmen Rosatom gehört. Die Lieferung von Halbleitern an Russland, die 2021 nur einen Wert von 17tausend Dollar hatte, stieg 2022 auf den Wert von 3,7 Millionen. Astana unterläuft das Öl-Embargo, indem es an die EU 27 Millionen Tonnen Öl verkaufte. Das Dossier enthält ein weiteres signifikantes Datum: 2022 hat Kasachstan 11,5 Tonnen Schießpulver nach Russland exportiert, nachdem es 2021 keine solchen Lieferungen gab. Entsprechendes gilt für Zielfernrohre, Laser, Kugellager für Kettenfahrzeuge. Die nach Russland exportierten Radarausrüstungen sind jetzt 22mal höher als vor Kriegsbeginn, der von Halbleitern hat sich vervierfacht, die von integrierten Schaltkreisen ver74facht. Die Steigerung des kasachischen Imports von elektrischen Haushaltsgeräten liegt daran, dass ihre Mikrochips von der russischen Militärindustrie gebraucht werden: 23mal mehr Kühlschränke, 45mal mehr Spülmaschinen, 51600mal mehr Waschmaschinen, 1386mal mehr Staubsauger.
Kommen wir zu Kirgistan. Nach den im Dossier enthaltenen Daten sind die Importe aus der EU um fast 80% und die aus den USA um 140% gestiegen. Gleichzeitig hat die Regierung die Importe aus China verdreifacht. Ein besonders kniffliger Fall ist das Unternehmen Dastan, das Komponenten aus der EU bezieht, die dann für die Produktion von Torpedowerfern der russischen Marine verwendet werden. Der Export von Zielfernrohren nach Russland hat sich seit Kriegsbeginn versiebenfacht… Ähnliches gilt für Kopfhörer, Mikrophone und Fernrohre, die aus China (teilweise auch aus Japan und den USA) stammen und in Russland landen…
Bei Genussmitteln und Luxusgütern ist es nicht anders: französische Parfums +114%, italienische Lederwaren +165 %, Schweizer Uhren +6018%, Getränke aus den USA +190%. Produkte, die sicher nicht in Kirgistan enden.
Zu Usbekistan: Dessen Handelsvolumen mit Russland ist um 23% gewachsen. Ebenso wie die usbekischen Importe (Arabische Emirate +109%, Brasilien +59%, Deutschland +54%, Indien +42%. Der erste Schritt der usbekischen Regierung bestand darin, die russischen Banken in Usbekistan zu registrieren, die Sanktionen unterliegen, u. a. VTB, Gasprombank und Sovcombank. Russische Firmen erhalten über russisch-usbekische Kooperationsabkommen in den Bereichen Metallverarbeitung, Mechanik, Energie und Chemie Ersatzteile aus europäischen Ländern. Das chinesische Unternehmen Honor schloss mit Usbekistan Vereinbarungen, um Smartphones nach Russland zu exportieren. Der usbekische Export von Autos und elektrischen Anlagen hat sich um den Faktor 21 erhöht, der von Ersatzteilen für Autos vervierfacht.
Also zusammengefasst: Vielleicht sollte die EU in seinem Verhältnis zu diesen Ländern so manches überdenken.“