Die Zeit danach
Es gibt viele Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen den Reaktionen in Deutschland und Italien auf den blutigen Terrorangriff der Hamas gegen Israel und auf die folgende rasante Eskalation. Was die Haltung der deutschen und italienischen Regierung betrifft, sind die Unterschiede gering, doch es gibt sie. Die Verurteilung der Massaker beim Rave-Festival und bei den Razzien gegen Kibbuz-Einwohner, unter denen es viele Kinder und Frauen gab, ist in beiden Ländern scharf und unmissverständlich. Während sich aber im deutschen Bundestag alle Fraktionen der Erklärung von Bundeskanzler Scholz anschlossen, scheiterte in der italienischen Abgeordnetenkammer der Versuch einer gemeinsamen Stellungnahme von Regierungsmehrheit und Opposition. Der Grund: Dort wird in der Vorlage der Regierungsmehrheit eine totale Blockade der Hilfen für die palästinensische Bevölkerung gefordert. Eine moralisch wie politisch fatale Position, die für die Oppositionsparteien unakzeptabel ist. Damit würde man das ganze palästinensische Volk mit der Hamas gleichsetzen und „bestrafen“, erklärte PD-Chefin Elly Schlein. Das sei falsch und würde nur der Hamas nutzen.
Bei der Endabstimmung fand man dann dennoch einen „Kompromiss“, um in einer so wichtigen und sensiblen Frage eine politische Konfrontation zu vermeiden: beide Lager – Regierungsmehrheit und Opposition – verständigten sich darauf, jeweils für die Passagen in der Resolution der anderen Seite zu stimmen, die konsensfähig waren.
Parallelen und Unterschiede finden sich auch in den Reaktionen der Öffentlichkeit. Wie in Deutschland gab es auch in Italien sowohl Demonstrationen der Solidarität mit Israel als auch für die Befreiung Palästinas – anders als in einigen Städten Deutschlands wurden letztere in Italien nicht untersagt. An ihnen beteiligten sich vor allem Menschen aus arabischen Ländern, Studenten und linksradikale Gruppen. Nach dem entsetzlichen Massaker im Krankenhaus von Gaza, für das Israel und die Hamas sich gegenseitig beschuldigen und worüber es bisher keine gesicherten Erkenntnisse gibt, haben die Protestdemonstrationen für Palästina stark zugenommen, auch in Italien. Die Hauptfeinde in ihrem Visier sind Israel und die USA. Es gibt auch einige, die den Hamas-Terror feiern – und sich damit in Übereinstimmung mit neofaschistischen Gruppen wie Forza Nuova und Casa Pound befinden, die sich offen auf die Seite der Hamas schlagen, obwohl sie ansonsten gegen den Islam und die Muslime hetzen. Ihr Judenhass ist noch stärker. Für Ministerpräsidentin Meloni, die zu diesen Gruppen aufgrund gemeinsamer politischer Wurzeln freundschaftliche Beziehungen pflegt, ist es ein Problem. Denn während sie jetzt bei der jüdischen Community Solidaritätsbesuche macht („Wir werden unsere jüdischen Freunde vor jedem Antisemitismus schützen“), bejubeln ihre Neonazi-Freunde den Terrorangriff und wettern gegen die Verschwörung der „Judenlobbys in der ganzen Welt“.
In dieser katastrophalen Lage, deren Entwicklungen nicht abzusehen sind, ist es umso wichtiger, auf Stimmen sowohl aus Israel als auch aus Palästina und anderen arabischen Ländern zu hören, die nicht extremistisch verzerrt sind. Die Tageszeitung „La Repubblica“ hat am 12. Oktober zwei derartigen Stimmen einen Raum geboten: Dem Israeli David Grossmann und dem gebürtigen Marokkaner Tahar Ben Jelloun, der in Frankreich lebt. Beide sind weltbekannte Schriftsteller, die nicht in Verdacht stehen, ideologisch verblendet zu sein. Wir veröffentlichen hier ihre von uns übersetzten Beiträge (den von Grossmann etwas gekürzt). Sie sind – wie es nicht anders sein kann – sehr emotional, zum Teil verzweifelt und auch widersprüchlich, aber vor allem: sie sind jeweils offen für die Perspektive „des Anderen“.
