Weltpolitik à la carte
Vorbemerkung
Auf der Suche nach „etwas Positivem“, mit dem man ins Neue Jahr hineingehen könnte, stießen wir am 22. November in der „Repubblica“ auf einen kleinen Artikel des englischen Historikers und Publizisten Timothy Garton Ash. Die Überschrift „Un mondo à la carte“ war verheißungsvoll, denn sie schien sich gegen die allgemeine Düsternis zu stemmen, in die für viele (auch für uns) das Welttheater gegenwärtig getaucht ist: Ist seine Botschaft einer „Welt à la carte“ die noch mögliche Flucht in ein Weltbürgertum, das in dieser Welt trotz alledem die Freiheit der Wahl genießen kann?
Die Lektüre des Artikels belehrt uns eines Besseren. Garton Ash präsentiert die Metapher à la carte als Quintessenz einer geopolitischen Meinungsumfrage, die er im Auftrag des Londoner European Council on Foreign Relations (ECFR) zusammen mit Ivan Krastev und Mark Leonhard geleitet hat und dessen empirische Basis 25 000 in verschiedenen Ländern geführte Interviews bilden. Die (im Netz zu googelnde) englische Zusammenfassung der Untersuchung sagt schon in ihrer Überschrift genauer, worum es den Autoren geht: Living in an à la carte world: What European policymakers should learn from global public opinion. Womit die Intention angesprochen ist: ein Stück Aufklärung über die in anderen Ländern vorherrschenden öffentlichen Meinungen, die auch die dort verfolgten Politiken prägen. Eine Aufklärung, die das simplifizierende Narrativ einer bipolaren Welt hinter sich lässt, dem Teile des Westens, besonders in Europa, noch anhängen und sie zu politischen Fehleinschätzungen bringt.
Zunächst der (von uns übersetzte) Repubblica-Artikel von Timothy Garton Ash. Sein damals aktueller Aufhänger war das Treffen zwischen Biden und dem chinesischen Führer Xi, zu dem es kurz zuvor am Rande einer Konferenz der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft APEC in San Franciso gekommen war.
„Eine Welt à la carte
Die Leader der beiden Supermächte USA und China treffen sich in San Francisco und viele Beobachter greifen wieder zu den großen Simplifizierungen des Bipolarismus. Ein neuer Kalter Krieg! Der Westen gegen den Rest der Welt! Demokratie gegen Autokratie! Wir müssen den Süden hofieren! Dabei hat uns doch der große Schweizer Jacob Burckhardt immer zum Misstrauen gegen die terribles simplificateurs, die schrecklichen Vereinfacher aufgefordert. Die Weisheit beginnt heute bei dem Verständnis, dass wir in einer Welt leben, die in viele große und mittlere Mächte parzellisiert ist, welche sich nicht einfach in zwei Lager aufteilen lassen.
Die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten anspruchsvollen Studie helfen uns, die neue globale Unordnung zu verstehen. Sie wurde für den European Council on Foreign Relations und ein Forschungsprojekt der Universität Oxford erstellt, deren Ko-Direktor ich bin, zum Thema „Europa in einer sich wandelnden Welt“. Die Untersuchung betrifft zum zweiten Mal die sog. CITRUS-Länder, das heißt China, Indien, Türkei, Russland und die Vereinigten Staaten. Im Herbst haben wir sie auf elf europäische Länder ausgeweitet, denen wir noch fünf weitere wichtige nicht-europäische Länder zur Seite gestellt haben: Saudi-Arabien, Indonesien, Südafrika, Brasilien und Südkorea.
Hier ein paar Resultate, die euch den Schlaf rauben müssten. Mehr als die Hälfte der in China, Saudi-Arabien und in der Türkei interviewten Personen waren der Meinung, dass sich die USA und Russland im Krieg befinden. In diesen Ländern – wie auch in Indien und Indonesien – sind klare Mehrheiten überzeugt, dass Russland den Ukraine-Krieg in den nächsten fünf Jahren gewinnen wird. Mehr als die Hälfte der Antworten aus China, Saudi-Arabien und Russland besagen, dass die EU wahrscheinlich in den nächsten zwanzig Jahren zerfallen wird, eine Meinung, die auch 45% der in der Türkei Interviewten teilen (in einem Land, das ein offizieller Beitrittskandidat zu einer EU ist, die sie in Auflösung vermuten), ebenso wie sogar – Überraschung – ein Drittel der europäischen Gesprächspartner. Wobei die erwartete Auflösung Europas interessanterweise mit der Hypothese korrespondiert, dass Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen wird. Was verständlich macht, in welchem Maß in der Ukraine auch die Glaubwürdigkeit Europas und der USA auf dem Spiel steht.
Aber die Untersuchung fördert auch positive Nachrichten für den Westen zutage. Europa und USA gewinnen problemlos den Schönheitswettbewerb um die soft power. Auf die Frage, in welchem Land man außer dem eigenen Land noch leben möchte, nennt eine klare Mehrheit derer, die wir in Brasilien, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea und in der Türkei interviewten, Europa oder die USA. Nur von den Südafrikanern wollen in einem solchen Fall mehr als 10 Prozent in China leben – und fast niemand in Russland. Also zieht der Rest der Welt den Westen vor?
Tja, vielleicht wenn man sich entscheiden müsste. Aber was sich wirklich aus unseren beiden Untersuchungen in Kombination mit anderen Vergleichen ergibt: dass die Mehrheit dieser Länder meint, sich auch zur Nichtentscheidung entscheiden zu können. Man kann engere wirtschaftliche Beziehungen zu China unterhalten, mit den USA in Fragen der Sicherheit kooperieren und gleichzeitig alle Freuden genießen, welche die europäische soft power zu bieten hat. Die Welt mit ihren konkurrierenden Mächten bietet ihnen die Möglichkeit, zu mischen und zu ergänzen.
