Bahn frei für Steuerhinterzieher
„Man stört nicht diejenigen, die Reichtum schaffen. Ein Staat, der schikaniert, der als Feind betrachtet wird und nicht hilft, wenn man in Schwierigkeiten ist, ist ein Staat, dem man nur schwer vertrauen kann“. So Ministerpräsidentin Meloni auf einer Veranstaltung mit Wirtschaftsvertretern in Trento. Man müsse immer daran denken, dass es nicht der Staat ist, der Reichtum produziert, sondern die Unternehmer mit ihren Mitarbeitern, bekräftigte sie.
Was sind das für Schikanen, mit denen der feindliche Staat die Reichtum schaffenden Unternehmer an ihrem Tun hindert? Natürlich die Steuern. Noch etwas brutaler hatte sie Meloni im Mai letzten Jahres bei einer Veranstaltung in Catania sogar als „pizzo di stato“ („staatliches Schutzgeld“) bezeichnet – und sie damit mit dem Zwangsgeld gleichgesetzt, das die Mafia von Händlern und Unternehmern erpresst.
Auf Berlusconis Spuren
Meloni folgt hier treu dem berlusconischen Grundsatz, wonach Steuereinnahmen eine Art staatlicher Diebstahl sind, gegen den die Bürger das Recht haben, sich zur Wehr zu setzen (ein „Recht“, das Berlusconi selbst bekanntlich ausgiebig in Anspruch nahm). Aus diesem Blickwinkel ist Steuerhinterziehung, die in Italien massenhaft betrieben wird, ein Akt der Selbstverteidigung. „Ein gerechter und verständnisvoller Staat hingegen wird nicht mehr als Feind angesehen und man wird ihn daher auch nicht mehr betrügen“ erläutert die Regierungschefin mit zweifelhafter Logik. Es gehe darum, hier das Vertrauen der Bürger zu gewinnen – welches sich gern in Form von Wählerstimmen ausdrücken darf, möchte man hinzufügen.
Nach dieser fiskalischen „Philosophie“ richtet sich seit vielen Jahrzehnten – vor allem – die Steuerpolitik der rechten Regierungen in Italien. Obwohl sie in direktem Widerspruch zum Artikel 53 der Verfassung steht, der lautet: „Alle sind verpflichtet, entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten einen Beitrag zu den öffentlichen Ausgaben zu leisten. Das Steuersystem basiert auf Kriterien der Progression“.
Die Meloni-Regierung bildet da keine Ausnahme, im Gegenteil. Seit ihrem Regierungsantritt im Oktober 2022 hat sie für Steuerunterzieher eine ganze Palette von Möglichkeiten eingeführt (laut „Repubblica“ bisher 18), den eigentlich vorgesehenen Sanktionen für falsche Einkommensangaben oder nicht gezahlte Steuern zu entkommen. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, ein Straferlass für alle Steuerschulden, die unter 1.000 Euro liegen, sowie für Selbstständige und Kleinunternehmer die Möglichkeit, vorab mit dem Fiskus einen auf Schätzung basierten Steuerbetrag zu vereinbaren, der für die Dauer von zwei Jahren gilt, auch wenn die tatsächlich erzielten Einkünfte höher liegen.
Steuerpolitik im Dienste der eigenen Wählerklientel
Also mehr oder weniger verdeckte Steuergeschenke und Steueramnestien in etlichen Varianten, denen, um das hässliche Wort „condono“ zu vermeiden, jeweils andere phantasievolle Namen gegeben werden: „Sanatorie“ (Ablass/Straferlass), „stralci“ (Streichungen), „rottamazioni“ (Verschrottung der Steuerbescheide bei nachträglicher Zahlung, ohne Berechnung der vorgesehenen Sanktionen), „conciliazione“ (Einigung durch Vermittlungsverfahren) etc. Sie gelten für verschiedene Formen der Steuerhinterziehung: von nicht bzw. falsch deklarierten Einkommen bis Schwarzarbeit und Nichtzahlung von Sozialabgaben durch Unternehmer und Nichtausstellung von Quittungen und Rechnungen bei Händlern, Handwerkern oder Gastronomen.
