Sturmangriff auf die „verkehrte Welt“

Am 10. August veröffentlichte General Roberto Vannacci ein Buch, das auf Anhieb die Spitze der italienischen Bestseller-Listen eroberte und zum Aufreger des Sommerlochs wurde. Er nannte es „Il mondo al contrario“ (Verkehrte Welt) und legt in ihm seine Ansichten über alles dar, was in Italien falsch läuft. Was die Neugier der Menschen weckte, bevor sie den Inhalt kannten, dürfte der Autor sein – und was mit ihm nach Erscheinen des Buchs geschah.

Denn erstens ist der Autor ein leibhaftiger General mit einer Karriere, die ihn für viele Italiener zum Helden macht: zunächst Oberst, dann Brigadegeneral einer berüchtigten Elitetruppe von Fallschirmspringern, mit Einsätzen in Somalia, Ruanda, Jemen, Ex-Jugoslawien, Libyen, Afghanistan und im Irak. Der sich dabei auch für seine eigenen Soldaten einsetzte, selbst wenn dies für die militärische Führung und für die Politik unbequem war: 2020 brachte er durch zwei Beschwerden ans Licht, dass im Irak die Gesundheit der eigenen (!) Truppen durch den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran gefährdet wurde. Dass aber der heute 54-Jährige zuletzt seit Anfang dieses Jahres nur noch das militärgeographische Institut in Florenz leiten durfte, sehen einige Anhänger als Indiz dafür, dass man schon länger versucht, ihn aufs Abstellgleis zu schieben.

Zweitens stellte ihn die oberste militärische Führung unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buchs nun auch von diesem Amt frei und eröffnete ein Disziplinarverfahren, mit der Begründung, dass er das Buch trotz „delikater“ Inhalte zu spät und zudem unzureichend bei seinen Vorgesetzten angekündigt habe (es handele sich nur um „persönliche Betrachtungen“, soll er erklärt haben). Zum Medienereignis wurde die Veröffentlichung dadurch, dass sich auch Guido Crosetto, Melonis Verteidigungsminister, ohne Zögern hinter das Vorgehen der Militärführung stellte – aus „institutionellen“ Gründen, wie er bekundete, und weil es sich beim Buch offenbar um „Wahnvorstellungen“ handele. Was wiederum viele aus dem rechten Lager auf den Plan rief, die – wohl meist ohne das Buch gelesen zu haben – sich erst einmal darüber empörten, dass hier einer der Ihren mundtot gemacht werden solle. Eine bessere Werbung für das Buch hätte es trotz seiner fast 400 Seiten kaum geben können.

Vannaccis rechter Katechismus

Um es gleich zu gestehen: Auch ich habe das Buch nicht gelesen, vor allem weil diejenigen, die es taten, fast einhellig berichten, welche Mühe es sie kostete, es bis zu Ende zu lesen. Aber die Berichte genügen, sich nun doch über seinen Inhalt ein einigermaßen rundes Bild machen zu können. Der Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich immer mehr von dem, was wir „Vernunft“ und „normales Empfinden“ nennen, entferne. Dahinter steckten „organisierte Minderheiten“ – z.B. die Schwulen- und Lesben-Verbände -, die alles auf den Kopf stellen, was die Mehrheit bisher für Normalität hielt, aber nun aus ihrer Sicht „zerstört, abgeschafft und disqualifiziert“ werden müsse. Die Heilung besteht für Vannacci in der Rückkehr zu „Normalität“ und „gesundem Menschenverstand“ („Buonsenso“), den uns die Vorfahren hinterlassen hätten.

Im Einzelnen:

Vaterland. Vannacci beklagt, dass dieses Wort in Italien noch viel zu wenig genutzt werde, ebenso wenig wie Fahne und Hymne. Sie müssten ein Teil des Alltagslebens werden, vor allem in den Schulen und für die Jüngsten.

Bedrohung durch Immigration. Völker bildeten sich um gemeinsame Werte und Kulturen. Dagegen wolle der „Multikulturalismus“ fremde Werte in die Gesellschaft aufnehmen, wodurch er, mit „von Minderheiten durchgesetzten zweifelhaften Regeln von Inklusion und Toleranz“, die gesellschaftliche Kohäsion aufs Spiel setze. Eine friedliche Koexistenz verschiedener Ethnien sei in einem Staat nur dann möglich, wenn es eine dominante Kultur gebe, die gemeinsame Normen durchsetze und den Immigranten eine entsprechende „Assimilation“ abverlange. Aber auch das genügt nicht, wie es Vannaccis „Betrachtung“ über Paola Egonu zeigt, die bekannte Volleyballspielerin mit nigerianischen Wurzeln, die in Italien geboren wurde und 2020 bei der Olympiade von Tokio die Trikolore trug: Bei ihr sei „evident, dass ihre somatischen Merkmale nicht jene ‚Italianità‘ zeigen, die alle Fresken, Bilder und Statuen von den Etruskern bis zur heutigen Zeit enthalten“. Womit der General umschreibt, was früher „Rasse“ hieß, auf deren eigenen Wert er in Frageform hinweist: „Warum sollten wir das, was unsere identitären Charakteristika ausmacht, in einer Art von globalem Genom auflösen?“ Für Vannacci ist es das Blut, das hier die Identität stiftet, zu der auch er Zugang hat: „Durch meine Adern fließen noch Tropfen des Bluts von Äneas, Romulus, von Julius Cäsar, Dante…, Lorenzo de Medici, Leonardo da Vinci, Michelangelo. Mazzini und Garibaldi“. Kann das auch die Egonu von sich behaupten? Eben, kann sie nicht. (Dass in der von Vannacci angerufenen Ahnengalerie ein kleiner Widerhaken steckt, wurde übrigens schon von Historikern bemerkt: Cäsar, den er zu seinen Vorfahren zählt, war wohl bisexuell).

