Sehnsucht nach dem „Capo“
Am 3.11. hat das Kabinett den Gesetzesentwurf beschlossen, der für Melonis „Mutter aller Reformen“ den Weg frei machen soll (wir berichteten Anfang September über die Planung). Demnach soll künftig der Ministerpräsident zeitgleich mit den Parlamentswahlen direkt gewählt werden (ebenfalls für die Dauer von fünf Jahren). Die Wählerinnen und Wähler erhalten nur einen Wahlzettel, auf dem sie über beide – Regierungschef und Parlament – abstimmen.
Damit hat Meloni, wie erwartet, von ihrem ersten Plan Abschied genommen, den Staatspräsidenten direkt wählen zu lassen – so wie in den USA und in Frankreich. Sie vermeidet damit eine direkte Konfrontation ausgerechnet mit Sergio Mattarella, dem Mann, der bei den Bürgern auf der Beliebtheitsskala ganz oben steht und dem sie am meisten vertrauen. Statt „Presidenzialismo“ also „Premierato“. Ein Modell „all’ italiana“, das es bisher in keinem anderen Land der Welt gibt und – noch wichtiger – Verfassungsprinzipien widerspricht, die für eine repräsentative parlamentarische Demokratie grundlegend sind.
Rolle von Staatspräsident und Parlament werden geschwächt
Mit der vorgeschlagenen Reform wird im Namen der Regierbarkeit das von der Verfassung vorgesehene System von „check and balances“ zwischen den Institutionen – Staatspräsident, Parlament und Regierung – abgeschafft. Die Machtbefugnisse werden auf den Chef der Exekutive konzentriert, bei gleichzeitiger Reduzierung der Kompetenzen von Staatspräsident und Parlament.
So wird der Staatspräsident künftig nicht mehr entscheiden dürfen, wem er den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, sondern lediglich die Aufgabe haben, den direkt gewählten Ministerpräsidenten zu ernennen bzw. zu bestätigen, welcher dann im Parlament die Vertrauensfrage stellt. Sollte dieser beim ersten Mal dafür keine Mehrheit erhalten, darf er es ein zweites Mal versuchen. Scheitert er erneut oder wird ihm im Laufe seines Mandats das Vertrauen vom Parlament entzogen, kann der Staatspräsident einem Abgeordneten, der zur gleichen Koalition angehört, den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen, um „das gleiche Programm umzusetzen“. Fällt auch er bei der (diesmal einmaligen) Vertrauensabstimmung durch, gibt es Neuwahlen.
Ein kompliziertes Verfahren, das die Entscheidungskompetenz des – ebenfalls durch Direktwahl legitimierten – Parlaments drastisch beschneidet. Die Regierung begründet dies mit der Notwendigkeit, um der Stabilität willen allzu häufige Regierungswechsel zu vermeiden. Dadurch sollen auch sogenannte „technische Regierungen“ (wie im Fall von Monti nach dem Rücktritt Berlusconis und von Draghi nach dem von Renzi provozierten Sturz der Conte2-Regierung) verhindert werden, da sie nicht durch Wahlen legitimiert seien.
Machtkonzentration auf dem Regierungschef
Das Verfahren ist nicht nur kompliziert, sondern in sich widersprüchlich. Wieso kann der Staatspräsident, nach zweimaligem Scheitern des gewählten Regierungschefs bei der Vertrauensabstimmung, dann doch einen Abgeordneten an dessen Stelle beauftragen? Das steht in eklatantem Widerspruch zu der erklärten Absicht, den Regierungschef durch Direktwahl legitimieren zu lassen. Konsequent wäre es, dass – nach dem Rechtsprinzip „simul stabunt aut simul cadent“ („sie stehen oder fallen gemeinsam“) – nach zwei verlorenen Vertrauensabstimmungen gleich Parlamentsauflösung und Neuwahlen kommen.