David Grossmann: Mein Herz ist bedrückt, ich lebe den Albtraum eines durch die Politik verratenen Volkes
Über 1000 Toten, Hunderte von Geiseln und Gefangenen. Jeder Mensch, der sich retten konnte, ist die Geschichte eines Wunders, von Reaktionsfähigkeit und Mut. So viele Wunder und so viele Heldentaten und Opfer von Soldaten und Zivilisten. Jede von ihnen stellt auch eine Warnung an die oberste Leitung der Sicherheitskräfte dar, die sich und uns mit krimineller Nachlässigkeit jahrelang eingeredet haben, in dieser Weltgegend sei niemand stärker und erfahrener in Militärtaktik als Israel.
Ich schaue in die Gesichter der Menschen. Entsetzt. Erloschen. Das Herz von andauernder Pein bedrückt. Wir wiederholen es uns immer wieder: ein Albtraum, ein unvorstellbarer Albtraum. Es gibt keine Worte, um es zu beschreiben, Worte können es nicht fassen. Es ist ein tiefes Gefühl, verraten worden zu sein. Verrat der Bürger seitens der Politik …Verrat des kostbarsten Guts: des nationalen Heims des jüdischen Volkes, das unseren Leadern anvertraut wurde, um es zu schützen. Sie hätten es mit Ehrfurcht behandeln müssen. Und was haben wir stattdessen gesehen? …
Das, was heute geschieht, ist die Materialisierung des Preises, den Israel dafür bezahlt, dass es sich seit Jahren verführen lässt von einer korrupten Führung, die es immer tiefer nach unten zieht und die bereit ist, die Existenz des Landes zu gefährden, nur damit der Premierminister nicht im Gefängnis landet. …
In den vergangenen neun Monaten haben Millionen Israelis wöchentlich gegen die Regierung und ihren Chef demonstriert. Es war eine extrem wichtige Bewegung, die versucht hat, Israel wieder zu sich selbst kommen zu lassen, zu ihrer großen und edlen Gründungsidee: einen Staat zu schaffen, der das Haus des jüdischen Volkes sein kann. Und nicht irgendein Haus: Millionen Israelis wollten einen liberalen, demokratischen, friedlichen, pluralistischen Staat, der das Glauben jeden respektiert. Doch statt auf die Forderungen der Protestbewegung zu hören, hat Netanyahu entschieden, diese zu diffamieren, des Verrats zu bezichtigen und den Hass zwischen den Seiten anzuheizen.
Und: Er hat nie eine Gelegenheit ausgelassen, um zu bekräftigen, wie stark und entschlossen Israel ist und vor allem wie fähig, jeglicher Gefahr die Stirn zu bieten. Erzähl das heute den vor Schmerz rasenden Eltern und Geiseln. Erzähl das jenen, die dich gewählt haben. Und erzähl das den achtzig Breschen, die jetzt in die raffinierteste Trennungsmauer der Welt geschlagen wurden.
Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen und Dinge durcheinanderbringen, bei allem Zorn auf Netanyahu, seine Gefolgsleuten und seinen Weg: die Grausamkeiten dieser Tage hat nicht Israel verursacht. Es war Hamas, die sie begangenen hat. Die Besatzung ist ein Verbrechen, doch Hunderte von Zivilisten – Kindern, Eltern, Alten und Kranken – anzugreifen, um sie dann kaltblütig zu ermorden, ist ein noch größeres. Auch bei Grausamkeiten gibt es eine Hierarchie. … Und wenn man das Feld betrachtet, auf dem das Massaker während der Rave Party stattfand, wenn man sieht, wie die Hamas-Terroristen die Jugendlichen überfallen haben, während sie noch tanzten und nicht wussten, was geschah, und wie sie sie dann umzingelten, wie eine Beute verfolgten und jubelnd ermordeten … Ich weiß nicht, ob ich sie „Raubtiere“ nennen soll, aber mit Sicherheit haben sie kein menschliches Antlitz mehr.
In diesen Tagen und Nächten bewegen wir uns wie Schlafwandler. …. Wer werden wir sein, wenn wir aus den Trümmern wieder aufstehen und zu unserem Leben zurückkehren? Welche Menschen werden wir nach diesen Tagen sein, nachdem wir das alles gesehen haben? Wo können wir wieder einen Anfang machen, nach dieser Zerstörung und dem Verlust so vieler Dinge, an die wir geglaubt haben und die wir für sicher hielten.
