Italien und Deutschland enthalten sich
Die UNO-Vollversammlung hat am vergangenen Freitag eine „sofortige, nachhaltige und humanitäre Waffenruhe“ zwischen Israel und Hamas gefordert – mit einer knappen Zweidrittelmehrheit, ohne welche die (sowieso niemanden bindende) Resolution im Müll der Bedeutungslosigkeit verschwunden wäre. Bei der Abstimmung enthielten sich sowohl Deutschland als auch Italien, mit ähnlichen Begründungen: dass die Resolution nicht klar genug den Hamas-Terror und das Selbstverteidigungsrecht Israels hervorhebe und nicht einmal wage, die Geiselhaft beim Namen zu nennen, in die Hamas bei ihrem Überfall am 7. Oktober über 200 israelische (und auch aus anderen Ländern kommende) Zivilisten nahm. Im Zentrum der Resolution steht die humanitäre Lage im Gazastreifen, für den unter anderem der ungehinderte Zugang humanitärer Hilfe und die „sofortige“ Bereitstellung von Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und Strom „in ausreichenden Mengen“ gefordert wird. Gleichzeitig werden „alle gegen palästinensische und israelische Zivilisten gerichteten Gewaltakte, einschließlich aller Terrorakte und wahlloser Angriffe“ verurteilt. Und schließlich wird die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Zivilisten, die „illegal festgehalten“ werden, verlangt. (Kanada hatte versucht, in der Resolution wenigstens noch das Wort „Geiseln“ unterzubringen, wovon einige europäische Länder, u. a. auch Deutschland, dann auch ihre Zustimmung abhängig machten, wofür jedoch nicht die nötige Zweidrittelmehrheit zusammenkam). Die Federführung bei der Erarbeitung des Textes hatte im Namen der arabischen Länder Jordanien. 120 Länder – darunter Frankreich – stimmten schließlich der Resolution zu, 45 – darunter Deutschland, Italien und Großbritannien – enthielten sich, 14 – darunter Israel, USA und Österreich – stimmten dagegen.
Ähnliche Begründung …
Was bedeutet, dass sich Europa anders als im Ukraine-Krieg in dieser Frage wieder einmal in seine Bestandteile zerlegt hat. Die Begründung des italienischen Uno-Botschafters Maurizio Massaris für die Enthaltung hätte auch von Annalena Baerbock stammen können: „Es fehlen eine klare Verurteilung der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober, die Anerkennung des israelischen Rechts aKritikuf Selbstverteidigung und die Forderung nach sofortiger Freilassung der Geiseln“. Um jedoch zu zeigen, dass sich Italien nicht einfach aus dem Konflikt heraushalten will, verkündete Meloni, dass Schiffe der italienischen Marine bereit wären, um Güter mit humanitärer Hilfe nach Gaza zu bringen und sich bei Bedarf auch an einer „humanitären Evakuierung“ aus dem Gaza-Streifen zu beteiligen.
… unterschiedliche Kritik
Aber so sehr sich die Begründungen beider Länder für die jeweilige Enthaltung ähneln, so gegensätzlich sind die Standpunkte, von denen aus sie jetzt kritisiert werden. In Deutschland waren es zunächst der israelische Botschafter Ron Prosor und der Sprecher der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, die meinten, dass Deutschland unbedingt mit Nein hätte stimmen müssen, weil die Resolution Israel nicht klar genug das Recht auf Selbstverteidigung zubillige („Wir müssen die Bedrohung durch Hamas beseitigen, sonst können wir als jüdischer Staat nicht überleben“, Prosor). Noch schärfer urteilen Laschet und Röttgen, beide CDU: Die Enthaltung der deutschen Politik, die doch eigentlich Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt habe. sei ihre „Bankrotterklärung“.
In die genau entgegengesetzte Richtung zielt die Kritik, welche die italienische Opposition an der Enthaltung ihres Landes übt. Hier überwiegt die Meinung, Italien hätte mit Ja stimmen müssen, weil in der Forderung der Resolution nach sofortiger Waffenruhe vor allem ihre positive Seite gesehen wird: „Nennt es Waffenruhe oder humanitäre Pause, Hauptsache, dass das Töten von Zivilpersonen aufhört … Für ein solches Massaker dürfen wir nicht Hilfestellung geben“, so Elly Schlein, die selbst jüdische Wurzeln hat. Giuseppe Conte, der Vorsitzende der 5-Sterne-Bewegung, der sich auch gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine stemmt, nennt die italienische Enthaltung „pilatesk“ und sieht in ihr „die Schwäche und Feigheit einer Regierung, welche das Leiden der Zivilbevölkerung als dramatischen, aber unvermeidlichen Kollateralschaden des Kriegs betrachtet“. Zumal die westlichen Länder zur Genüge zum Ausdruck gebracht hätten, dass Hamas zu verurteilen sei und Israel das Recht auf Selbstverteidigung zustehe.
