Es gilt das unausgesprochene Wort

Es ist nichts zu machen. Sie bringt es nicht über die Lippen. Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin eines Landes, dessen Demokratie und Verfassung auf dem Sieg gegen die faschistische Diktatur gründen, weigert sich hartnäckig, faschistische und neofaschistische Verbrechen als das zu bezeichnen, was sie sind: faschistisch bzw. neofaschistisch.

Jetzt ist es wieder geschehen. Wie in jedem Jahr gedachten auch an diesem 2. August das Land und seine Institutionen des Tages, an dem 1980 im Bahnhof von Bologna eine gewaltige Bombe explodierte, die 85 Menschen tötete und 200 weitere verletzte.

Die neofaschistischen Terroranschläge in den 70er und 80er Jahren

Der Anschlag von Bologna war die blutigste einer ganzen Serie von neofaschistischen Terroraktionen, die in den 70er und 80er Jahre Italiens Demokratie mit der sogenannten „Strategie der Spannung“ erschütterten. Dazu gehörten u. a. in Mailand der Anschlag auf der Piazza Fontana (1969), in Brescia auf der Piazza della Loggia (Mai 1974) und im Zug „Italicus“ (August 1974). Daran beteiligt waren Teile der italienischen Geheimdienste und des Militärs sowie die konspirative Freimaurerloge P2 von Lucio Gelli (deren prominentestes Mitglied, mit der Mitgliedsnummer 1816, Silvio Berlusconi war).

Ziel der Terroraktionen war die politische Destabilisierung des Landes, um die Voraussetzungen für einen Staatsstreich zu schaffen. Durch Beweisfälschung, Behinderung der polizeilichen Ermittlungen und Verwischung von Spuren seitens der Mitglieder der Geheimdienste und des Staatsapparates versuchte man, Linksextremisten oder internationale Organisationen – wie im Fall des Bologna-Massakers die Gruppe „Separat“ um den Terroristen Carlos, angeblich im Auftrag der palästinensische Befreiungsfront – für die Anschläge verantwortlich zu machen. Obwohl immer noch nicht alle Aspekte des Attentats von Bologna und dessen Akteure geklärt werden konnten, ist inzwischen nach jahrelanger Ermittlungsarbeit und mehreren Gerichtsverfahren die neofaschistische Urheberschaft des Anschlags erwiesen. Als Ausführende, im Auftrag von Gellis Geheimloge, wurden fünf Mitglieder der neofaschistischen NAR (Nuclei Armati Rivoluzionari) schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Mattarella erinnert an die Wahrheit, Meloni leugnet sie

„Die neofaschistische Urheberschaft wurde durch die Gerichtsverfahren gesichert bewiesen, und es sind dabei Komplizenschaften und schändliche Versuche der Spurenverwischung ans Licht gekommen, an denen Geheimorganisationen und untreue Mitglieder der Staatsapparate beteiligt waren“, so Staatspräsident Mattarella in seiner Botschaft zum Gedenktag des Terroranschlags in Bologna. Klipp und klar. Wie es eigentlich nicht anders sein kann.

Eigentlich. Denn die Regierungschefin – anders als der Staatspräsident – hütet sich davor, die Verantwortung der rechtskräftig verurteilten Neofaschisten für das Massaker anzuerkennen. Sie spricht vielmehr von „einem der brutalsten Terrorattacken in Italien“, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer sie verübt hat. Sie fordert stattdessen, „mit historischen Recherchen nach der Wahrheit zu suchen und dafür all die notwendigen Dokumente und Informationen zur Verfügung stellen“. Damit widerspricht sie nicht nur dem Staatspräsidenten, sondern auch den höchstinstanzlichen Gerichten, die auf der Grundlage gesicherter Beweise bereits die Killer, die im Auftrag von Gelli handelten, verurteilt haben. Sie unterstellt, dass die jahrelangen Ermittlungen und Recherchen, die zu den Urteilen geführt haben, unzureichend bzw. fehlerhaft waren und wärmt mit nebulösen Anspielungen die Mär von angeblichen internationalen Komplotten (das Phantom einer „palästinensische Spur“, für die es keine Indizien, geschweige denn Beweise gibt) erneut auf.

Dies tut nicht irgendein obskurer Mussolini-Verehrer (was schon schlimm genug wäre), sondern die Ministerpräsidentin in einer offiziellen Note, also in Ausübung ihres Amtes. So weit sind wir gekommen. Rhetorische Frage: Ist jenen ausländischen Kommentatoren, auch von liberal-progressiven Zeitungen, die gerne darauf hinweisen, wie „pragmatisch“ und „moderat“ sich die italienische Regierungschefin auf dem internationalen Parkett gibt, eigentlich klar, was in Italien abläuft?

Melonis Spiel auf zwei Tastaturen

Tatsächlich bedient sich Meloni bewusst zweier Rollen: Die eine ist die der zuverlässigen Atlantistin, die sich bei ihrem USA-Besuch gegenüber Biden genauso charmant und herzlich zeigt, wie einst gegenüber Trump, und die auf europäischem Parkett Dialogbereitschaft demonstriert (ohne allerdings ihre renitenten souveränistischen Brüder in Ungarn und Polen zu brüskieren). Die zweite Rolle ist die innenpolitische, bei der sie die antieuropäische und identitäre Karte zieht und – wie jetzt am Gedenktag des Massakers in Bologna – sich konsequent weigert, zu ihren faschistischen Wurzeln und den Verbrechen der Rechtsterroristen auf Distanz zu gehen.