Die so geformte multipolare Welt erlaubt weder einen Multilateralismus noch eine Blockfreiheit im Sinne des Kalten Krieges, sondern eher die Mehrfachausrichtung, von der Indiens Leader Narendra Modi spricht. Als Großmacht unter anderen Großmächten verfolgt man die eigenen nationalen Interessen, wohin das auch führt, indem man sich mit verschiedenen Partnern in verschiedenen Fragen verbündet. Ich und meine Mitautoren Ivan Krastev und Mark Leonard nennen es eine Welt à la carte, im Unterschied zu den festen Menus des Kalten Krieges. Was nicht bedeutet, dass der Westen seine Werte aufgeben muss. Stattdessen müssen wir jedoch lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist und nicht wie wir sie gerne haben möchten.
Das heißt: alle simplizistischen binären Formeln vermeiden und stattdessen Strategien entwickeln, die auf große und mittlere Mächte wie Indien, Südafrika oder die Türkei zugeschnitten sind. Man kann nicht gewinnen, ohne die neuen Spielregeln zu verstehen.“
Nachbetrachtung:
Bei der „Welt à la carte“ handelt es sich hier also nicht um die Perspektive des Weltbürgers, der sich seinen Wohn- und vielleicht auch seinen Arbeitsort nach Belieben aussucht, sondern um die öffentliche Meinung in den von den Autoren ausgesuchten Ländern – und damit, wenn auch nur indirekt, um die Handlungsoptionen ihrer politischen Führer.
Was für Garton Ash bei dieser Studie als Erstes auf der Strecke bleibt, sind die immer noch vorhandenen Überreste eines Erklärungsmusters, das noch aus der Zeit des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg stammt: eine bipolare Welt, die im Wesentlichen aus zwei Lagern besteht, von denen eines „der Westen“ heißt, mit Europa und den USA als Protagonisten, die für politische Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung stehen und damit als Zugpferde in eine bessere Zukunft für den gesamten Planeten. Und dessen anderes Lager der „Kommunismus“ hieß, der sein eigenes Fortschrittsversprechen hatte. Und wo die Länder, die sich dieser Bipolarität nicht fügen wollten, zumindest gezwungen waren, sich zu ihr zu verhalten, auch wenn sie versuchten, zwischen ihnen einen „dritten Weg“ zu gehen. So bedrohlich diese Bipolarität wegen ihres destruktiven nuklearen Potenzials auch damals zu sein schien, so hatte sie mit dem „Gleichgewicht des Schreckens“auch eine friedensstiftende Funktion, die in der Kuba-Krise Realität wurde. Und die auch die Hoffnung auf die Möglichkeit globalen Fortschritts wachhielt: 1989 glaubten im Westen viele, dass für sie der Wettkampf der Systeme endgültig gewonnen sei.
Neue Unordnung
Eine Illusion, so das Ergebnis der Studie von Garton Ash und Kollegen: Schaut man über den europäischen – und mit Einschränkungen auch amerikanischen – Tellerrand hinaus, sieht man keineswegs eine Drift zur Übernahme des westlichen „Modells“, sondern den Rückfall in eine „neue globale Unordnung“, hinter der eine Neigung zur opportunistischen „Mehrfachausrichtung“ der jeweiligen nationalen Politiken steht, wie sie etwa der indische Premier Modi propagiert. Zuallererst orientiert man sich an den eigenen nationalen Interessen: Wirtschaftlich kann man die Zusammenarbeit mit Großmacht I präferieren, militärpolitisch den Schutz der Großmacht II suchen und drittens seine Urlaub in Venedig oder an der Cote d’Azure buchen.
Um in der Welt anzukommen, „wie sie ist und nicht wie wir sie gerne haben möchten“, müssen viele Hoffnungen begraben werden. Zuallererst die Hoffnung auf eine friedlichere, gerechtere und moralischere Welt von morgen, die es – als Hoffnung – nach dem Zweiten Weltkrieg einen kurzen Moment lang gab und ihren stärksten Ausdruck in der Deklaration der Menschenrechte fand. Aber wie heute von der UNO nur noch traurige Relikte zu besichtigen sind, so sind wir vom Übergang zu einer Weltinnenpolitik weiter entfernt denn je, und Staatsführer, die von der Wiedergeburt alter Imperien träumen, bleiben auch dann mögliche Bündnispartner, wenn sie gegen jedes Völkerrecht mörderische Kriege vom Zaun brechen. Herausforderungen wie die weltweite Migration und die Klimakatastrophe, die nur durch eine koordinierte Anstrengung aller Kräfte zu bewältigen wären, werden auf das Maß des heute Opportunen heruntergehandelt. Was auch immer vom „Westen“ bleibt (in den USA droht Trump): „Seine Werte“ darf er behalten, aber es sind Werte ohne Macht.
Auch die Komfortzone Europa ist gefährdet
Und Europa. die sympathische Komfortzone mit etwas wirtschaftlicher und wenig politischer Macht? Der Ukraine-Krieg zeigt, dass auch diese Nische in Gefahr geraten ist. Aus ihr auszubrechen. d. h. eine wirkliche militärische und politische Vereinigung der EU anzustreben, würde den dazugehörigen einheitlichen Willen voraussetzen. Der Widerstand der souveränistischen Mitgliedsstaaten, zu denen auch Italien gehört, ist nicht nur ein Rückfall in den Nationalismus von gestern. In einer Welt, in der jedes Land zuerst sein eigenes Süppchen kocht, liegt es im Trend.
PS: Trotz alledem wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern ein möglichst gutes und möglichst gesundes Neues Jahr!