Die neuesten „Schutzschilder“ für Steuerhinterzieher sind in einem Gesetzesdekret enthalten, welches das Kabinett im März beschlossen hat und demnächst dem Parlament vorgelegt wird. Es sieht u. a. vor, dass ab 2025, unabhängig von der Höhe, alle Steuerschulden erlassen werden, wenn das Finanzamt nicht in der Lage war, sie innerhalb von fünf Jahren einzutreiben. Begründet wird das mit der Entlastung der Steuerbehörden, bei denen sich im Laufe der Jahre Steuerakten mit Schulden in Höhe von 1.200 Milliarden angehäuft haben. Da keine Maßnahmen vorgesehen sind, um die personelle und technische Ausstattung der Finanzämter entsprechend auszubauen, können Steuerhinterzieher darauf setzen, dass die Fünfjahresfrist von den Behörden nicht eingehalten werden kann. Sie werden damit indirekt ermutigt, den Fiskus weiter zu betrügen. Und wer es noch nicht getan hat, wird sich überlegen, es ebenfalls zu versuchen.
Mit dem Gesetzesdekret hat die Regierung noch eine weitere „Erleichterung“ eingeführt: Steuerpflichtige, die angeben, sich in „temporären wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ zu befinden, dürfen ihre Nachzahlung auf 84 bis max. 120 Monatsraten „strecken“, also bis auf einen Zeitraum von zehn Jahren.
Die Profiteure dieser staatlicher Großzügigkeit sind durchweg die Berufsgruppen, die traditionell zu der privilegierten Wählerklientel der Rechten zählen: Selbstständige aus den verschiedensten Bereichen sowie kleine und mittlere Unternehmer. Es sind gleichzeitig diejenigen, die in erster Linie für den kolossalen Umfang von Steuerbetrug und -hinterziehung verantwortlich sind.
Das geht auf Kosten der Staatskasse, der die notwendigen Ressourcen für notwendige Leistungen und Infrastrukturen fehlen und bei der die Schuldenberge wachsen, aber auch auf Kosten von abhängig Beschäftigten und Rentnern: ihnen werden die Steuern unmittelbar abgezogen, da gibt es nichts zu hinterziehen, zu verschieben und zu strecken. Im Gegenteil: Sie tragen mit ihren Abgaben dazu bei, auch die von anderen verursachten Steuerlücken auszufüllen.
Melonis Zahlenspiele
Auf die Kritik von Opposition und Finanzexperten angesichts dieser Flut von „Steuererleichterungen“ reagiert die Ministerpräsidentin mit Berufung auf „rekordträchtige“ Einnahmen von 24,7 Milliarden Euro, die nach ihrer Aussage aus der „konsequenten Verfolgung“ von Steuerhinterziehung stammen. Ihre Sicht der Dinge: „Wir begünstigen keine Steuerbetrüger, sondern helfen vielmehr ehrlichen Italienern, die zwar Steuer bezahlen wollen, aber nicht in der Lage sind, dies vollumfänglich zu tun“. Was heißt konkret „nicht vollumfänglich“? Dazu Zahlen der Wirtschaftszeitung „Sole 24 Ore“ vom 14. 01. 24: Selbstständige und Kleinunternehmer haben 2023 67,2% der Steuern, die sie hätten bezahlen müssen, nicht entrichtet. Und: im Lauf der letzten 10 Jahren betrug der Umfang der hinterzogenen Steuern sage und schreibe 932,3 Milliarden Euro. Soviel zu den „ehrlichen Italienern“, die Steuern bezahlen wollen, aber es leider nicht „vollumfänglich“ können.