Sie tut es nicht, weil sie nach wie vor an diesen Wurzeln festhält. Ihnen und dem postfaschistischem Milieu verdankt sie, was sie heute ist, ihnen fühlt sie sich verpflichtet – mehr als der demokratischen Verfassung und deren Institutionen. Anders als Gianfranco Fini, der frühere Leader von Alleanza Nazionale (Vorgängerorganisation von Fratelli d’ Italia), will und kann Meloni keine Zäsur vollziehen. Ihre Ambiguität ist bewusst gewählt, sie ist für ihr politisches Handeln und ihre Macht konstitutiv, ja unverzichtbar. Dabei achtet sie darauf, dass beide Rollen in einem gewissen Gleichgewicht bleiben, damit die eine nicht die andere zu stark dominiert. Denn sie braucht beide.

Das zeigt sich auch an ihrem Verhalten zum Gedenken an dem Terroranschlag vom 2. August 1980. Nachdem sie mit ihrer offiziellen Note den Gerichten und dem Staatspräsidenten offen widersprochen hatte, gab es – kein Wunder – heftige Proteste: von den Organisationen der Angehörigen der Opfer, von Vertretern der Justiz, Partisanenverbänden, Gewerkschaften und Oppositionsparteien. Dies hatte Meloni mit Sicherheit einkalkuliert. Aber es gab auch Reaktionen von ihrer eigenen politischen Seite, und zwar unterschiedliche. Während Senatspräsident La Russa, der sonst für seine Verharmlosung des Faschismus bekannt ist und dafür mehrmals scharf kritisiert wurde, sich diesmal zur Erklärung durchrang, es gebe „eine Pflicht, an die endgültige gerichtliche Wahrheitsfeststellung zu erinnern, welche Neofaschisten die Verantwortung für das Massaker zuschreibt“, fühlten sich andere ermutigt, im Gefolge Melonis noch nachzulegen.

Ermunterung zur Geschichtsfälschung

Zu ihnen gehört Marcello De Angelis, der Sprecher des neuen Präsidenten der Region Latium (FdI), der früher Mitglied der rechtsextremen Terrororganisation „Terza Posizione“ war, mit engen (auch familiären) Bindungen zu neofaschistischen Terroristen. Offensichtlich ermuntert durch die Stellungnahme der Ministerpräsidentin, der er freundschaftlich verbunden ist, schrieb er auf Facebook, die verurteilten Neofaschisten hätten mit dem Anschlag im Bahnhof von Bologna „gar nichts zu tun“. Das wisse er „mit absoluter Gewissheit, und auch die Richter und Vertreter der Institutionen wissen das. Und wenn ich die Wahrheit sage, bedeutet das, dass sie lügen“.

Eine Aussage, die im Kern mit der Äußerung Melonis übereinstimmt, aber ihr trotzdem missfiel, weil sie ein wenig zu drastisch ist, um nicht noch mehr Proteste herauszufordern, was sie selbst noch stärker unter Druck setzen könnte. Was auch geschah. Von Medien und Opposition kam der Ruf, De Angelis müsse als Sprecher des Regionspräsidenten zurücktreten bzw. von seiner Funktion enthoben werden und Meloni müsse intervenieren. Sie tat es, allerdings nicht persönlich und öffentlich, sondern indirekt: Der Regionspräsident von Latium, Rocca, teilte mit, die Ministerpräsidentin sei über die Angelegenheit „nicht glücklich“ und habe ihn gebeten, eine „geeignete Lösung zu finden“. Die sah dann so aus, dass Rocca seinen Sprecher zu einer „Entschuldigung“ bewog. In einem neuen Post erklärte De Angelis, er habe nur „seine persönlichen Überlegungen“ zum Ausdruck gebracht und entschuldige sich, „damit manche verletzt zu haben“. Fügte aber dann gleich hinzu, dass er nach wie vor an der Richtigkeit der Gerichtsurteile zweifele. Von Rücktritt oder Amtsenthebung ist nicht die Rede, auch wenn die Opposition weiterhin darauf drängt. Rocca sieht hierzu keine Veranlassung, denn 1) bekleide De Angelis keine politischen Ämter und 2) sei er „über das Geschehene zutiefst betrübt“.

Ich bin kein Monster“

Die Vermeidung der Adjektive „faschistisch“ und „neofaschistisch“ ist genauso konsequent wie das Festhalten Melonis und ihrer „Brüder Italiens“ an der lodernden Trikolore-Flamme auf dem Parteilogo, die als Symbol für das „ewige Weiterleben“ Mussolinis und seiner Ideologie steht. Beide sind unverzichtbar für die Identität der Partei und die politische Autorität ihrer Anführerin. Die zum faschistischen Gruß ausgestreckten Arme ihrer Anhänger sind keine nostalgische Folklore, genauso wenig wie die Schlägertrupps der „Gioventù Nazionale“ (Jugendorganisation von FdI), die vor Schulen linke Jugendliche verprügeln, auf ihren Versammlungen SS-Lieder singen und unter dem Motto „Whites Lives Matter“ die weiße Vorherrschaft zelebrieren. Sie sind, wie auch das Reinwaschen neofaschistischer Terroristen, nicht Vergangenheit, sondern aktuelle politische Realität, die bis in die neue Spitze der staatlichen Institutionen hineinreicht.

„Ich werde dargestellt wie ein Monster, das bin ich nicht!“, so Meloni im scherzhaften Ton bei einem Interview mit Fox News während ihres Besuchs in den USA. Wirkt beruhigend und lädt zum Schmunzeln ein. Stimmt, sie ist kein Monster. Sie ist eine machtbewusste rechtsradikale Politikerin mit faschistischen Wurzeln, die dabei ist, Italiens Demokratie grundlegend zu verändern. Beruhigend ist das nicht. Und zum Lachen auch nicht.

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