Auf dem Weg nach Polen
Am 1. Oktober brachten die italienischen Zeitungen eine Meldung, aus der man schließen konnte, dass Italien noch ein Rechtsstaat ist. Am Vortag hatte die Richterin Iolanda Apostolico in Catania (Sizilien) entschieden, drei tunesische Flüchtlinge, die es am 20. September bis nach Lampedusa geschafft hatten, um Asyl zu beantragen, sofort wieder aus dem „Aufenthaltszentrum“ in Catania freizulassen, in das sie soeben eingewiesen worden waren. Die Grundlage für die Einweisung bildete das sog. „Cutro-Dekret“, mit dem die italienische Regierung durchsetzen will, Flüchtlinge aus „sicheren“ Herkunftsländern – zu denen sie jetzt wider besseres Wissen auch Tunesien zählt -, sofort in solche Zentren zu verfrachten. Hier sollten sie unter haftähnlichen Bedingungen ein paar Wochen verbringen, damit ihr Fall pro forma noch einmal im Eilverfahren überprüft und sie dann nach Tunesien zurückexpediert werden können (ergänzt durch das Angebot, dass sich diejenigen, die 5000 Euro Kaution auf den Tisch legen, von dem „Aufenthalt“ hinter Stacheldraht freikaufen können – die drei Tunesier konnten es nicht).
Die Richterin entschied, dass diese Zwangseinweisung weder mit der italienischen Verfassung noch mit einer geltenden europäischen Direktive vereinbar ist, die in jedem Fall eine individuelle Anhörung und Abwägung verlangen und eine zwischenzeitliche Inhaftierung verbieten. Und ein „sicheres“ Land sei Tunesien auch nicht. Für die italienische Regierung ein Schlag ins Kontor, denn die Einrichtung in Catania sollte zum Prototyp für viele weitere derartige „Zentren“ werden – und schon bei den ersten Insassen verfügt ein Gericht, sie gleich wieder auf freien Fuß zu setzen. Obwohl sich das Urteil nur auf drei Flüchtlinge bezog, die gegen die Einweisung geklagt hatten, beginnt es schon jetzt, zum Präzedenzfall vieler Folgeurteile zu werden. Womit ein Kernvorhaben der neuen Regierung scheitern könnte, und zwar nicht nur an den bekannten äußeren „Feinden“ wie den NGOs und den Deutschen, die laut Salvini und Meloni Italien durch die Flutung mit Flüchtlingen destabilisieren wollen. Sondern auch an einer bisher unbekannten Richterin aus Süditalien, die es wagt, sich querzustellen.
Eine Demonstration vor fünf Jahren
Der Zorn ist entsprechend. Salvini hat sofort Berufung eingelegt, und findet vielleicht ein Gericht, das die Dinge anders sieht. Aber damit wollen sich weder Salvini noch die Regierung begnügen – Widerspruch aus dem eigenen Land ist ihnen doppelt verhasst, denn er untergräbt ihren Anspruch, für das ganze Volk zu handeln. Deshalb reicht auch nicht der Spruch eines Berufungsgerichts, sondern müssen auch diejenigen – öffentlich und exemplarisch – zur Strecke gebracht werden, die zu widersprechen wagen.
Salvini gab die Richtung vor: Er twitterte, dass die „Nachrichten über die politische Orientierung der Richterin schwerwiegend, aber nicht überraschend“ seien. Und versuchte, die öffentliche Aufmerksamkeit sofort auf die Person Apostolico zu lenken, obwohl sie bisher ein politisch eher unbeschriebenes Blatt war, die nicht einmal einem der in der Justiz vorhandenen „Correnti“ (wie z. B. der VDJ in Deutschland) angehört. Nun aber hatte Salvini den „Beweis“ gefunden, den er mit großer Geste aus der Tasche zog: ein Foto der Richterin, das sie angeblich als Teilnehmerin einer „linksradikalen“ Demonstration zeigt, die am 25. August 2018 in Catania stattfand. Eine Demonstration hatte es an diesem Tag tatsächlich gegeben: Ihr Anlass war der „Fall Diciotti“, bei dem der gleiche Salvini, der damals Innenminister war, 137 Geflüchtete, darunter viele Frauen und Kinder, fünf Tage lang auf einem vor Catania ankernden Patrouillenboot festhielt, obwohl die Ärzte die medizinischen Zustände an Bord inzwischen für katastrophal erklärt hatten. Getragen wurde die Demonstration vor allem von katholischen Aktivisten, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, was für Salvini, der sich sonst gern mit Madonnenbildchen umgibt, nur mit ihrem „Linksradikalismus“ erklärbar ist. Für die Richterin, verkündete er, könne es nach dieser Enthüllung nur noch den „sofortigen Rücktritt“ geben.
