„Eine törichte Entscheidung“
„Eine törichte Entscheidung, die Italien schwächt und isoliert“ nennt Romano Prodi, der frühere Vorsitzende der EU-Kommission und einstige Ministerpräsident Italiens, das „Nein“ der Abgeordnetenkammer zu der Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus/ESM. Das umso absurder sei, weil die Zustimmung die einzelnen Mitgliedstaaten in keiner Weise verpflichtet, von dem Instrument Gebrauch zu machen, sondern lediglich die Möglichkeit dazu eröffne.
Abgeordnetenkammer sagt Nein zur Reform des ESM
Die Entscheidung, als einziges EU-Land die Reform des 2012 eingeführten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) abzulehnen, kam wenige Tage vor Weihnachten, kurz bevor das politische Geschäft ruhte und als das Interesse der Bürger ganz den festlichen Vorbereitungen galt. Für das „Nein“ stimmten die rechtsradikalen Regierungsparteien Fratelli d’Italia und Lega sowie, als einzige Oppositionspartei, Contes 5-Sternebewegung, die bei populistischen Themen nicht zum ersten Mal Konvergenzen mit der Rechte findet. Für die Reform sprachen sich PD, Italia Viva, Azione und +Europa aus. Berlusconis einstige Partei Forza Italia, die ebenfalls zur Regierungsmehrheit gehört, enthielt sich der Stimme und spaltete damit die Einheit der Rechtskoalition. Eine Enthaltung kam auch von der Allianz Grüne/Linke.
Schon seit langem versuchte Meloni, die verzögerte Zustimmung zur ESM-Reform als Erpressungsmittel gegen die EU einzusetzen, um Zugeständnisse auf anderen Gebieten zu erreichen. Vor allem bei der – inzwischen beschlossenen – Neuauflage des Stabilitätspakts, der aufgrund der Pandemie und des russischen Angriffs auf die Ukraine bis 2024 ausgesetzt war. Die neuen Bestimmungen des Stabilitätspakts sehen nun vor, dass die spezifische Situation der Länder stärker berücksichtigt werden soll: Hoch verschuldete Mitgliedsstaaten haben künftig mehr Zeit, ihre Defizite abzubauen, und erhalten zugleich mehr finanzielle Möglichkeiten zu Investitionen. Sie sollen aber jährlich ein Mindestmaß beim Abbau ihrer Schulden einhalten, darauf bestanden vor allem Deutschland und Frankreich.
Italien, dessen Staatsverschuldung mit 142,4% (in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) nach Griechenland an zweiter Stelle rangiert, hatte erfolglos versucht, die Wiedereinführung eines Stabilitätspakts zu verhindern. Letztlich stimmte auch der italienische Finanzminister Giorgetti (Lega) den Änderungen zu und nannte die Neuauflage „einen Kompromiss“, der helfen könne, beim Schuldenabbau mehr Disziplin zu halten. Die Ministerpräsidentin war über das „Einknicken“ ihres Ministers verärgert. Und noch mehr darüber, dass sich der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident vorweg auf die Neuauflage geeinigt hatten, ohne Italien einzubeziehen. Also nutzte sie die Parlamentsabstimmung über die ESM-Reform als Retourkutsche gegen die EU und das Duo Scholz/Macron. Sie wies die Abgeordneten ihre Partei Fratelli d’Italia an, mit „Nein“ zu stimmen. Salvini tat es für die Lega. Nur der abtrünnige Minister Giorgetti tanzte aus der Reihe und verkündete öffentlich: „Persönlich wäre ich für Zustimmung gewesen, aber es war klar, woher der politische Wind weht“.
Worum geht es bei der ESM-Reform?
Der ESM ist eine zwischenstaatliche Institution mit Sitz in Luxemburg. Seine Einrichtung wurde von den EU-Mitgliedstaaten 2011 beschlossen und durch einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone 2012 offiziell gegründet (und ist damit rechtlich unabhängig von der EU). Der ESM-Vertrag löste als Dauereinrichtung den vorläufigen Stabilitätsmechanismus EFSF („European Financial Stability Facility”) ab, der als Reaktion auf die Krisen in Griechenland, Irland und Portugal 2010 eingeführt worden war.
Aufgabe des ESM ist es, überschuldete Mitgliedsstaaten durch Kredite und Bürgschaften zu unterstützen, um deren Zahlungsfähigkeit zu sichern und die Gefahr eines Defaults abzuwenden, das sich auf die gesamte Eurozone auswirken würde. Die Hilfen können zwecks Rekapitalisierung auch an europäische Banken vergeben werden. Insgesamt verfügt der ESM über ca. 700 Milliarden Euro. Die Finanzierungsanteile der einzelnen Mitgliedstaaten entsprechen ihren Anteilen am EZB-Kapital. An erster Stelle steht Deutschland mit ca. 27% (21,7 Mrd. eingezahltes und ca. 168 Mrd. abrufbares Kapital). Italien belegt – nach Frankreich – den dritten Platz mit 17,8% (14,3 Mrd. eingezahltes und 111 Mrd. abrufbares Kapital).
