Eine zerplatzte Hoffnung
Die Aussichten auf die nächsten Europawahlen sind nicht nur düster. Zunächst ist zu vermelden, dass sich Ursula von der Leyen nun wohl endgültig in der Pole-Position für ihre Neuwahl als Kommissionspräsidentin befindet, was in der heutigen Situation immer noch die beste Alternative ist. Sie tat es am 13. September, in ihrer jährlichen „Rede zur Lage der Union“ vor dem EU-Parlament, in der sie zwar kein Wort über ihre persönliche Absichten verlor, aber die „Lage“ so rosig darstellte, dass eigentlich auch zukünftig kein Weg an ihr vorbeiführt. Aber es war nicht nur diese Rede, die sie im Sattel hält, sondern es kam ihr dabei auch anderes zu Hilfe: vor allem die Wahl in Spanien, die wider Erwarten keinen Erdrutschsieg der extremen Rechten brachte, und im EU-Parlament die Abstimmung über den Renaturierungsteil des Green Deal.
Chamäleon Weber
Das erste Opfer war dabei – und das ist die gute Nachricht – Manfred Weber, der bis vor wenigen Wochen noch Himmel und Hölle für ein Bündnis der EVP mit der ultrarechten Gruppe von Melonis „Konservativen“ in Bewegung setzte. Nach der Europawahl sollte es das bisherige „Ursula-Bündnis“ ersetzen, zu dem die Sozialisten und – wenn auch weniger formalisiert – die Grünen gehörten, die Weber beide loswerden wollte. Es zeigt Webers ganzen Opportunismus, dass er unmittelbar nach dem Ende ihrer Rede den Vorsitzenden der sozialistischen und der liberalen Fraktion (Iratxe Garcia Perez und Stéphane Séjourné) folgende Nachricht schickte: „Liebe Iratxe, lieber Stephane, ich möchte mich bei euch für die fruchtbare Zusammenarbeit in diesen entscheidenden Momenten bedanken. Die Von der Leyen-Mehrheit hat es geschafft. Wir haben gemeinsam die richtigen Entscheidungen getroffen: bei der europäischen Impfung, beim Recovery Fund und zum Klimawandel“. Angesichts der Vorgeschichte, zu der auch Webers Versuch gehört, im letzten Moment doch noch den Renaturierungsbeschluss zu verhindern, ist dies an Unverfrorenheit kaum zu überbieten, Die Antwort der Sozialistin Iratxe Garcia war deutlich: „Heute hat das Bündnis der Rechten (zu der Garcia die EVP rechnet, HH) mit der extremen Rechten eine grandiose Niederlage eingefahren. Und Sie, Herr Weber, haben dabei einen historischen Irrtum begangen, an den sich die Geschichte erinnern wird. Es gibt keinen Weg zurück.“
Bleibt die Frage, ob diese Erfahrung zu einem Befreiungsschlag in der EVP führt, denn seine Schlacht hat Manfred Weber auch im eigenen Haus verloren. Aber wo er sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zum Fraktionsführer, sondern auch Parteivorsitzenden hochgearbeitet hat, scheint seine persönliche Machtstellung kaum angreifbar zu sein.
Kollateralschaden Meloni
Es gibt noch ein zweites Opfer von Webers Niederlage: Giorgia Meloni kann vorerst ihre – von Weber fleißig mitgenährte – Hoffnung begraben, nach der nächsten Europawahl zu einer der Leitfiguren der von einem Rechtsbündnis regierten EU zu werden. Weber spricht in seiner Nachricht – hier zeigt er Realismus – nicht nur vom Sieg Von der Leyens, sondern auch von dem ihrer „Mehrheit“, das außer der EVP auch die Sozialisten und die Liberalen einschließt, nicht aber die Fraktionen um Meloni und Salvini. Alle Prognosen gehen davon aus, dass das „Ursula“-Bündnis auch bei Verlusten im neuen Parlament noch stark genug sein wird, um ihre Wiederwahl – und die der Kommissionsmitglieder, die wieder antreten – zu gewährleisten. Für Meloni bedeutet dies, dass ihr im zukünftigen Machtgefüge der EU nur die Wahl zwischen zwei Optionen bliebe, die ihr beide eine bescheidenere Rolle als bisher erhofft aufzwingen: Entweder schließt sie sich der „Ursula-Mehrheit“ an, aber nur als fünftes Rad am Wagen, in der Hoffnung, dass dabei auch für sie noch ein Stückchen Teilhabe an der Macht abfällt. Oder sie kehrt – was wahrscheinlicher ist (siehe unten) – mit ihrer „konservativen“ Truppe an den rechten Rand der EU zurück, fernab von allen Möglichkeiten einer direkten Einflussnahme.
Salvini drängt zum Rand
Die Frage, wie sich Meloni zwischen diesen Optionen entscheidet, hat auch innenpolitische Bedeutung. Salvini möchte bei den nächsten Europawahlen den Vorsprung an Wählerstimmen aufholen, mit dem Meloni bei den nationalen Wahlen im September 2022 an ihm vorbeizog. Seine Taktik ist schlicht: Er wendet sich vor allem an die Wählerinnen und Wähler, die zur militant nationalistischen Rechten gehören und jeder Einbindung in die europäischen Institutionen mit Misstrauen begegnen, und an diejenigen, die besonders empfänglich für die Bilder apokalyptischer Angst sind, die er angesichts des Zustroms von Migranten an die Wand malt. Seine Bündnispolitik charakterisiert das Mantra „niemals mit den Sozialisten!“ (womit er Meloni das Ultimatum zu stellen sucht: kein Anschluss an die Ursula-Mehrheit, es wäre auch dein Bruch mit mir). Zudem will er als der Feldherr erscheinen, der die gesamte Rechte vereint, wofür er provokativ alle bisher geltenden Tabus durchbricht: Er lädt nicht nur Le Pen nach Italien ein, sondern will solche Einladungen auch auf Vertreter der AfD ausweiten. Oder indem er verkündet, dass die afrikanischen Flüchtlinge vor Lampedusa die Söldner eines von wem auch immer ferngelenkten „Krieges“ seien, gegen die man sich jetzt militärisch wehren müsse.
