Der Irrtum Amerikas

Vorbemerkung der Redaktion: Am 27./28. Juli war Giorgia Meloni zu Besuch in Washington, mit zwei Gastgeschenken im Gepäck: (1) im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland auf der Seite der Ukraine zu stehen (angesichts der Widerstände in ihrer Koalition keine Selbstverständlichkeit). (2) mit der Zusage, demnächst wieder aus dem Seidenstraßen-Projekt mit China aussteigen zu wollen, in das Italien 2019 (als Conte und Salvini zusammen regierten) mit viel Getöse und großen Hoffnungen auf Millionen-Geschäfte und eine eigenständige Außenpolitik eingestiegen war.

Der Empfang durch Biden war entsprechend freundlich, was die italienische Rechte sofort als Erfolg verbuchte, die in der Einladung nach Washington Melonis Ritterschlag sah. Aber es gab auch Kritik, die sich zunächst an die Adresse von Meloni richtete. Ihr wurde vorgeworfen, sich durch ihr emphatisches Ja zur militärischen Unterstützung der Ukraine und zur Nato um die nicht weniger wichtige Frage herumzudrücken, wie sie zu den Werten Freiheit und Rechtsstaatlichkeit steht, und damit die Frage nach ihrem Verhältnis zu Europa auf eine militärische Parteinahme reduziert. Indirekt war es aber auch eine Kritik an Joe Biden, der sich bei ihrem Empfang allzu utilitaristisch nur an dieser Frage zu orientieren schien – als ob Europa und die USA nicht noch mehr gemeinsam zu verteidigen hätten – immerhin hat Biden einen Trump im Haus.

Es ist wohl kein Zufall, dass es ein Amerikaner ist, der in diese Kritik auch explizit den US-Präsidenten einbezieht, was er schon im Titel des folgenden von uns übersetzten Artikels deutlich macht, den er am 28. Juli in der „Repubblica“ veröffentlichte. Er stammt von dem jetzt in Italien lebenden Schriftsteller David Broder, dem Europa-Redakteur des linken US-amerikanischen Magazins „Jacobin“, das auch in Brasilien, Deutschland und Italien erscheint. Broder ist Autor des Buchs „Mussolinis Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy“.

Amerika irrt, wenn es der extremen Rechten eine Legitimation gibt

(Repubblica vom 28. 7., aus der New York Times)

Wie sich die Dinge im Lauf weniger Monate ändern können: Vor den italienischen Wahlen im vergangenen Herbst wurde Giorgia Meloni meist als Bedrohung dargestellt. Während ihr in diesem Sommer alles – die jugendliche Begeisterung füir Benito Mussolini, die Verbindungen ihrer Partei zu den Neofaschisten, ihre oft extreme Rhetorik – verziehen wurde. Gelobt für ihren Pragmatismus und die Unterstützung der Ukraine hat sich Meloni als eine vertrauenswürdige Partnerin des Westens etabliert, im Zentrum der G7- und Nato-Gipfeltreffen. Ihr Besuch in Washington besiegelt ihren Status als geschätztes Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Aber das Narrativ einer pragmatisch gewordenen populistischen Akteurin unterschlägt einen wichtigen Aspekt: Was in Italien geschieht. Ihre ersten Monate widmete die Regierung Meloni dem Kampf gegen die Opposition, welche die Triade Gott, Vaterland und Familie untergrabe – eine Anklage, die bereits schreckliche praktische Konsequenzen für Migranten, NGOs und gleichgeschlechtliche Ehepartner hatte. Ebenso besorgniserregend ist die geplante Abschwächung der Gesetze gegen die Folter, die Besetzung der RAI mit eigenen Vertrauensleuten und die Revision der Verfassung, um die Macht der Exekutive zu stärken. Die Regierung Meloni ist nicht nur nativistisch (d. h. verteidigt die eigene Kultur gegen ihre angebliche Bedrohung von außen, AdR.), sondern hat auch eine robuste autoritäre Einfärbung.

