Annäherung im Schlechten?
Am Mittwoch den 20. November unterschrieben Giorgia Meloni und Olaf Scholz in Berlin einen gemeinsamen Aktionsplan zur Vertiefung der Beziehungen zwischen Italien und Deutschland. In der anschließenden Pressekonferenz sagte Scholz, der Meloni diesmal seine „liebe Giorgia“ nannte, dass es um eine verstärkte Zusammenarbeit auf den Gebieten Technologie, Wettbewerb und Klimaschutz gehe. So wolle man z. B. beim Bau einer Pipeline kooperieren, die den Transport von Wasserstoff von Nordafrika über die Alpen nach Bayern ermöglichen werde.Außerdem solle die Zusammenarbeit auch auf institutioneller Ebene intensiviert werden: Geplant sind regelmäßige Wirtschaftsforen und Treffen der Außen- und Verteidigungsminister.
Statt Schnee von gestern …
Einen solche Vertiefung hatte schon Draghi im Dezember 2021 mit der deutschen Regierung vereinbart; dass sie jetzt zustande kam, zeigt den Willen zu einer Kontinuität, die angesichts des italienischen Regierungswechsels und der Streitigkeiten, die es zwischenzeitlich zwischen den Ländern gab, keine Selbstverständlichkeit ist. So kam es noch in diesem Sommer zu bitteren Auseinandersetzungen über die deutsche Unterstützung von NGOs, die der italienischen Rechtsregierung verhasst sind, weil sie sich auf die Rettung von Geflüchteten aus dem Mittelmeer konzentrieren, ebenso wie über die italienische Weigerung, sog. „Dublin-Flüchtlinge“ zurückzunehmen. Ein anderer Streitpunkt war die Frage, inwieweit Europa nach der Pandemie wieder zu der im alten Stabilitätspakt fixierten Sparpolitik zurückkehren müsse, wofür sich lange der deutsche Finanzminister einsetzte. Dann gibt es eine Differenz, die das Verhältnis vor allem perspektivisch belastet: die Frage, wie es mit Europa weitergehen soll: Die italienische Rechtsregierung will ein „Europa der Vaterländer“, das die nationalstaatliche Souveränität unangetastet lässt, während die deutsche Regierung die weitere Integration befürwortet.
Und dann gibt es noch einen atmosphärischen Vorbehalt der italienischen Rechten gegen „die Deutschen“, dessen Ursachen in der unterschiedlichen Deutung der eigenen Geschichte und damit der eigenen Identität liegen: Beide Länder haben zwar eine faschistische Vorgeschichte, aber bei ihrer Aufarbeitung trennen sie Welten: Wo die Deutschen aus der Sicht von Mussolinis Erben einen regelrechten „Schuldkult“ zelebrieren und daraus so etwas wie ein Recht auf moralische Besserwisserei ableiten, reduziert die italienische Rechte Mussolinis Schuld auf die Übernahme der nazistischen Rassengesetze (sonst war alles gut) und war die Resistenza nur ein Kampf gegen die deutschen Besatzer, nicht aber gegen die damals noch vorhandenen Überreste des eigenen 20-jährigen Regimes.
… neue Freundschaft?
Aber in diesem Herbst scheint es zwischen Deutschland und Italien eine klimatische Veränderung zu geben, wobei die Signale auch von der deutschen Seite ausgehen. Den Anfang machte Melonis Albanien-Abkommen über die dortige Einrichtung zweier Lager, in denen ein Teil der Flüchtlinge über das Mittelmeer, deren Ziel Italien ist, noch vor dem Erreichen des Festlandes abgefangen werden soll, um erst einmal auf exterritorialen Boden verbracht zu werden. Der Menschenrechtler Christopher Hein, der lange den italienischen Flüchtlingsrat leitete und heute in Rom Politikwissenschaft lehrt, sieht darin ein neues Beispiel für die in Europa zu beobachtende Tendenz, das Flüchtlingsproblem „gegen Geld“ in andere Länder auszulagern, und zwar – wie schon in Libyen – um den Preis einer „inhumanen totalen Isolierung“ der Flüchtlinge. Was dann auch zum Protest der italienischen Linken führte – mit Elly Schlein an der Spitze, die sich schon in der Zeit, als sie noch Europa-Abgeordnete war, intensiv mit der Flüchtlingsfrage beschäftigte (wobei sie gemeinsam mit anderen Abgeordneten einen Vorschlag für ein Abkommen erarbeitete, welches das alte Dublin-Abkommen ersetzen sollte). Und die um keinen Preis die Fehler des früheren PD-Innenministers Minniti wiederholen wollte, die zu den KZ-ähnlichen Lagern in Libyen führten.
