Schlafwandler?

Lange Zeit wurde von der „Klimakatastrophe“ wie von einem Geschehen gesprochen, das kommen wird und auf das wir uns einstellen müssen, aber noch nicht richtig da ist. Worin noch eine letzte Ungewissheit zu stecken schien, die Raum ließ für ein Zögern, ein Hinausschieben auf ein bald-aber-nicht-gleich, vielleicht sogar für ein Quäntchen Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm wird, wie es die Kassandren prophezeien.

Die Hoffnung ist geplatzt, in Italien noch früher und deutlicher als in Deutschland.

Das Ökosystem Mittelmeer

Für Klimatologen bildet der Mittelmeerraum ein Ökosystem, das wegen einiger Besonderheiten zusammen mit dem Südwesten der USA (Arizona) und der Region Xinjian in China zu den Zonen der Erde gehört, die überdurchschnittlich stark von der globalen Erhitzung betroffen sind: Ihr Zentrum ist ein Binnenmeer, dessen mittlere Wassertemperatur sich auf bisher unerreichte 28,4 Grad erwärmt hat, mit einer subtropischen Hochdruckzone, die sich im Sommer über der afrikanischen Sahara bildet, aber zunehmend nach Südeuropa ausdehnt, und mit einer Klimascheide im Norden in Gestalt der Alpen. Die Modellrechnungen der Klimatologen prophezeien dieser Zone eine Erwärmung, deren Anstieg 20 Prozent über der Geschwindigkeit liegt, mit welcher der Treibhauseffekt den gesamten Globus erwärmt. Obwohl die Rechnung mit Klimamodellen bei offenen Systemen wie der Erde stets nur Annäherungen ermöglicht, ist sie realitätsnah genug, um in Grundzügen das Geschehen zu erfassen, das sich vor unseren Augen abspielt.

Dass sich in Italien Grundlegendes verändert, dazu musste man dort in den letzten Monaten nur vor die eigene Haustür gehen, um es am eigenen Leib zu erfahren: in Süditalien in Gestalt einer Hitzewelle, die ihresgleichen sucht (47 Grad in Palermo, 48 in Sardinien), mit Dürren und brennenden Wäldern, in Norditalien mit Tornados, abgedeckten Dächern und umgerissenen Bäumen, mit sintflutartigen Regenfällen und mit Hagelschlägen, dessen zitronengroße „Körner“ in den Städten Fenster- und Autoscheiben zertrümmern und auf dem Land ganze Ernten vernichten. Wenn gerade der Generalsekretär der UN, Guterres, als eine der gefährlichsten Folgen des Klimawandels die Schäden für die globale Nahrungsmittelproduktion nannte, so hatte er dabei vor allem die sich ausbreitenden Dürre-Zonen im Blick (z. B. am Horn von Afrika). Die italienischen Unwetter zeigen, dass dieser Prozess noch eine nicht minder zerstörerische Kehrseite hat.

Zwei Seiten einer Medaille

Beide Phänomene, so gegensätzlich sie scheinen, sind für die Klimaforscher zwei Seiten einer Medaille, deren Ursache die durch Treibhausgase (vor allem CO2, das bei der Verbrennung fossiler Substanzen emittiert wird) überhitzte Atmosphäre ist: Je heißer sie wird, desto mehr nimmt sie Energie und Feuchtigkeit auf, was sich in heftigen Unwettern entlädt, wenn z. B. die heißen Luftmassen aus dem Süden in Norditalien auf kühlere aus dem Norden stoßen. Dabei kommt es zu „Schaukeleffekten“, die zusätzlich zerstörerisch sind, wenn die gleiche Menge Regen, die in vielen Dürre-Monaten ausblieb, plötzlich als Sturzflut in wenigen Stunden herunterkommt. Und dabei auf einen Boden trifft, den die vorausgehende Hitzewelle so gehärtet hat, dass er die Wassermengen nicht mehr aufnimmt. War zuvor die Hitze die Gefahr, so sind es nun zu reißenden Strömen gewordene Bäche und Überschwemmungen.