„Normalfamilie“ und Homosexualität. „Die Familien, die wir heute groß nennen würden, stellten einst in einem ärmeren, ländlicheren und rückständigeren, aber vielleicht auch glücklicheren Italien als heute die Normalität dar“. Er rühmt die traditionelle „Schönheit der Kernfamilie, in der sich ein Elternteil, im allgemeinen die Mutter, vor allem um die Familie kümmerte“. Dann der Posaunenruf gegen die Abweichler, der das Buch berühmt und zur Bibel der Rechten machte: „Liebe Homosexuelle, begreift doch, dass ihr nicht normal seid!“ Ein Spiel mit der Ambivalenz des Begriffs „Normalität“: Sie ist einerseits eine neutrale Aussage über die Häufigkeit eines Ist-Zustands (Heterosexualität ist häufiger), andererseits aber auch eine Norm für das, was sein soll. Nach der Veröffentlichung des Buchs versicherte Vannacci, keineswegs „homophob“ zu sein („anormal“ sei er, der Fallschirmspringer und Heros, „doch auch“) – die Aussage habe er nur gemacht, um die umstandslose Gleichsetzung von homo- mit heterosexuellen Eltern in Frage zu stellen. Bei dem größten Teil seiner Leserschaft kam sein „begreift doch!“ anders an: Schwule und Lesben sind „nicht normal“, endlich sagt es wieder einer. Ein wirklich ungewolltes „Missverständnis“?

Einbrecher im Haus. Die Frage, was man tun darf, wenn man sie im Hause glaubt, ist ein alter Streit zwischen Links und Rechts – zumindest zwischen denen, die meinen, dass dann dem Bewohner alles erlaubt ist, und denen, die meinen, dass auch in solchen Fällen noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gelten müsse. Für Vannacci ist hier Abwägung nicht nötig: „Wenn ein Einbrecher ins Haus kommt, warum soll es mir dann nicht erlaubt sein, auf ihn zu schießen, ihn mit irgendetwas außer Gefecht zu setzen, was ich gerade in die Hand bekomme und das ich ihm in die Kehle bohre, um ihn zu töten – warum soll ich dann verurteilt werden?“ Es ist die Passage, die am deutlichsten macht, wes Geistes der General ist – samt denjenigen, die ihm jetzt zujubeln.

Ein begehrter Partner

Es gibt noch andere Themen, die der General in seiner „verkehrten Welt“ behandelt, z. B. den Klimawandel. Aber es sind die eben genannten Themen, die seinen Erfolg begründen. Nicht weil er dabei der Mehrheit aus der Seele spricht – dafür ist die italienische Gesellschaft zu gespalten. Aber die Umfragen sagen, dass er damit ungefähr die Hälfte der Menschen erreicht, vor allem die älteren und schlechter ausgebildeten, welche – so der Literaturkritiker Marino Sinibaldi – „die Modernität erschreckt“.

Es war nichts anderes zu erwarten: Die Rechte, die ja auch untereinander heftig konkurriert, schlägt sich jetzt um ihn als politische Gallionsfigur. Der erste, der die Arme ausbreitete, war Salvini, der öffentlich erklärte, dass er mit Vannacci ein „herzliches“ Telefongespräch geführt habe und nun auch sein Buch lesen werde. Die rechtsextreme „Forza nuova“ (die im Oktober 2021 den Sturm auf die römische Zentrale der CGIL organisierte), fragte an, ob er nicht einer ihrer Kandidaten für das nächste EU-Parlament werden wolle. Mit definitiven Zusagen hält sich Vannacci bisher zurück – „vorerst“, wie er hinzufügt.

Meloni hat es da schwerer, denn immerhin war es ihr Parteifreund Crosetto, der sich als Verteidigungsminister „aus institutionellen Gründen“ gegen Vannacci entschied. Sie weiß, dass es ihren Ambitionen auf dem europäischen und internationalen Parkett eher schaden würde, wenn sie allzu offen für Vannacci Partei ergreift, auch wenn dieser heute Positionen bezieht, die sie gestern noch selbst vertrat und bis heute nicht widerrufen hat, als sie für „Dio, Patria e Famiglia“ in den Kampf zog. Andererseits weiß sie aber auch, dass ihre traditionelle Gefolgschaft anfängt, misstrauisch zu werden, seitdem sich Meloni „institutionell“ gibt. Was wiederum Salvini zu nutzen sucht – die Europawahl steht bevor, und die italienischen Wahlergebnisse von vor einem Jahr, die ihn hinter Meloni in die zweite Reihe verwiesen, hat er noch nicht verwunden.

So greift Meloni wieder zu der Taktik, die sie jetzt häufiger anwendet: Sie schweigt und lässt andere reden. Wie zum Beispiel ihren Vertrauten Giovanni Donzelli, den sie zum „Koordinator“ der Regierungsarbeit ernannte und der gleich nach Crosettos Stellungnahme gegen Vannacci erklärte, dass sie falsch sei und man „in einer Demokratie ja doch wohl noch sagen kann, was man denkt“. Wobei Meloni wohl hofft, dass ihr Wahlvolk hier versteht, dass sie nicht selbst einfach sagen kann, was sie in Wahrheit denkt. Denn die Welt ist ja leider „verkehrt“.

Vannaccis halbes Verdikt über die „Unnormalität“ charakterisiert den Halbschatten, der jetzt über der politischen Landschaft Italiens liegt: das apodiktisch Behauptete wird gleich wieder relativiert, neben dem scheinbar Abgewogenen explodiert Aggressivität, und die Leitwölfin ist stumm, wo die Meute heult. Ein Land im Wartezustand der Ungewissheit.