Aber was schon für Italien schwerwiegende Folgen hat, entfaltet einen Großteil seiner Wirkung erst außerhalb seiner Grenzen, wobei es demonstriert, wie die extreme Rechte die historische Barriere zu Mitterechts durchbrechen kann. Melonis Verbündete sind schon in Polen an der Macht, auch dort legitimiert durch ihre Unterstützung der Ukraine. In Schweden braucht eine Mitterechts-Koalition die Unterstützung der nativistischen Schwedendemokraten, um regieren zu können. Noch besser hat es die Anti-Migrantenpartei in Finnland getroffen: Dort sitzt sie jetzt in der Regierung. Obwohl diese Parteien – wie viele andere gleichgesinnte in Europa – einst die Mitgliedschaft in der Nato und in der EU ablehnten, suchen sie jetzt ihren Ort in den wichtigsten euro-atlantischen Institutionen, um sie von innen heraus zu transformieren. Für dieses Projekt ist Meloni der Türöffner.

Seit sie Ministerpräsidentin ist, hat sie ihre Sprache gemäßigt. Sie bemüht sich um den Anschein, abwägend und vorsichtig zu sein: Dabei hilft es ihr, lieber Fernsehansprachen zu halten als auf Fragen von Journalisten zu antworten. Stattdessen kann sie auf Parteifreunde zählen, die da weniger abwägend sind. Sie nehmen die Lgbtq+-Eltern aufs Korn, nennen die Leihmutterschaft ein ’schlimmeres Verbrechen als die Pädophilie‘ und behaupten, dass Schwule mit fremden Kindern als eigenen ‚dealen‘. Meloni scheint sich von einer solchen Rhetorik fernzuhalten, aber ihre politischen Entscheidungen zeigen nicht Vorsicht, sondern Fanatismus. Die Regierung hat das Verbot der Leihmutterschaft dahingehend ausgeweitet, dass nun auch die Adoption in anderen Ländern kriminalisiert wird, und hat die Kommunen angewiesen, gleichgeschlechtliche Ehen nicht mehr zu registrieren, was für ihre Kinder heißt, in einem gesetzlichen Limbus gelassen zu werden.

Das Gleiche geschieht mit der Immigration. Melonis Landwirtschaftsminister und Schwager hat zum Widerstand gegen die ‚ethnische Substitution‘ aufgerufen. Obwohl sie diesen Slogan nicht ablehnt – Meloni benutzte ihn schon, als sie sich 2017 erfolgreich gegen ein Gesetz wehrte, das den in Italien geborenen Kindern von Ausländern die Staatsbürgerschaft gewähren wollte -, vermeidet sie diesen Ausdruck, seit sie im Amt ist. Dennoch spricht aus ihrem Appell ‚Wir brauchen nicht mehr Migranten, sondern mehr Kinder‘ der gleiche Geist. Der aggressive Widerstand gegen die Immigration ist zum Kernpunkt ihrer Regierung geworden. Ein im April verabschiedetes Gesetz zwingt Asylsuchende, in staatlichen Einrichtungen zu leben, so lange ihre Anträge geprüft werden, und alles ohne juristische Beratung und italienische Sprachkurse. Zuletzt schloss Meloni ein EU-Abkommen mit Tunesien, dessen autoritäres Regime ebenfalls die Theorie vom großen Komplott der Substitution verkündet, um die Immigration zu bremsen, als Gegenleistung für finanzielle Unterstützung.

Das Vorgehen der Regierung gegen die Immigration wird noch härter. Im Juni beschlagnahmten die Behörden zwei Schiffe, die sich für humanitäre Hilfe einsetzen, mit der Anklage, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, das den NGO-Schiffen verbietet, mehrfache Rettungseinsätze durchzuführen – trotz der Fälle, in denen die italienischen Behörden nicht auf Hilfsgesuche antworteten. Im Jahr ertrinken mehr als 2000 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Maßnahmen der Regierung Meloni sorgen dafür, dass die Menschen weiterhin sterben.

Auch die Journalisten stehen unter Druck. Einige Minister haben Verfahren wegen übler Nachrede angestrengt oder angedroht, was den Versuch bedeutet, kritische Stimmen einzuschüchtern. Auch die RAI ist bedroht. Nach den Rücktritten des Geschäftsführers und der wichtigsten Leiter, zu denen es auf Druck der Regierung kam, gleicht das staatliche TV einer Art ‚Tele-Meloni‘ mit einem Personal, bei dessen Selektion die Regierung keine Hemmungen zeigt. Von Giampaolo Rossi, dem neuen Geschäftsführer, ist bisher bekannt, dass er ein Festival der Fratelli d’Italia organisierte. Nach seiner Ernennung veröffentlichten die Zeitungen viele seiner Posts, in denen er sich in den sozialen Medien gegen die Immigration wendet, samt einem Interview, in dem er die ‚Karikatur‘ eines Antifaschismus verurteilt, die auf dem öffentlichen Leben laste.

