Handicap mit 5 Sternen
Italien hat eine politische Rechte mit vielen Schwächen: Geschichtsvergessenheit und Faschismuskult, Neigung zur Autokratie, Klientelismus (statt sozialer Gerechtigkeit), Abschottung und Nationalismus (statt Öffnung und Menschenrechte), außenpolitische Uneinigkeit. Aber in einem Punkt hat sie ihre Lektion gelernt, wenn nicht aus der Geschichte, so doch aus der eigenen Vergangenheit, so dass es ihr jetzt fast in ihren Genen zu liegen scheint: ihr Machtbewusstsein, so weit es sich auf ihr eigenes Land und auf die eigene Etablierung in diesem Land bezieht. Die gegenwärtige Regierung ist das Beispiel: Für diese Macht war die sie tragende Koalition vor der Wahl bereit, alles Trennende hintanzustellen, um sich erst jetzt, im Besitz dieser Macht, in aller Ruhe darüber streiten zu können, wofür sie eingesetzt werden soll.
Und die Einheit der „Linken“?
Bei der „linken“ Opposition ist das Gegenteil zu besichtigen: Sie streitet sich schon in der Opposition, und ein Teil von ihr redet sich dies dadurch schön, dass es bei ihr im Unterschied zur Rechten eben das Primat der Ideen gebe. Natürlich gibt es auch auf der Linken Kräfte, die hier der Rechten nicht einfach das Feld überlassen wollen. Vor allem die noch relativ neue Generalsekretärin der PD, Elly Schlein, versucht immer wieder, im Mittelinks-Lager Aktionseinheiten für konkrete Ziele zustande zu bringen, zum Beispiel bei der Kampagne für den (in Italien immer noch fehlenden) Mindestlohn. Obwohl sie bisher erfolglos blieb, zeigte sie doch einiges an Wirkung: Hier gelang es, für ein populäres Ziel einen Moment lang tatsächlich eine Art von Einheitsfront zu schmieden. Schlein schlägt jetzt vor, entsprechende Bündnisse zum Beispiel zur Verteidigung des öffentlichen Gesundheits- und Schulwesens einzugehen.
Trotzdem spricht wenig dafür, dass sich in der Opposition in absehbarer Zukunft die Fähigkeit durchsetzt, der Rechten Paroli bieten zu können. Ich meine damit die sozialdemokratische PD und die populistische 5-Sterne-Bewegung, wobei ich in diesem Artikel auch letztere der „Linken“ zurechne, obwohl ich weiß, dass dies angesichts ihrer Geschichte und heutigen Politik fragwürdig ist. Aber dies sind nun einmal die beiden größten Oppositionsparteien, die sich dafür in den wichtigsten Fragen auf ein gemeinsames Vorgehen einigen müssten: Bei den nationalen Wahlen im September 2022 erreichte die PD gut 19 und die 5SB gut 16 Prozent, woran sich – wenn man den Umfragen folgen kann – bis heute wenig geändert hat. Im Hinblick auf ihr Verhältnis zueinander zeigt sich immer wieder, dass es für die 5-Sterne-Bewegung vor allem die inneroppositionelle Konkurrenz zur PD ist, welches die Agenda bestimmt, stärker noch als die Behauptung gegen rechts. Und in der es eigentlich nur noch eine Person gibt (Conte), die für sie spricht und deren psychische und charakterliche Eigenheiten prägend für die Politik der „Bewegung“ geworden sind (Grillo, der hier einst eine Sonderstellung hatte, hat sich jetzt fast ganz aufs Altenteil zurückgezogen).