Im November 2020 einigten sich die Mitgliedstaaten der Eurozone auf eine Reform des ESM-Vertrages. Deren wichtigste Änderung ist die Einführung einer gemeinsamen Sicherung für den einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRF), ein Rettungsschirm für in Schwierigkeiten geratene Banken, die durch Beiträge der Banken selbst finanziert wird. Die Reform sieht vor, dass dafür auch ESM-Mittel eingesetzt werden können, wenn der SRF-Fonds allein dafür nicht ausreicht. Es handelt sich also um einen „Rettungsschirm für den Rettungsschirm“. Bei stark verschuldeten Ländern (wie Italien) wird die Inanspruchnahme allerdings daran geknüpft, dass sie sich in einem „Memorandum of Unterstanding“ auf Maßnahmen zum Schuldenabbau verpflichten. An dieser Regelung nimmt die aktuelle Regierung Anstoß, da sie darin eine Einschränkung von Italiens Souveränität sieht. Für sie ein Grund, die Reform, die von allen anderen Mitgliedstaaten bereits ratifiziert wurde, abzulehnen. Dabei ist Italien – wie jeder anderer Mitgliedstaat – gar nicht verpflichtet, ESM-Mittel in Anspruch zu nehmen, wenn es dies nicht will. Mit seiner Blockade der Reform verhindert Italien aber, dass auch EU-Länder, die das möchten, dieses Instrument nutzen können.
Salvinis Mär von der „Rettung deutscher Banken mit dem Geld italienischer Sparer“
Die Ablehnung Italiens hat die unmittelbare Auswirkung, dass die Reform nicht in Kraft treten kann. Das heißt: Der ESM selbst bleibt bestehen, aber in seiner „alten“ Version. Mit der Folge, dass europäische Banken in besonders kritischen Situationen keine zusätzliche Sicherung durch ESM-Mittel erhalten können. Mit seinem Nein zur ESM-Reform blockiert Italien aber auch den gesamten Prozess der Bankenunion innerhalb der EU. Was gerade auch den nationalen Interessen eines stark verschuldeten Landes wie Italien schadet. Die so patriotisch gesinnten Parteien von Meloni und Salvini kümmert das nicht.
Vor allem der Legachef jubelt. Man habe verhindert, dass „italienische Arbeitnehmer gezwungen werden, mit ihrem Ersparnissen deutsche Banken zu retten“. Das ist Unsinn und eine glatte Propagandalüge. Laut ESM haben die Mitgliedstaaten keine Pflicht zur Rettung von Banken. Diesem Zweck dient als „Rettungsschirm“ der einheitliche Abwicklungsfonds/SRF, der durch Beiträge der europäischen Banken finanziert wird, wobei Ersparnisse europäischer Bürger (bis mindestens 100.000 Euro) nicht belastet werden dürfen. Nur im Fall einer besonders schwerwiegenden Bankenkrise, bei der die SRF-Gelder nicht ausreichen würden und negative Auswirkungen auf die ganze EU zu befürchten wären, sollen auch Gelder aus dem ESM fließen. In einer solchen Situation könnten, so die Meinung von Wirtschaftsexperten, gerade italienische Banken die Profiteure sein, da sie massiv in staatliche Schuldentitel investiert haben.
Melonis verschärft antieuropäischen Kurs
Dass Salvini und seine Lega europafeindlich sind, ist nichts Neues. Bei Meloni schien die Sache nicht so klar zu sein. Die souveränistische Fahne schwenkte sie bisher vor allem auf heimischem italienischem Boden. Auf europäischem Parkett zeigte sie sich eher von ihrer charmanten Seite, dialogbereit und pragmatisch. Einige ausländische Kommentatoren, auch in Deutschland, waren bzw. sind (noch) davon „positiv überrascht“. Eine Fehleinschätzung, denn Melonis vordergründig konziliantes Verhalten ist taktisch bedingt: Sie erkennt, durchaus realistisch, dass dies notwendig ist, um eine gewisse Glaubwürdigkeit gegenüber ihren europäischen und internationalen Gesprächspartnern zu erlangen. Was ihr zunächst, zumindest in Teilen, durchaus gelungen ist (siehe ihr Verhältnis zur EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen).
Doch der Ton ändert sich, je näher der Termin der Europa-Wahl rückt. Meloni rüstet sich zu einem Wahlkampf, bei dem sie sich als Leaderin nicht nur der stärksten Regierungspartei, sondern der gesamten italienischen Rechten präsentiert, und zwar mit souveränistischem Profil. Der Aufwind für den Rechtspopulismus nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa beschleunigt ihren antieuropäischen Kurs. Die EU-Kommission hat das sehr wohl wahrgenommen und reagiert darauf mit deutlicher Kritik. Die Konfliktlinien mit der EU werden zahlreicher und schärfer: Neben dem Stabilitätspakt und dem ESM geht es auch um die von Italien vorgelegte Finanzplanung, um das Unterlaufen europäischer Konkurrenzbestimmungen (u. a. bei Ausschreibungen für Konzessionen für Strandbetreiber und Straßenhändler, deren Lobbys von der Rechten schon immer bevorzugt wurden) und um das Aufweichen gesetzlicher Regelungen gegen Korruption (siehe den Gesetzentwurf des Justizministers zur Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs). Diese Entwicklung führt unweigerlich auch zu stärkeren Spannungen innerhalb der Rechtskoalition. Salvini versucht, sich mit (rechts)radikaleren Positionen zu profilieren, und Forza Italia, Mitglied der EVP und nach eigenem Bekunden „europatreu“, verliert im souveränistischen Zangengriff von Meloni und Salvini jede Glaubwürdigkeit (siehe die Enthaltung beim ESM).
Zwei Daten stehen in diesem Jahr an, die für die weitere Entwicklung entscheidend sind: die Europa-Wahl im Juni und die Präsidentschaftswahl in den USA im Herbst. Von deren Ausgang hängt wesentlich ab, ob sich in Italien – und Europa insgesamt – Nationalismus und Autokratie nach dem Orbán-Modell der „illiberalen Demokratie“ durchsetzen. Siegt Trump in den USA, ist damit zu rechnen, dass dies den Atlantismus von Meloni weiter beflügeln wird. Sie ist schon lange Trumps Bewunderin.