Meine Hypothese: Nach dem Krieg wird sich Israel noch viel stärker nach rechts wenden, es wird militanter und auch rassistischer werden. In seinem Bewusstsein wird der ihm aufgezwungene Krieg die radikalsten und abscheulichsten Stereotypen verfestigen, welche bereits zur israelischen Identität gehören und sie nun noch stärker prägen werden. Eine Identität, die von heute an für immer auch das Trauma des Oktobers 2023 einschließen wird…
Ist am Samstag, den 7. Oktober, wirklich für immer die winzige Möglichkeit eines wirklichen Dialogs, einer Versöhnung mit der Existenz des anderen Volkes verloren gegangen, oder zumindest für viele Jahre erfroren? Was sagen jetzt diejenigen, die die unglückliche Idee eines „binationalen Staates“ vertraten? Beide Völker – das israelische und das palästinensische -, die beide ein nie endender Krieg deformiert hat, sind nicht einmal mehr in der Lage, Cousins zu sein. Und dann glaubt noch jemand, sie könnten siamesische Zwillingen werden? Es werden viele Jahre vergehen, Jahre ohne Krieg, bevor man an eine Versöhnung, eine Heilung denken kann. In der Zwischenzeit können wir uns nur die Intensität der Ängste und des Hasses vorstellen, die jetzt an die Oberfläche kommen. Ich hoffe und bete, dass es im Westjordanland Palästinenser gibt, die sich trotz des Hasses auf die israelische Besatzungsmacht, mit Taten oder einer Verurteilung von dem distanzieren, was Teile ihres Volkes begangen haben. Als Israeli habe ich kein Recht, sie zu belehren und ihnen zu sagen, was zu tun ist. Aber als Individuum, als Mensch habe ich jedes Recht – und jede Pflicht –, von ihnen zu verlangen, dass sie sich auf menschliche und ethische Weise verhalten.
Tahar Ben Jelloun: Warum Hamas ein Feind der Palästinenser ist
Als Araber und Moslem von Geburt und Kultur und mit einer traditionellen marokkanischen Erziehung kann ich keine Worte finden, um mein Entsetzen auszudrücken über das, was die Hamas-Milizen getan haben. Indem sie Frauen und Kinder angreifen, wird die Brutalität zur Barbarei, es gibt dafür keine Ausrede oder Rechtfertigung. Ich bin entsetzt, weil die Bilder, die ich sah, mich tief in meinem Menschsein getroffen haben. Ich glaube, dass man sich gegen eine Besatzung wehren und eine Kolonisierung kämpfen kann, aber nicht mit solchen barbarischen Taten. Die Causa Palästina ist am 7. Oktober 2023 gestorben, ermordet durch fanatische Elemente, die von einer islamistischen Ideologie der schlimmsten Art durchtränkt sind.
Hamas ist der Feind nicht nur des israelischen, sondern auch des palästinensischen Volkes. Ein grausamer Feind ohne jegliches politisches Verständnis, von einem Land manipuliert, in dem junge Oppositionelle erhängt werden, weil sie ihre Kopfbedeckung ablegen.
Die Geiselnahmen durch die Hamas und ihre erpresserische Drohung, sie zu exekutieren, vergrößern unseren Zorn. Diese Brutalität kommt von weit her. Mit Sicherheit wurde sie mitverursacht von der Besatzung und den Demütigungen, die eine Jugend ohne Zukunft erlitt. Und durch den Einfluss einer islamistischen Bewegung, die vom Iran abhängig ist. Nach dem Massaker, unabhängig von der Zahl der Toten auf der einen und der anderen Seite, werden unsere Köpfe von den Bildern der Barbarei beherrscht. Es ist schwer zu glauben, dass diese Männer solche Taten verübt haben, um ein Territorium „zu befreien“. Nein. Krieg wird zwischen Soldaten ausgefochten. Nicht durch das Töten unschuldiger Zivilisten. Nein, es gibt keinen vorstellbaren Grund für das, was sie in den Häusern getan haben und auf den Feldern, wo sie junge Menschen ermordet haben, die feierten.
Der Horror ist menschengemacht. Damit will ich sagen, dass kein Tier getan hätte, was Hamas tat. Ein Minister der Netanyahu-Regierung hat die Einwohner von Gaza „Tiere“ genannt. Nein. Es gibt auf der einen Seite Männer ohne Gewissen und ohne Moral, die die Massaker verübt haben – und auf der anderen Seite gibt es eine Bevölkerung, die leidet und weder bewaffnet noch barbarisch ist.