Inhaltliche Absetzbewegung
Charakteristisch ist der Verlauf eines Treffens, das zwischen Weihnachten und Silvester außerhalb der täglichen Routine in einem Saal des römischen Parlamentsgebäudes stattfand und in dem die Veranstalter eigentlich hofften, im lockeren Gespräch Ansätze für einen „gemeinsamen Kurs“ der Opposition zu finden. Nachdem Elly Schlein. die sich hier sichtlich um Konzilianz bemühte, noch einmal dargelegt hatte, bei welchen Fragen aus ihrer Sicht ein solches Vorgehen möglich sei, kam Conte zu Wort. Er fühlte sich offenbar herausgefordert durch die Kritik an einem Fernsehauftritt, bei dem er wenige Tage zuvor zu dem in den USA anstehenden Duell um die Präsidentschaft seine Äquidistanz zwischen Biden und Trump erkennen ließ (ganz in der Tradition von Grillo, der 2016 den Sieg Trumps als „Rache des Volks, des Muts und des Stolzes“ gefeiert hatte und wofür sich Trump damit bedankte, dass er während seiner Amtszeit Conte zu seinem „Freund Giuseppi“ ernannte).
Diese Äquidistanz erklärte er jetzt mit dem Zugeständnis, dass Biden den Progressiven vielleicht näher stehe, aber gegenüber dem Ukraine-Krieg sei es nun einmal Trump, der die „progressivere Position“ einnehme – eine Behauptung, die Conte die Möglichkeit gab, die Aufmerksamkeit wieder einmal auf das Thema zu lenken, in dem er inzwischen das Alleinstellungsmerkmal seiner „Bewegung“ zu sehen scheint: das Thema „Frieden“, und zwar um jeden Preis. Wobei er sich offenbar auf Trumps Ankündigung bezog, den Ukraine-Krieg „in einem Tag“ beenden zu können, ebenso wie auf seine eigene Ablehnung weiterer Waffenlieferungen in die Ukraine. Nach der Logik, dass der Krieg zu Ende ist, wenn die Waffen fehlen, auch wenn dies nur für die angegriffene Seite gilt, und ohne Rücksicht auf die Folgen nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa. Hier ist der „Advokat des Volkes“ der Populist geblieben, der er schon immer war, und da die Umfragen zeigen, dass die Friedenssehnsucht in Italien groß ist, sattelt Conte hier immer weiter drauf. Zumal er meint, mit diesem Thema die PD, in der er offenbar seinen Hauptgegner sieht, auch moralisch in die Ringecke drängen zu können.
Auf der ewigen Suche nach Besonderung
Er sucht also nicht nach Einheit, sondern sein Hauptziel ist es, sich in seiner Besonderung erkennbar zu machen. „Die PD ist bellizistisch“, verkündete er – eine demagogische Infamie, denn er unterstellt damit, dass die Entscheidung der PD zur Unterstützung der Ukraine nicht auf Abwägungen beruht, in die auch ethische und strategische Gesichtspunkte eingehen, sondern nur auf subjektiver Bedenkenlosigkeit. Die fast neurotische Suche nach der eigenen Besonderung charakterisierte auch die anderen Antworten, die Conte bei diesem Treffen auf die Forderung nach Aktionseinheit gab. In der Frage der ökologischen Wende gebe es keine Einheit, wie der Streit um die römische Müllverbrennungsanlage zeige, über die er schon die Regierung Draghi stürzen ließ. Obwohl der römische Status quo bisher darin bestand, dass die Straßen immer wieder von Müll überquellen, in dem die Ratten spielen, und dass dieser Müll dann letztlich doch in den Müllverbrennungsanlagen Norditaliens landet. Auch wenn die Verhinderung der Anlage keinen ökologischen Sinn macht, ist sie für Conte eine Frage des „Prinzips“, sprich der eigenen Identität, die nicht verletzt werden darf.
Zur weiteren Besonderung der 5SB gehörte schon immer die Behauptung, „weder rechts noch links“ zu sein, was sie kurz nach ihrem Wahlsieg im Jahr 2018 in die Tat umsetzte, indem sie mit Salvinis Lega ein Regierungsbündnis einging. Diesem Motto ist sie bis heute treu geblieben, indem sie sich immer wieder Ausrutscher ins rechte Lager leistet: Die Einbürgerung von Immigranten, die in Italien geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen sind, hat sie auch dann verhindert, als es dazu – in der Zeit von Conte 2 – die nötige Mehrheit gab („steht nicht auf der Tagesordnung“). Auch in der Frage des Europäischen Stabilitätspakts/ESM stimmte sie noch vor ein paar Wochen mit der italienischen Rechten – ein bisschen antieuropäischer Souveränismus gehört zu ihrem Portefeuille.