Die Taktik zeigt bei Meloni Wirkung: Wenn Salvini Le Pen und Alice Weidel hochleben lässt, pilgert sie nach Budapest, um dort zu verkünden, Ungarn sei ihr „Modell gegen den Geburtenrückgang“, und gemeinsam mit Orban werde sie „Familie“, „Vaterland“ und „Gott“ verteidigen. Wenn Salvini dem italienischen EU-Kommissar Gentiloni vorwirft, nicht genug für das nationale Interesse zu tun, folgt ihm dabei auch Meloni, und nimmt in Kauf, in Brüssel wieder den Ruf zu verspielen, den sie sich ein Jahr lang mühsam erarbeitet hat: eigentlich doch „vernünftiger“ und „pragmatischer“ als erwartet zu sein. Auch beim Thema Migration hat sie die Kriegsrhetorik Salvinis übernommen, selbst wenn sie hier die Präsenz von der Leyens, mit der sie gerade wieder Lampedusa besuchte, vorerst noch etwas zu bremsen scheint. Die Konkurrenz, in der sich Meloni innenpolitisch zu Salvinis Lega befindet, zieht sie in Europa zurück an den Rand – wohin sie auch die Unfähigkeit der EU drängt, sich auf einen gemeinsamen Verteilerschlüssel für die Geflüchteten zu einigen.
Draghis Rückkehr
Von der Leyens Rede enthielt eine weitere Ankündigung, die in Deutschland wenig Beachtung fand, aber in Italien mit Überraschung aufgenommen wurde. Wohl mit dem Hintergedanken, auch damit die Chancen ihrer Wiederwahl zu erhöhen, brachte sie eine Person ins Spiel, die manche schon auf dem Altenteil glaubten: Mario Draghi, alias ‚Super‘-Mario. Anders als bei seiner Berufung zum italienischen Regierungschef durch Mattarella scheint es von der Leyen jetzt vor allem um den „Techniker“ Draghi zu gehen: „Wir stehen in der EU vor drei Herausforderungen – dem Arbeitskräftemangel, der Inflation, den Rahmenbedingungen für die Unternehmen –, … und das zu einer Zeit, in der wir die Industrie dazu auffordern, bei der Umstellung auf saubere Technologien in Führung zu gehen. Wir müssen deshalb weiter in die Zukunft blicken und darlegen, wie wir dabei wettbewerbsfähig bleiben. Aus diesem Grund habe ich Mario Draghi gebeten – einen der größten Wirtschaftsexperten Europas –, einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen. Damit Europa tut, ‚whatever it takes‘, um seinen Wettbewerbsvorteil zu halten.“
Man kann sicher sein, dass sich Draghi auch diesmal nicht auf diese Rolle beschränken wird, wie einer Reihe von Artikeln zu entnehmen ist (zuletzt am 6. 9. im „Economist“), in denen er zumindest in einer politisch umkämpften Frage schon deutlich Partei ergreift: „Die Strategien, die in der Vergangenheit Wohlstand und Sicherheit garantierten – sich in der Frage der Sicherheit auf die USA, beim Export auf China und bei der Energie auf Russland zu verlassen -, erweisen sich heute als unzureichend, unsicher oder inakzeptabel“. Heute stünden die europäischen Länder vor Aufgaben, die sie nur gemeinsam bewältigen und finanzieren könnten – Pandemie, ökologischer Wandel, Ukraine-Krieg, Energiekrise -, angesichts derer eine Rückkehr zum alten Stabilitätspakt (der offiziell nur bis Jahresende ausgesetzt wurde) „die schlechtestmögliche Option“ sei.
Da sich die italienische Rechte schon lange gegen die Rückkehr zum alten Stabilitätspakt wehrt, müsste ihr diese Positionierung Draghis eigentlich sympathisch sein. Bei dem man sich jedoch sicher sein kann, dass er sich in dem Grundsatzstreit zwischen Rigoristen à la Lindner und Souveränisten à la Meloni nicht einfach auf die Seite der Souveränisten schlägt. Sondern hier wieder die Rolle übernimmt, für die er ein besonderes Talent hat: den Ausweg zu finden, der auch die EU voranbringt. Genau dies ist allerdings der Punkt, der bei der Souveränistin Meloni am wenigsten Begeisterung auslösen dürfte. Ihre Reaktion war entsprechend süßsauer: Seine neuerliche Berufung sei „eine gute Nachricht“, erklärte sie, um gleich die Hoffnung hinzuzufügen, dass Draghi dabei aber die Interessen Italiens im Auge behalten werde – anders als Gentiloni, war mitzudenken. Der Gedanke, dass es auch ein europäisches Gesamtinteresse gibt, liegt jenseits ihres Horizonts. Für sie reduziert sich die Aufgabe italienischer Akteure in der EU darauf, die Lobbyisten Italiens zu sein. „Prima l’Italia!“