Es folgten weitere Fotos, Enthüllungen und ein Shitstorm in den Lega-nahen sozialen Medien. 2018 habe sich, so wurde entdeckt, auf der Pinnwand des Facebooks der Richterin eine Petition befunden, die das Parlament aufforderte, Salvini (damals Innenminister) wegen des Falls Diciotti das Misstrauen auszusprechen. Dann geriet auch Apostolicos Ehemann ins Visier, der in Catanias Justizbehörde arbeitet und für die Lega ein gefährliches Subjekt ist, weil er sich in der Flüchtlingsfrage für die Menschenrechte einsetzt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Dagegen müsse eingeschritten werden, folgert Salvini, und zwar mit einer „Justizreform“, die vor allem in den Sektionen aufräumt, in denen es um Immigration geht und in denen sich besonders viele linke Regierungsgegner eingenistet hätten. Für die Auswahl der hier tätigen Richterinnen und Richter müsse es „neue Regeln“ geben, ein Entwurf dafür sei schon in Arbeit.
Melonis „Sprachlosigkeit“
Dann meldete sich auch Meloni zu Wort, die gerade beim Flüchtlingsthema nicht hinter Salvini zurückstehen darf. Das Urteil der Richterin habe sie „sprachlos“ gemacht, kommentierte sie in einem Video. unter anderem auch, weil es Tunesien „einseitig“ – ohne Meloni zu fragen – zum „unsicheren“ Land erklärte. „Während die Regierung daran arbeitet, mit dem Migrationsproblem fertig zu werden, arbeiten andere Regierungen in der Gegenrichtung (z. B. Deutschland, HH) und versucht ein Teil Italiens, nach Kräften die illegale Immigration zu fördern. Während sich die Regierung für die Verteidigung der Legalität einsetzt, wendet sich ein Teil der Richterschaft gegen die Maßnahmen der demokratisch gewählten Regierung.“ Woran zweierlei bemerkenswert ist: erstens die kaum verhüllte Suggestion, dass „ein Teil Italiens“ mit „anderen Regierungen“ unter einer Decke stecken könne, und zweitens ihre Überzeugung, dass eine neu gewählte Regierung auch automatisch neues Recht setze, dem gegenüber alle bestehenden Gesetze, internationalen Verpflichtungen und die Verfassung ihre Geltung verlören. Orbans „illiberale Demokratie“ und die polnische PIS lassen grüßen: Es wäre das Ende der liberalen Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Jurisdiktion.
Wie die italienische Regierung im Fall Apostolico mit dem noch bestehenden Rechtsstaat umgeht, zeigt sich auch in anderen Details. Schon die einfache Frage, woher das Foto kommt, mit dem Salvini ihre Teilnahme an der Demonstration von 2018 in Catania „bewies“, richtete ein mysteriöses Durcheinander an: Experten stellten schnell fest, dass es ein Polizeifoto war, und es schien auch geklärt werden zu können, wer die Aufnahme gemacht hatte: ein Carabinieri in Zivil. Als dann aber von der Opposition genauer nachgefragt wurde – tat er es auf Anweisung? Warum hat er das Foto fünf Jahre lang privat gebunkert und jetzt an Salvini weitergeleitet? -, verkündete er plötzlich, sich „geirrt“ zu haben, das Foto stamme gar nicht von ihm. Denn das Anlegen und Verwenden von Dossiers ist in Italien reglementiert, spätestens seitdem herauskam, dass schon Berlusconi solche Dossiers vorhielt, um politische und juristische Gegner bei Bedarf unter Druck zu setzen.