Übrigens: Bei ihrer Rechnung von 24,7 Milliarden, die vom Fiskus wieder eingetrieben werden konnten, erwähnt Meloni nicht, dass darin Nachzahlungen enthalten sind, die aus der sogenannten „Verschrottung“ von Steuerbescheiden stammen und daher „sanktionsbereinigt“ sind. Dadurch gehen dem Fiskus beträchtliche Summen verloren. Neben den Sanktionen, die 30% der Steuerschulden ausmachen, sind es die aufgelaufenen Zinsen und Zuschläge für die von der Steuerbehörde im betreffenden Zeitraum geleisteten Leistungen. Auch die zeitlich abnorm gestreckten „inflationsbereinigten“ Nachzahlungen auf Raten belasten den Steueretat – wenn sie denn überhaupt stattfinden.
Der Schaden ist nicht allein finanziell
Der Schaden, der durch die staatliche Nachsicht gegenüber Steuerbetrügern und -hinterziehern entsteht, geht allerdings weit über das Finanzielle hinaus. Mindestens genauso so schwerwiegend sind die politischen, ethischen und kulturellen Auswirkungen auf die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zur gemeinsamen Einhaltung von Regeln und der eigenen Verantwortung für das Gemeinwesen.
Genau darin besteht das größte Desaster, das der „Berlusconismus“ zwar nicht allein zu verantworten, aber mit Sicherheit drastisch verschärft hat: Die weit verbreitete Überzeugung, dass die Durchsetzung des persönlichen Vorteils für sich und die eigene Familie, auch auf Kosten der Gemeinschaft, absolut berechtigt ist, und den einzigen – oder zumindest den wichtigsten – Kompass für das eigene Handeln darstellt. Natürlich gilt dies keineswegs für alle, aber doch für sehr, sehr viele.
Nicht anders als zu Berlusconis Zeit setzt die Meloni-Regierung und mit ihr die gesamte italienische Rechte darauf, diese Einstellung nicht nur zu rechtfertigen, sondern zu fördern. Durchaus mit Erfolg. Den Gegenpol zu dieser und vielen anderen Fehlentwicklungen bildet zurzeit – mehr noch als die zerstrittene Opposition – der Staatspräsident. „Die italienische Republik gehört im bürgerlichen Sinne denjenigen, die die Steuern zahlen, denn das ist es, was Italien funktionsfähig macht und das Gemeinwohl ermöglicht“, hatte Sergio Mattarella in seiner Neujahrsansprache erklärt. Seine Autorität und seine Vorbildfunktion haben in Italien immer noch großes Gewicht. Das hat mit der Person von Mattarella zu tun, aber auch mit dem in der Verfassung verankerten Profil seines Amtes. Doch auch daran sägt Melonis rechtsextreme Regierung: Kommt ihr „Premierato-Modell“ zum Zuge, mit dem der Regierungschef direkt „vom Volk“ inthronisiert wird, sollen gleichzeitig die Kompetenzen des Staatspräsidenten wesentlich reduziert werden. Das würde das von der italienischen Verfassung vorgesehene Demokratiemodell von institutionellen „Gewichten und Gegengewichten“ ändern. Und nicht zum Besseren.
Private Unternehmer haben vor allem ihr privates Eigeninteresse im Blick. Der Staat muss das im Interesse der Gemeinschaft ausgleichen. Es ist richtig: Den Reichtum schaffen vor allem die Arbeitenden, ob abhängig Beschäftigte oder selbständige Unternehmer. Da sie aber nicht gleich (das heißt entsprechend ihrem Einkommen bzw. Gewinn) behandelt werden, sammelt sich immer mehr Vermögen in den Händen Weniger. Die aber wurden schon immer von der extremem Rechten umworben, um sich deren Gunst und finanzielle Förderung zu sichern. Nach ihrer Logik würde Meloni ihr Einkommen wohl am liebsten direkt von den Unternehmern beziehen.
Meine Buch-Empfehlung: David de Jong, „Braunes Erbe – Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien“, Köln 2022.