Es heißt, nicht Meloni, sondern ihre beide kleinere Koalitionspartner Lega und Forza Italia hätten auf dem seltsamen Verfahren mit dem „Ersatzkandidaten“ bestanden. Das liefert Hinweise auf den Grund: Die schwächeren Regierungspartner wissen, dass ein Kandidat aus ihren Reihen bei einer Direktwahl die schlechtere Karten hätte, und hoffen, über die Ersatz-Regelung vielleicht doch zum Zuge zu kommen. Kommentatoren meinen, gerade diese Option öffne innerhalb der Regierungsmehrheit Tür und Tor für Intrigen und Palastmanöver. Das Gegenteil von größerer Stabilität.
Ohnehin taugt das Mantra „Stabilität“ nicht, um die drastischen Systemänderungen zu rechtfertigen, die das „Premierato“-Modell mit sich bringt. Denn: Mehr Stabilität und eine Stärkung der Rolle des Ministerpräsidenten hätte man auch auf anderen und besseren Wegen erreichen können. Zum Beispiel, wie von der PD und anderen Teilen der Opposition vorgeschlagen, durch die Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums nach deutschem Vorbild („Der Bundestag kann dem Bundeskanzler nur dadurch dass Misstrauen aussprechen, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen“).
Dieser Weg würde die Rolle des Parlaments nicht schwächen, sondern stärken. Was wohl der Grund ist, weshalb ihn Meloni gerade nicht gehen wollte. Denn der Kern ihrer „Mutter aller Reformen“ ist die Konzentration der Macht in den Händen eines vom „Volk“ erwählten „Capo“. Sie greift damit wieder die Forderung der postfaschistischen MSI auf, der Vorgängerin ihrer Partei Fratelli d’ Italia, und folgt einer Vorstellung von Stabilität, die sich eher an der illiberalen Demokratie von Orbán als an dem deutschen Kanzlermodell orientiert.
Kritik von Verfassungsrechtlern …
Zahlreiche politische Kommentatoren und Verfassungsrechtler – u. a. Gustavo Zagrebelksy und die ehemaligen Vorsitzenden des Verfassungsgerichts Giuliano Amato und Giancarlo Coraggio – üben scharfe Kritik an Melonis „Premierato-Modell“. Dieses verstoße gegen unantastbare und unveränderbare Verfassungsprinzipien, wozu wesentlich die Machtbalance zwischen den Institutionen – Parlament, Staatspräsident, Regierung – gehört.
In einem Beitrag für „La Repubblica“ schreibt der Politologe Carlo Galli, der Regierungsvorschlag sei Ausdruck des Bestrebens nach einer personenbezogenen „Investitur-Demokratie“, die sich von lästigen Vermittlungsinstanzen befreit. Er sieht darin eine neue Variante „des alten Anti-Parlamentarismus der radikalen Rechten“. Anders als von der Regierung behauptet, so Galli, könne man dadurch weder mehr Stabilität noch mehr politische Effizienz erreichen. Dafür sei vielmehr eine Stärkung der repräsentativen Institutionen nötig, verbunden mit der Schaffung neuer Formen der Bürgerbeteiligung.
Die Kritik von Experten und Opposition richtet sich gegen zwei weitere Aspekte der Reform, die als politisch und rechtlich unvereinbar mit einer parlamentarischen Demokratie betrachtet werden:
1. Bei der Direktwahl des Premiers soll dem Kandidaten mit dem relativ höchsten Stimmenanteil und den mit ihm verbundenen Listen eine „Mehrheitsprämie“ zugesprochen werden, die ihnen 55% der Abgeordnetensitze garantiert. Eine dafür nötige Mindestgrenze wird in dem Gesetzesentwurf nicht genannt. Demnach würden z. B. schon 25% der Stimmen reichen, um 55% der Parlamentssitze zu bekommen. Eine Pervertierung demokratischer Grundsätze, die das Verfassungsgericht schon in einem ähnlichen Fall – bei dem als „Porcellum“ (Schweinegesetz) getauften Wahlgesetz zu Zeiten der Berlusconi-Regierung – als unzulässig kassiert hatte. Nun heißt es von der Regierungsmehrheit, diesen Punkt werde man in dem neuen Wahlgesetz, das der Verfassungsänderung folgen soll, noch „prüfen“.