Was nicht nur seine Sorge ist. Das antifaschistische Erbe der Resistenza zu Grabe zu tragen, ist für die Fratelli d’Italia sehr wichtig, eine Partei, die ihre Wurzeln in der großen Niederlage hat, die ihre faschistischen Vorfahren 1945 erlebten. Als Ministerpräsidentin nannte Meloni die antifaschistische Kultur der italienischen Nachkriegszeit eine repressive Ideologie, die sogar für die Ermordung rechter Aktivisten während der politischen Unruhen der 70er Jahre verantwortlich sei. Wobei es nicht nur um Geschichtsrevision geht. Auch die Verfassung, welche die Parteien in der Zeit der Resistenza erarbeiteten, soll revidiert werden. Die FdI strebt die Direktwahl des Regierungschefs an, ebenso wie eine von jeder Fessel befreite Exekutive. Obwohl sie neu ist, hat die Regierung Meloni alle Chancen, dauerhafte Änderungen der politischen Ordnung durchzusetzen.

Trotz ihrer faschistischen Wurzeln bedeutet diese Regierung keine Rückkehr in die Vergangenheit. Indem sie die Rechte zu einer identitären Politik ermuntert, droht sie etwas völlig Anderes zu werden: die europäische Zukunft. Die konservativen britischen Tories werden zum Echo von Melonis Obsession, anstelle der Immigration die Geburtsraten hochzubringen; französische Anti-Immigrationspolitiker wie Éric Zemmour berufen sich auf Italien als Modell dafür, wie ‚die Kräfte der Rechten zu vereinen‘ seien; und sogar in Deutschland ist jetzt die lange Weigerung der Christdemokraten, mit der AfD zu paktieren, einer harten Prüfung ausgesetzt.

Der Erfolg ist sicherlich nicht unvermeidlich. Vor den spanischen Wahlen in der letzten Woche wandte sich Meloni an die mit ihr verbündete nationalistische Partei Vox mit der Erklärung, nun sei ‚die Zeit der Patrioten gekommen‘; in Wahrheit verlor Vox Stimmen und erreichten die rechten Partéien nicht die Mehrheit. Trotz ihres wachsenden Erfolgs wurden diese Kräfte jahrelang als rebellische Outsider beschrieben, die eine lange ignorierte Wählerschaft repräsentieren. Am beunruhigendsten ist die Neuigkeit, dass sie nicht mehr Protestparteien sind, sondern dass sie immer mehr der Mainstream willkommen heißt. Für den Beweis genügt der Blick auf Washington.“

Nachbemerkung:

Wie nötig es ist, auch Joe Biden in die Kritik einzubeziehen, zeigt das neueste Interview, in dem Manfred Weber (am 6. August im ZDF) wieder einmal sein Loblied auf Giorgia Meloni singt – wie üblich zur Beruhigung eingepackt in die Versicherung, dass „eine Debatte um ihre Aufnahme in die EVP-Fraktion erst einmal (!) nicht ansteht“ und die EVP mit der AfD ganz sicher nichts zu tun haben wolle. Um dann fortzufahren: „Aber wer das heutige Regierungshandeln anschaut und sieht, wie Giorgia Meloni mittlerweile auf internationaler Ebene akzeptiert und respektiert ist, der sieht, dass sie in die Mitte gehen will“. Ein argumentativer Taschenspielertrick: In den Bericht über das herzliche Einvernehmen zwischen Biden und Meloni wird schnell auch ihr „Regierungshandeln“ einbezogen, das dann ja auch nicht so schlimm sein kann, woraus Weber kühn folgert, dass Meloni „in die Mitte will“, um Europa zu „gestalten“. Alles Leerformeln, die offen lassen, in welche Richtung die Reise gehen soll. Eine erste Antwort darauf, was hier „Gestaltung“ bedeutet, haben Weber und Meloni schon gegeben, als sie im EU-Parlament vereint gegen das Renaturierungsgesetz stimmten, ein Kernstück des „Green Deals“. Noch reichte es nicht für die Mehrheit, weil nicht alle EVP-Abgeordneten Webers Direktive folgten. Dabei hatten sowohl Biden als auch Mattarella noch wenige Tage vor Melonis Trip nach Washington verkündet, dass nun der Kampf gegen die Klimakatastrophe in den Mittelpunkt aller Anstrengungen zu rücken sei.

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