Die beginnende Agonie der Alpen

Ein weiterer Schauplatz der Zerstörung sind die Alpen. Der bekannte Alpinist und Bergführer Hervé Barmasse beschrieb das beginnende Sterben einer jahrtausendealten Kulturlandschaft („Repubblica“ vom 21. 7.): Da die Null-Grad-Grenze inzwischen auf 4600 Meter angestiegen sei, schmelzen die Gletscher immer schneller, das Schmelzwasser bildet schon in 4300 bis 4500 Metern Höhe regelrechte Sturzbäche. Der Halt, den der Permafrost dem Gestein gab, schwindet, es wird brüchig, die Steinschläge nehmen zu. „Die Berge sterben, aus ihnen werden trockene und instabile Geröllfelder… Zum Fuß des Monte Rosa wird schon in Tankwagen Trinkwasser gebracht. Auf Almen in 2700 Meter Höhe wird das Wasser für die Kühe und für den Käse knapp. Die Sonne dörrt die Wiesen aus, wenn es regnet, läuft das Wasser sofort ab. Der Wassermangel diskriminiert die Armen: Die Wohlhabenden, seien es Touristen oder Unternehmer, fordern alles Wasser, den anderen bleibt die Trockenheit. Die Verwüstung der Alpen zerstört auch die Gesellschaft“.

Antworten

Der Klimawandel ist in Italien nicht nur mit Händen zu greifen, sondern es gibt schon überall Versuche, sich auf ihn einzustellen. Am flexibelsten scheint hier die Tourismus-Branche zu sein, indem sie am Meer und in den Städten bereits im Juli und August mit weniger und im Frühling, Herbst und Winter mit mehr Nachfrage rechnet. In den klassischen Zentren für Skiurlaube gehören Maschinen zur Produktion von Kunstschnee bereits zur Standard-Ausrüstung.

Reagieren müssen auch die großen Städte der Kunst, deren Hauptproblem es bisher war, den Massentourismus zu bewältigen und dabei trotzdem die urbane Lebensqualität zu retten. Der Klimawandel stellt sie vor ein neues Problem, das Dario Nardella, der Bürgermeister von Florenz, so beschreibt: „Der Winter wird zur Hauptsaison, die Denkmäler müssen, wo möglich, ins Innere gebracht und durch Kopien ersetzt werden… Alle müssen das Problem bewältigen, wie sie auf das kombinierte Problem Klimawandel und Luftverseuchung reagieren… Hier sind die Städte Problem und Lösung zugleich. Die wichtigsten energiepolitischen Innovationen kommen aus Paris, Barcelona, Prag, München, Warschau und aus meinem Florenz. Autofreie Zonen, grüne Anreize, urbane Bewaldung, Straßenbahnen… In Florenz geben wir Millionen Euro aus, um unsere Schätze vor den Agenten des Klimawandels zu schützen, das ist eine große Schlacht“. Urbane Bewaldung empfiehlt auch der Ökologe und Friedensnobelpreisträger Riccardo Valentini: „Nicht Pinien mit schwachen und oberflächlichen Wurzeln, sondern Eichen oder Olivenbäume“.

Obwohl Italien 2022 das europäische Land mit den meisten Hitze-Toten war (18.000, vor allem alte Menschen mit Herz- oder Lungenproblemen), hat es sich noch nicht dazu aufgerafft, sog. „Klima-Assessoren“ zu ernennen, die es schon in Los Angeles, Miami und Athen gibt und sich dort um die Prävention von Hitze-Schlägen und Stromausfällen kümmern. Aber sie werden wohl bald kommen.