Politik im Dilemma
Die Frage, wie sich Israel jetzt verhalten soll, ist schwierig zu beantworten, und Annalena Baerbock hatte wohl recht, gegenüber ihren Außenminister-Kollegen in Brüssel von einer „Quadratur des Kreises“ zu sprechen. Denn einerseits sind die Kontrahenten in eine Gewaltspirale hineingeraten, die nur durch eine sofortige Waffenruhe gestoppt werden könnte, damit in dem dicht besiedelten Gaza-Streifen nicht noch mehr Menschen den „Kollateralschäden“ des israelischen Gegenschlags zum Opfer fallen. Was den Konflikt nur noch weiter anheizen kann, mit der Gefahr eines Flächenbrands in der gesamten Region. Andererseits hat Hamas die gegenwärtige Ausweitung des Konflikts mit einer Aktion eingeleitet, welche die Welt in die finstersten und längst überwunden geglaubten Zeiten der Juden-Pogrome zurückstößt – die Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe, die mehr wäre als eine humanitäre Waffenpause, würde Israel das Recht absprechen, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Der Kommentar Manconis
Der Soziologe und langjährige PD-Senator Luigi Manconi hat am 25. Oktober das Dilemma in der „Repubblica“ so beschrieben:
„Ich bin immer noch überzeugt, dass zu den weit zurückliegenden Ursachen der Tragödie das Versäumnis gehört, zur Zeit der Gründung des Staates Israel auch einen palästinensischen Staat zu gründen; und zu den neueren Ursachen vor allem die von den israelischen Regierungen verfolgte Besetzung palästinensischer Territorien und ihre Siedlungspolitik. Aber das reicht mir nicht… Es würde darauf hinauslaufen, die Hamas als den – vielleicht deformierten – Ausdruck einer gerechten Sache („causa giusta“) zu sehen. Das ist sie nicht.
Deshalb müssen wir noch einmal zu dem 7. Oktober zurückkehren. Und damit zu dem von der Hamas angerichteten Gemetzel in der Negev-Wüste und in den Kibbuzim von Kfar Aza, Be’eri, Re’im und Urim. Ich teile die Meinung jener, die dieses Massaker die grausamste Tat seit den Schoah-Verbrechen nennen. Und dessen Verurteilung umso größer wird, je mehr es gelingt, das Verhalten von Hamas nicht als extremen und extremistischen Ausdruck der Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu sehen, sondern als politisch-militärische Entscheidung, die in Gänze der Strategie des Iran und der von ihm gebildeten und finanzierten ‚bewaffneten Parteien‘ zuzurechnen ist.
Was eine weitere Konsequenz hat: Die zivilen Opfer der Reaktion Israels können nicht – wie es viele tun – als eine Art … Ausgleich für die jüdischen Opfer betrachtet werden… Auch in diesem Fall sind die Toten der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht als kollateraler Schaden einer gerechtfertigten Reaktion Israels auf die Hamas-Verbrechen zu sehen, sondern als Ausdruck der politisch-militärischen Strategie der Netanjahu-Regierung.
Deshalb ist das, was ich hier sagen und begründen will, eine Position, die sich nicht mit der der einen oder anderen Fraktion, sondern ausschließlich mit den Opfern identifiziert, wie sie sich uns in ihrem Schmerz präsentieren… Ich habe genug von der Sichtweise, dass es hier um einen Wettbewerb des Horrors geht, in dem man für eine Seite Partei ergreift. Ich denke, dass es vielmehr unsere Aufgabe ist, uns des Schmerzes aller anzunehmen, um ihm im Rahmen der Möglichkeiten und der Verantwortung jeder Seite abzuhelfen und zu versuchen, jenen höllischen Mechanismus außer Kraft zu setzen, in dem jede Rache eine neue Rache herbeiruft.
Ich möchte also ganz einfach sagen, dass ich mir von ganzem Herzen wünsche, dass Israel seine Flächenbombardements und Belagerung von Gaza beendet – und will dabei nicht einen Moment lang die in den Kibbuzim abgeschlachteten Juden vergessen, und jene Mädchen und Jungen, die getötet wurden, als sie tanzten.
Nur wenn wir an sie denken, an ihre Namen und Vornamen, an ihre zerstörten Hoffnungen und begrabene Würde, nur dann können wir dem ebenso großen und nicht wieder gut zu machenden Schmerz ihrer palästinensischen Altersgenossen gerecht werden. Was wirklich zählt, ist … nicht das Leiden als Abstraktion oder ideologische Kategorie, als statistischer Faktor oder Aufrechnung der Toten. Sondern das Leiden der zerrissenen Körper von Menschen, die nur und ausschließlich Menschen sind.
Was … bedeutet, dass wir in eine Dimension geraten sind, die über all das hinausgeht und sich als un-menschlich präsentiert, und wo mehr vonnöten ist als das gewohnte Analyse- und Interventionsinstrumentarium. Und wo wir uns alle als fähig erweisen müssen, über die Misere der Kriegslogik und konventioneller Parteinahmen – entweder hier oder dort – hinauszukommen, die uns immer auferlegen wollen, ein Stück Humanität zugunsten eines anderen Stücks Humanität zu opfern.“ (Übers. HH)