Keine Änderung in Sicht
Die Rechte kann es sich gegenwärtig leisten, Italien wie eine Pfründe unter sich zu verteilen, weil sich die Opposition als unfähig erweist, ihrem Bündnis, das bis in die Regionen und Kommunen hineinreicht, etwas Ebenbürtiges entgegenzustellen – vor allem aufgrund der Weigerung der 5SB, sich auch ihrerseits an solchen Bündnissen zu beteiligen – es sei denn, es geschieht unter ihrer Führung, und es ist ihr Personal, das die Kandidatenlisten anführt. Also friss, Vogel, oder stirb – das ist Contes Vorstellung von einer Bündnisverhandlung.
Für die Bündnisunfähigkeit der 5SB gibt es eine plausible psychologische Erklärung. Seit sie bei den nationalen Wahlen von 2018 haushoch gesiegt und einen Moment lang geglaubt hatte, auf einem unaufhaltsamen Vormarsch in eine utopische Demokratie zu sein, die ohne jede Vermittlung nur noch per Mausklick funktionierte, mit der 5SB als Moderator, fühlt sie sich betrogen. Zunächst wurde sie im Sommer 2019 von Salvini „verraten“, der die Koalition platzen ließ, als er es war, der nun glaubte, nach den Sternen greifen zu können. Nachdem es ihr daraufhin gelungen war, mit der PD eine Ersatzregierung zu bilden, die wenigstens noch Contes Namen trug, wurde sie Anfang 2021 zum zweiten Mal „verraten“, diesmal durch eine Palastintrige von Renzi. Als daraufhin Mattarella Draghi zu Contes Nachfolger ernannte, stellten die 5 Sterne zwar immer noch in beiden Kammern die größten Fraktionen, sahen sich aber zu Wasserträgern von Entscheidungen degradiert, die weitgehend ohne ihr Zutun zustande kamen und deren Lorbeeren woanders geerntet wurden. Da war es kein Zufall, dass Conte in dieser Phase scheinbar ganz „unpolitisch“ begann, immer häufiger vom mangelnden „Respekt“ zu sprechen, der seiner Bewegung und ihm selbst entgegengebracht werde. Und der dann die Müllverbrennungsanlage in Rom zum Vorwand nahm, um nun auch seinerseits die Regierung Draghi in die Krise zu stürzen. Als es dann im Herbst 2022 schließlich doch zu Neuwahlen kam, sah sich die 5SB zur drittgrößten Partei degradiert, die auch noch von der PD überrundet wurde. Das Ressentiment gegen die „Kaste“, das schon die 5SB seit ihrer Entstehung begleitete und sich nun bestätigt fühlte, ist geblieben.
Es wird noch eine Weile dauern, bevor sich bei diesen Gegebenheiten in Italien eine linke – oder sagen wir vorsichtiger: oppositionelle – Alternative formieren kann, die sich der Rechten entgegenstellt. Das italienische Wahlvolk ist etwa mittig gespalten, und so lange es ein Wahlgesetz gibt, welches die Seite begünstigt, die das größere Wahlbündnis zustande bringt – und das ist in Italien die Rechte -, wird diese auch die nächste Wahl und vielleicht auch die übernächste gewinnen. Die in beiden Kammern herrschenden Mehrheiten müsste nur dafür sorgen, dass es bei diesem Wahlgesetz bleibt. Aber das ist kein Problem, wenn man schon die Mehrheit hat. Die Herrschaft der Rechten könnte – vorerst – zu einem Perpetuum mobile werden.