2. In der Gesetzesvorlage fehlt auch eine Begrenzung der Anzahl von Mandaten, für die der direkt gewählte Ministerpräsident erneut kandidieren darf. In Italien ist für Regionspräsidenten und Bürgermeister, die ebenfalls direkt gewählt werden, eine solche Begrenzung vorgesehen. Auch in Ländern, in denen der Staatspräsident direkt gewählt wird (USA, Frankreich) ist die Zahl der Mandate (auf zwei) begrenzt. Nach jetzigem Stand des Entwurfs hingegen dürfte der gewählte Regierungschef (bzw. -chefin) bis zu seinem/ihrem Lebensende immer wieder zur Wahl antreten (soweit ist nicht einmal Putin gegangen, der mit einer ad hoc-Änderung der russischen Verfassung „nur“ eine Verlängerung der Präsidentenmandate von zwei auf vier durchsetzte). Ist das gewollt? Oder ist es, was schlimm genug wäre, ein handwerkliches Versehen? Auch hier ist noch unklar, ob die Regierung im Laufe der parlamentarischen Beratung eine Korrektur einführt.
… und von der Opposition
Abgesehen von Renzis Kleinpartei Italia Viva lehnen alle Oppositionsparteien – PD, 5Sterne, Sinistra Italiana/Verdi, Calendas Azione und +Europa – den Gesetzesentwurf ab. Damit würden die Rolle des Staatspräsidenten zu der eines „Notars“ herabgewürdigt und die Rechte des Parlaments beschnitten.
Bisher beschränkt sich die Opposition vor allem darauf, ihr „Nein“ zu bekräftigen und vor den Gefahren einer Wende à la Orbán zu warnen. Das von ihr favorisierte alternative „Kanzlermodell“ wirft sie (noch) nicht offensiv in die Debatte. Möglicherweise, um nicht den Eindruck zu erwecken, auf „Kompromisssuche“ mit der Regierung zu sein. Politisch dürfte das jedoch eine Schwäche darstellen. Denn auch wenn es beim Referendum konkret um eine „Ja-Nein-Abstimmung“ geht: Die Oppositionskräfte sollten sich nicht in die enge Rolle von Verteidigern des „status quo“ drängen lassen, sondern von vornherein versuchen, die Bürgerinnen und Bürger mit eigenen, besseren Alternativen zu überzeugen.
Das parlamentarische Verfahren wird in Kürze beginnen und längere Zeit in Anspruch nehmen. Gesetze zur Verfassungsänderung müssen nämlich in beiden Kammern (Abgeordnetenkammer und Senat) zwei Lesungen durchlaufen. Bei der Abstimmung in der zweiten Lesung reicht keine absolute Mehrheit, sondern ist eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit erforderlich. Wenn die Regierung diese nicht erreicht – wovon auszugehen ist -, ist ein Referendum über das Gesetz durchzuführen, wenn dies ein Fünftel der Abgeordneten in einer der beiden Kammern (oder alternativ mindestens 500.000 Wählerinnen und Wähler oder 5 Regionalparlamente) beantragen – womit ebenfalls mit aller Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist.
Das Ergebnis eines solchen Referendums ist völlig offen. Erste Umfragen über die Orientierung der Wählerinnen und Wähler zeigen eine leichte Mehrheit von 38% gegen den Reformvorschlag, 34% wären dafür, 28% sind unentschieden. Bezeichnend ist, dass Meloni schon jetzt prophylaktisch erklärt, sie werde beim Scheitern des Gesetzes – „Mutter aller Reformen“ hin oder her – keineswegs zurücktreten. Sie hat von Renzi gelernt.