Die Reaktion der Rechten

Trotzdem gibt es immer noch Menschen, welche die Realität des Klimawandels in Frage stellen. Und obwohl das „immer noch“ suggerieren könnte, dass es sich um eine aussterbende Spezies handelt, haben ihre politischen Vertreter wachsenden Zulauf – in Italien, wo sie „Negationisten“ heißen, sogar die Macht. Die sie auch nutzen: In Italien, wo die Regierung gerade beschlossen hat, einige ökologische Projekte wegen ihrer „Kompliziertheit“ aus dem PNRR-Plan zu streichen, und in Europa, wo sie ein Kernstück des geplanten „Green deal“, das Renaturierungsgesetz, zu verhindern suchten. Noch vor einigen Jahren organisierte Lucio Malan, der Fraktionsvorsitzende von Melonis FdI im Senat, Konvente mit dem Titel „Den Klima-Notstand gibt es nicht“. Carlo Fidanza, ebenfalls FdI, dekretierte im Europa-Parament, dass es Klimaänderungen schon „seit Jahrtausenden“ gebe und man ihnen deshalb nicht mit „diesen apokalyptischen Tönen“ begegnen solle. Andrea Giambruni, Giorgia Melonis Lebenspartner und Moderator in Berlusconis RAI4, erklärte, dass für ihn die „Juli-Hitze keine Nachricht wert“ sei.

Die Geburt eines Tabus

Eine Feststellung, hinter der der Versuch einer neuen Tabubildung steckt. Karl Lauterbach erfuhr sie bei einem Italien-Urlaub im Juli am eigenen Leib, als er es wagte, in einem Twitter über die Hitze zu klagen und ihn dann auch noch mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen, der den europäischen Süden zerstöre und den Tourismus bedrohe. Giambrunis gereizte Antwort, wieder über RAI4, zeigt, dass er damit schon die Grenze des Erlaubten überschritten hat: „Seit 20, 30 Jahren erklären uns die Deutschen, wie wir zu leben haben… Wenn es dir (gemeint ist Lauterbach) nicht passt, dann bleib zu Hause“. Denn erstens gibt es keinen Klimawandel, und wer zweitens trotzdem von ihm und seine Folgen redet, mischt sich in die italienischen Angelegenheiten ein. Die Antwort eines Souveränisten, mit dem er es schaffte, in den sozialen Medien einen regelrechten Shitstorm gegen Lauterbach auszulösen.

Meloni ist da vornehmer. Als sie eine Rundreise durch die von Überschwemmungen besonders betroffene Emilia-Romagna machte, brachte sie keine Bemerkung über die Lippen, dass sie etwas mit dem Klimawandel zu tun haben könnten. Ihren Zustimmungswerten schadet es offenbar nicht.

„Schlafwandler“?

Hier beginnt das Rätsel: Wie ist es möglich, dass eine politische Rechte beim Klimawandel mit einer Haltung Erfolg hat, die nicht nur fast jeder wissenschaftlichen Expertise, sondern auch jedem elementaren Augenschein widerspricht? Der Journalist Manconi antwortet in der „Repubblica“ vom 2. 6. mit der These, dass dies das Ergebnis von „Verdrängung“ sei, weil das Umweltproblem für die Wahrnehmungsfähigkeit und mentale Bewältigung als „zu groß“ und „unkontrollierbar“ erscheine. Umso mehr sei hier eigentlich die Politik gefordert, um das gegenwärtige Interesse mit der Zukunft zusammenzubringen. Aber hier zeige sich bei „der Rechten, die politisch im Hier und Jetzt, in einem territorial und auf die Gegenwart begrenzten Raum verwurzelt ist, eine strukturelle Grenze. Das ist der eigentliche Ursache dafür, dass sie zur Ökologie unfähig ist“.

Um den Geisteszustand der Akteure zu beschreiben, die Europa und den ganzen Erdball in den Ersten Weltkrieg führten, kam der australische Historiker Christopher Clark auf das Wort „Schlafwandler“. Man kann darüber streiten, wie zutreffend diese Metapher für einen Zustand ist, in dem die Handlungen vieler Akteure auf die kollektive Zerstörung zustreben. Denn so aktiv der Schlafwandler auch ist – er handelt -, so trägt er doch – als Schlafender – keine Verantwortung für sein Tun, was man für die Akteure des Ersten Weltkriegs nicht behaupten kann. So wäre es auch falsch, die Negationisten der politischen Rechten in Italien „Schlafwandler“ zu nennen. Denn in ihre Verantwortung fällt es, dass sie aus der Bereitschaft ihrer Wählerschaft zur Verdrängung bedenkenlos ihr politisches Geschäftsmodell machen. Ebenso wie es in die Verantwortung ihrer Wählerinnen und Wähler fällt, sich davon einlullen zu lassen.