An dieser Stelle kam Olaf Scholz ins Spiel, den offenbar die letzten Umfragen über die zu erwartenden Zuwächse der AfD in Deutschland so in Panik versetzen, dass er der Führung der PD – immerhin der italienischen Schwesterpartei der SPD – in den Rücken fiel. Er tat es, indem er sich an Melonis „Modell Albanien“ sofort lebhaft interessiert zeigte, was dann auch von der italienischen Regierung unverzüglich als Zustimmung interpretiert wurde. Womit er, gewollt oder ungewollt. zur Isolierung der „Extremistin“ Schlein beitrug. von der sich jetzt zeige, dass sie mit ihrem Nein sogar innerhalb ihres eigenen Lagers allein stehe. Wobei sich auch die deutschen Grünen, die zur Berliner Ampel gehören, nicht zu einer klaren Stellungnahme aufraffen konnten – sie hatten zwar vor zwei Jahren einen Koalitionsvertrag mitunterschrieben, in dem zu lesen ist, dass man solche „Drittstaatenlösungen prüfen“ wolle, aber „nur in Einzelfällen und unter Wahrung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Menschenrechtskonvention“. Ob sich das von Melonis Albanien-Abkommen behaupten lässt, ist mehr als fraglich (siehe „Melonis Albanien-Coup“ vom 18. 11.), aber Scholz scheint schon heute das positive Ergebnis einer solchen Prüfung vorwegzunehmen, trotz der traumatischen Erfahrungen, die Europa mit der Isolation von Flüchtlingen in den libyschen Lagern gemacht hat. So könnte Christopher Hein mit seiner Sorge recht behalten, dass Italiens Albanien-Projekt in vielen europäischen Staaten Nachahmer findet, seitdem ihm nun auch Deutschland seinen Segen gab: „Ich habe große Angst, dass das Abkommen Melonis mit Albanien funktionieren könnte, ungeachtet aller Zweifel, die sich aus menschlicher, humanitärer und legaler Sicht dagegen vorbringen lassen“.
Melonis Wandlung zur Staatsfrau, die vorangeht
Für Giorgia Meloni hingegen stellt die neue Haltung von Olaf Scholz eine Art europäischen Ritterschlag dar, nachdem sich ihre bisherigen Interventionen in der Flüchtlingsfrage entweder als Flop (Tunesien) oder Rückfälle in die Illegalität erwiesen haben. Was allein schon Grund genug ist, Scholz und das von ihm repräsentierte Land mit freundlicheren Augen zu sehen.
Das zweite Ereignis, das zum deutsch-italienischen Tauwetter beitragen dürfte, betrifft die Haushaltspolitik, bei der Deutschland lange die Rolle des Musterschülers spielte, der alle Welt durch seine Aufrufe zur Sparsamkeit nervte, dessen Regierung jetzt aber seit dem Paukenschlag aus Karlsruhe als Stümper dasteht, der nicht einmal zu einer korrekten Haushaltsführung fähig ist. Nun ist es unser eigenes Land, von dem plötzlich Argumente zu hören sind, die bisher eher die Spezialität unsicherer Kantonisten wie Italien zu sein schienen: dass es neben den „schlechten“ eben auch „gute“ Schulden gibt und man doch bitte aus dem Haushaltsdefizit die „strukturellen“ Zukunftsinvestitionen herausrechnen möge. Dieses Deutschland könnte auf dem Gebiet der europäischen Sparpolitik für Wünsche nach ihrer Flexibilisierung zugänglicher sein, d. h. auch Italien sympathischer werden.
Gute oder schlechte Annäherung
Wenn sich Länder wie Italien und Deutschland „annähern“, das heißt weniger streiten, kann das nur gut sein, möchte man meinen. Aber wie es schlechte Schulden gibt, so gibt es auch schlechte Annäherungen. Eine Annäherung im Guten wäre es, wenn sich nun beide Länder für eine flexiblere Schuldenpolitik einsetzen, um diese für notwendige Zukunftsinvestitionen zu nutzen, beispielsweise in eine nachhaltigere Energiegewinnung. Denn allein schon die Herausforderungen, vor die sie der Klimawandel stellt, sind gewaltig.
Eine Annäherung im Schlechten wäre es hingegen, wenn sich nun beide Länder auf eine Migrationspolitik verständigen, die zu Lasten geltenden Rechts und der Menschenrechte geht, indem sie die Tendenz zur Abschottung einfach nur weiter verstärkt und dies sogar zum „Modell für Europa“ erklärt. Es wäre kurzfristig vielleicht der einfachere Weg, aber würde langfristig keines der Probleme lösen, vor denen die europäischen Gesellschaften stehen, Und das ist eben nicht nur der wachsende Druck der weltweiten Migration, sondern auch das Problem der Überalterung und Schrumpfung der eigenen Bevölkerungen, des immer fühlbarer werdenden Fehlens von Arbeitskräften überhaupt, und die sich daraus ergebende Gefahr ökonomischer Stagnation. Wobei die Hoffnung, dies Problem schon dadurch lösen zu können, dass man im Ausland nur kräftig nach dort wartenden „Fachkräften“ Ausschau hält, nicht nur den Fortbestand eines kolonialistischen Weltbildes verrät (Abschöpfen eines „Reichtums in den Köpfen“, in den andere Länder investiert haben), sondern von dem jetzt schon klar ist, dass auch dies nur schlecht funktioniert.
Noch hat hier niemand das positive Gesamtkonzept in der Tasche, das alle Probleme löst – vielleicht kann es dies gegenwärtig auch nicht geben. Aber es gibt eine Grundgewissheit: Die Lösung der weltweiten Migrationsbewegung kann weder in der totalen Abschottung noch in der totalen Öffnung der Grenzen bestehen, und ein immer noch fehlendes Gesamtkonzept müsste von vornherein zwei Ziele verfolgen: durch ihre Regulierung den Wildwuchs der weltweiten Migration vermindern, und gleichzeitig eine Antwort auf die Überalterung der westlichen Wohlfahrtsstaaten finden.