Hexenjagd und Gegenwehr
Vor allem die Richter und Staatsanwälte, die in den Sektionen für Immigration arbeiten, sind in den Fokus der Hexenjagd geraten. Silvia Albano, eine zum demokratischen „Corrente“ gehörende Richterin am Tribunal von Rom erfuhr es am eigenen Leib: Die rechten Zeitungen Libero und Il Giornale veröffentlichten ihr Foto mit der Unterschrift „Die Richterin beim Geldsammeln für die NGOs“, nachdem sie in ihrem Facebook-Profil einen Troll entdeckt hatte, der nach alten Posts suchte. Sie sagt: „Wir sind dabei, genau wie in Polen zu enden“. Auch von dem Präsidenten der Sektion für Immigration von Florenz, Luca Minniti, der ebenfalls zum demokratischen „Corrente“ gehört, erschien ein Foto mit der Unterschrift: „Die rote Robe, die ein Fan der NGOs ist“.
Die Assoziation der Richter und Staatsanwälte von Catania (ANM) gab eine Erklärung heraus, die sich „klar und eindeutig hinter Apostolico“ stellt, „eine integre Person, die im Dienst der Gesetze arbeitet“, und „mit Entrüstung die gegen sie vorgebrachten Angriffe zurückweist. Die Beziehung zwischen Exekutive und Jurisdiktion müsste anders aussehen.“ Hundert Juristinnen und Juristen unterschrieben ein Dokument, das Salvini und der Regierung die „offene Aggression gegen zwei fundamentale Prinzipien der republikanischen Verfassung“ vorwirft: die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz, und gegen die von der Staatsbürgerin Apostolico wahrgenommene Versammlungsfreiheit … Ein Gerichtsurteil kann man kritisieren, aber in einem Rechtsstaat ist es nicht hinnehmbar, dass die politische Macht den Richter, der es gefällt hat, mit Drohungen und Beleidigungen überzieht“.
Apostolico arbeitet weiter
Und was tut Iolanda Apostolico, die den Stein ins Rollen brachte? Die Antwort der 59-Jährigen ist souverän: „Weder auf die Polemik noch auf die Verteidigung meines Urteils will ich mich einlassen. Das Urteil kann natürlich angefochten werden, aber nicht ich muss es verteidigen, das geschieht bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Nur sollte man aus einer juristischen Frage keine persönliche Angelegenheit machen“. Auf Salvinis Rücktrittsforderung ging sie nicht ein, sie arbeitet weiter. Am gestrigen Donnerstag wurde bekannt, dass sie mit der gleichen Begründung die Freilassung weiterer vier Tunesier angeordnet hat. Da mittlerweile auch andere Gerichte zu entsprechenden Urteilen kamen, führten inzwischen 14 Beschwerden gegen die Einweisung in die Aufenthaltszentren zu 14 Freisprüchen. Daraus könnte eine Lawine werden. Und zwar stets mit der Begründung: „Nur um seinen Asylantrag zu prüfen, darf kein Asylsuchender festgesetzt werden.“
Marisa Acagnino, in Catania die Kollegin von Apostolico in der Sektion für Immigrationrecht, kommentiert: „Das Einzige, worüber sich Iolanda Sorgen macht – wie übrigens auch ich -, ist der ungerechtfertigte und durch nichts zu rechtfertigende Pranger, an den sie gestellt wird, und die antidemokratische Abdrift dieses Landes. Bei einer Richterin, die niemals einem ‚Corrente‘ der Justiz angehörte und für ihre Abgewogenheit und Unbeeinflussbarkeit bekannt ist, gräbt man jetzt in den sozialen Medien ihres Partners. Wo ist in diesem Land die Freiheit geblieben?“